Interview mit Dr. Michael Blume (14.3.2021)

Lieber Herr Dr. Michael Blume, Sie sind nicht nur Beauftragter der Landesregierung Baden-Württemberg gegen Antisemitismus und Religionswissenschaftler, nein Sie sind auch Familienvater und bekennender Christ. Ihr tagtägliches wertvolles und unermüdliches Engagement gegen Antisemitismus, Verschwörungstheorien und Ihr „Tässle Kaffee am Morgen“ sind mittlerweile zu einer liebenswerten und unschätzbaren "Marke" auf Twitter geworden.

Wir alle wissen, das Coronavirus breitet sich rasend schnell aus, aber nicht nur das Virus, sondern auch die Verschwörungstheorien. Sie sind Experte auf diesem Gebiet und tief in diese Materie eingetaucht.

Mittlerweile sind in Deutschland mehr als 73.400 Menschen, in Europa 861.000 Menschen und Weltweit sogar 2.626.000 Menschen an und mit dem Coronavirus gestorben. Viele Menschen sind schwer erkrankt und werden auf Intensivstationen behandelt, die Spätfolgen sind noch gar nicht abzuschätzen und nicht nur Kliniken, Reha-Einrichtungen, Altenheime, Behinderten- und Pflegeheime, Haus- und Fachärzte sind enorm gefordert, sondern auch die Seelsorge hat Hochkonjunktur. Denn gerade auch die Seelsorge im Alltag muss und sollte in Corona Zeiten nah am Menschen sein.

Lassen Sie uns bitte gemeinsam ein Stück in diese sehr aktuelle, äußerst gefährliche und brisante Materie der Verschwörungspsychologie/theorie eintauchen?

Herr Dr. Michael Blume, was haben für Sie Verschwörungspsychologie und Seelsorge im Alltag miteinander zu tun?

Michael Blume: "Wenig erschüttert uns Menschen so sehr wie ein Krankheitserreger. Plötzlich fühlen wir uns bedroht. Plötzlich werden wir nicht nur mit unserer eigenen Sterblichkeit konfrontiert, sondern auch mit der anderer Menschen einschließlich unserer Liebsten. Und die Vorschläge oder sogar Vorschriften dazu widersprechen oft direkt unseren Gefühlen: Statt zueinander zu stehen, sollen wir Abstand halten. Statt gerade jetzt Gemeinschaft zu intensivieren, sollen wir uns in Ritualen und Gottesdiensten einschränken. Und auch Geistliche selbst rufen uns dazu auf, uns bei Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern kundig zu machen, um uns und andere bestmöglich zu schützen."

Was passiert Ihrer Meinung nach in den Momenten und in den Köpfen der Menschen, wenn sich das Gefühl von Angst und Bedrohung breit macht?

Michael Blume: "Einige – ja, viele – Menschen kommen mit dieser Beängstigung nicht klar, sondern suchen nach Schuldigen. Schon im Januar des letzten Jahres – noch vor dem Erlass der ersten Maßnahmen – wurden über das Internet Botschaften verbreitet, nach denen angeblich jüdische Weltverschwörer das Virus als „Biowaffe“ verbreiten würden. Später wurde dann behauptet, das Covid19-Virus sei ungefährlich oder gar nicht existent – aber es stecke doch eine angebliche Verschwörung dahinter."

In den Medien sind Sie als Experte für Verschwörungstheorien sehr präsent und wahrnehmbar. Das heißt Ihre Expertise ist mehr denn je gefragt.

Michael Blume: "Ja, als Landesbeamter, aber auch als Religionswissenschaftler, Christ und Familienvater erreichen mich täglich Anfragen zu diesen Themen. Staatliche Stellen und Medien wollen wissen, wie sie mit antisemitischen Verschwörungsmythen umgehen sollen. Angehörige wollen wissen, ob und wie sie Verwandte erreichen können, die in einen immer extremeren Verschwörungsglauben abstürzen, sich selbst und andere Menschen gefährden. Und viele Menschen fragen sich, warum auch für einen Virusausbruch zunächst in China reflexartig Juden beschuldigt werden."

Ich glaube jeder von uns kennt das Gefühl von Ängsten, das ungute Bauchgefühl vor bedrohlichen, ungewissen und unberechenbaren Situationen. Heißt das im Umkehrschluss JEDER von uns könnte für Verschwörungstheorien empfänglich sein?

