Rezension
Im Sommer 2024 erschien das Buch „F wie Flüchtling – aus Pommern in den Westen“ von Ingrid Buss, die in ihrem Werk die Fluchtgeschichte ihrer Mutter erzählt. Diese Fluchtgeschichte enthält die großen Motive, wie sie auch erfolgreichen Spielfilmen zugrunde liegen. Es ist eine Kunst, aus Erlebtem eine große Geschichte zu machen, die aus vielen Zeitzeugenberichten herausragt.
„Ich habe ein Buch über die Flucht meiner Mutter geschrieben. Das könnte sie doch interessieren.“ So der Anruf von Autorin Ingrid Buss bei der Kulturstiftung der deutschen Vertriebenen für Wissenschaft und Forschung.
Meine seit Jahren vertretene These, die Fluchtgeschichten sollten den Fokus der Vertriebenenverbände heute nicht mehr dominieren, im Kopf, höre ich der Schriftstellerin nicht lange zu, sondern entgegne ihr: „Da sind sie ja nicht die Erste!“ Aus der Pistole geschossen die Autorin: „Aber mein Buch ist was Besonderes!“
Frau Buss ließ sich auf meine Provokation ein, blieb schlagfertig, beschrieb ihr Buch, schickte mir eine Leseprobe und ein paar Tage später die E-Mail-Adresse unter der ich ein Rezensionsexemplar ihres Werks anfordern konnte. Der Kontakt zum Verlag verlief ungewohnt schnell, freundlich und kompetent.
Die vorliegende Rezension beschreibt meinen Zugang zur Erzählung F wie Flüchtling von Frau Ingrid Buss, denn es warten noch einige Bücher darauf, von uns gelesen und rezensiert zu werden. Waren es der Intellekt, der Witz, der Charme, die Chemie zwischen Frau Buss und mir, dass ich mir vornahm, ihr Buch vor anderen Fluchtgeschichten zu lesen?