Michael Blume: "Wichtig zu verstehen ist, dass wir alle Menschen sind und auch sehr kluge, feinfühlige und formal hochgebildete Menschen in Verschwörungsglauben abstürzen können. Denn niemand von uns kann alles Leid der Welt ertragen, wir alle üben daher auch immer wieder „Blunting“, das Abschalten und Abblocken von zu viel beängstigender Nachrichten. Problematisch und unchristlich wird es jedoch, wenn wir uns einreden lassen, am Beängstigenden sei eine bestimmte Gruppe von Menschen – von Weltverschwörern – Schuld. Denn dann hinterfragen wir unser eigenes Verhalten nicht mehr, sondern halten uns selbst für absolut „gut“, die Beschuldigten aber für absolut „böse“. Wir werden wütend und teilweise unvernünftig."

Dieses Thema reicht meines Erachtens sehr weit zurück ...

Michael Blume: "Ja. Schon im Mittelalter wurden dann Fremde, Ärzte, aber auch jüdische Gemeinden in sogenannten „Pestpogromen“ angegriffen. Denn das Judentum war die erste Religion des Alphabetes. Der Begriff „Bildung“ geht direkt auf das biblische Wort zurück, der Mensch sei „im Bilde Gottes“ geschaffen. Schon vor zweitausend Jahren lernte Jesus – der Sohn eines Zimmermanns – so gut Lesen und Schreiben, dass er drei Tage im Tempel mit Schriftgelehrten diskutieren konnte. Das gab es damals nur in Israel, nur im Judentum. Und deswegen richten sich die falschen, antisemitischen Verschwörungsvorwürfe immer auch, aber niemals nur gegen Juden. Ihnen wird vorgeworfen, mit Helfershelfern die ganze Welt zu kontrollieren und damit werden dann auch Hass und Gewalt gegen Juden und Nichtjuden gerechtfertigt. Auf solche Verschwörungsmythen dürfen sich Christinnen und Christen niemals wieder einlassen."

Sie sprechen häufiger von den Vier Stufen der Verschwörungspsychologie. Nach den vielen unschönen und schrecklichen Bildern von enormer Aggression und Gewalt die wir am 13. März 2021, in den sozialen Medien, in Presse, Rundfunk und Fernsehen verfolgen konnten, interessiert mich ganz besonders die vierte und letzte Stufe des Verschwörungsglaubens. Was passiert in dieser vierten und letzten Stufe?

Michael Blume: "In der vierten und letzten Stufe des Verschwörungsglaubens richten sich dann alle Hoffnungen auf einen politischen Erlöser, der die angebliche Weltverschwörung mit Gewalt zerschlagen soll. Dies gibt politischen Anführern dann eine nahezu unbeschränkte Macht über ihre gleichzeitig verängstigten und fanatisierten Anhänger. Doch wenn Jesus lehrt, dass sein „Reich nicht von dieser Welt“ sei, so ist damit eben auch ausgesagt, dass wir Mitmenschen in hohen Ämtern zwar fair beurteilen und respektieren, aber keineswegs anbeten sollten. Gott ist gut alleine, wir Menschen bleiben allesamt fehlbar – und deswegen kennt jeder demokratische Staat die Gewaltenteilung und Begrenzungen von Macht."

Jesus Christus charakterisiert für mich persönlich, immer die Spannung zwischen Tod und Leben und diese steht stets im Zentrum seiner Botschaft „… so will ich dir die Krone des Lebens geben..“.  Wir erinnern uns: Gottes Schaffen, Gottes Schöpfung besteht darin, dass es durch sein Wort Licht wird.

Ist es nicht so, dass „corona“ im Lateinischen Kranz bzw. Krone bedeutet?

Michael Blume: "Ja, dass das Covid19-Virus „Corona“ – wörtlich: Krone – genannt wurde, kann uns direkt daran erinnern, dass keine Macht über Gott steht. Alle gewachsenen Religionen und reflektierte Philosophien wissen darum, dass das menschliche Werden das bloße Sein immer wieder überschreitet, lateinisch: transzendiert. Das Judentum hat uns als erste Religion des Alphabetes dazu eine neue, auch schon von Kindern erlernbare Dimension erschlossen und diese mit dem Namen des Sohnes Noahs Sem verbunden. Wenn Menschen also begreifen, dass „Semitismus“ nichts mit Rassismus, aber alles mit Bildung zu tun hat, dann können sich Religiöse und Nichtreligiöse gegenseitig neu entdecken.“

Ihr abschließendes Fazit wäre?

Michael Blume: "Selbstverständlich sind in einer gesundheitlichen Krisensituation zunächst Staat, Medizin und Wissenschaft gefordert. Aber unsere Aufgabe als Mitmenschen – und als Christinnen und Christen – erlischt damit nicht. Gerade jetzt brauchen nicht nur andere bisweilen tätige Hilfe und Spenden, sondern auch wir selbst Beistand, um miteinander ehrlich über Ängste, Unsicherheiten und Hoffnungen sprechen zu können. Wer noch nicht um die Opfer von Covid19 weinen konnte, hat die Tiefe der Ereignisse noch gar nicht an sich herangelassen. Das Evangelium als „frohe Botschaft“ der Hoffnung und des Vertrauens an einen Gott, der Liebe ist, steht Verschwörungsmythen über eine angebliche Weltherrschaft böser Mächte direkt gegenüber. Die Nachfolge Jesu ist kein plumper Feel-good-Ansatz, sondern ein tiefes „Dennoch!“ zu Gott und zu allen Mitmenschen gerade in den schwersten Stunden. Ich bin daher dankbar, dass es gerade auch in dieser Pandemie verantwortungsvolle Kirchengemeinden mit auch digitalen Angeboten gibt. Denn in diesen Zeiten geht es nicht nur um die Gesundheit unserer Körper, sondern mindestens ebenso sehr um das Wohlergehen unserer Seelen. Ich wünsche Ihnen daher von Herzen für beides Gottes Segen."

Ganz lasse ich aber noch nicht locker ... Gestern war der 14.3. und zum Thema Antisemitismus musste ich gerade an Albert Einstein denken. Er wäre 142 Jahre alt geworden. Albert Einstein (jüdischer Herkunft) einer der größten Physiker, wurde am 14.3.1879 in Ulm geboren und musste nach der Machtergreifung 1933 in die USA fliehen. Im Gegensatz zu vielen seiner Kollegen, die noch sagten "Die übertreiben doch bloß, den Juden wird schon nichts passieren" nahm Albert Einstein die Problematik des Antisemitismus sehr ernst und floh nach Amerika.

Lieber Herr Blume, haben Sie noch einen Wunsch oder Rat den Sie uns allen gern mit auf den Weg geben möchten?

Michael Blume: „Es war für mich eine besondere Ehre, vor einigen Jahren als Streitschlichter am Wiederaufbau der Synagoge in Ulm mitwirken zu dürfen - direkt in der weltlichen und religiösen Geburtsgemeinde von Albert Einstein. Dieser wohl größte Physiker unserer Zeit verband Judentum und scharfe Religionskritik mit einer lebenslangen Spiritualität der Wissenschaft. Sein Gespräch mit Rabindranath Tagore noch um 1930 zeigt auf, dass Mitteleuropa ein Zentrum des Dialoges zwischen den großen Wissenstraditionen der Welt geworden war. Die Nationalsozialisten haben diese Herzkammer mit mörderischer Gewalt angegriffen und zeitweise zum Stocken gebracht, auch Einstein selbst musste fliehen. Dass die AntisemitInnen trotz aller Macht und Mordlust jedoch nicht das letzte Wort behalten haben, dass das europäische Herz wieder schlägt und wir gerade 1700 Jahre jüdisches Leben in deutschen Landen gemeinsam feiern, darf uns alle verpflichten und ermutigen.“

Vielen herzlichen Dank für das sehr interessante Gespräch und bitte bleiben Sie weiter so engagiert wie bisher.

Alles erdenklich Gute für Sie und Ihre Familie und bleiben Sie gesund!

Wir freuen uns schon auf das nächste digitale „Tässle Kaffee“ mit Ihnen.

Foto: Copyright "die arge lola 2019"

Michael Blume (* 20. Juni 1976 in Filderstadt) ist ein deutscher Religionswissenschaftler sowie Beauftragter der Landesregierung gegen Antisemitismus und war bis Juni 2020 Referatsleiter für nichtchristliche Religionen im Staatsministerium Baden-Württemberg. Blume organisierte 2000 das erste jüdisch-christlich-islamische „Abrahamsfest“ in Deutschland. Er schrieb zum christlich-islamischen Dialog mehrere Kabarettstücke und ein Theaterstück, das auch im europäischen Ausland gespielt und in mehrere Sprachen übersetzt wurde. Im März 2018 wurde er von der Landesregierung zum Antisemitismusbeauftragten für Baden-Württemberg ernannt. Seinen religionswissenschaftlich und historisch fundierten Blick auf die Tradition der „semitischen“ Schriftreligionen schildert er in seinem 2019 erschienenen Buch "Warum der Antisemitismus uns alle bedroht: Wie neue Medien alte Verschwörungsmythen befeuern". Seit März 2020 nutzt er seinen Podcast Verschwörungsfragen, um über Verschwörungsmythen und Antisemitismus aufzuklären. (Quelle: wikipedia.org - Michael Blume)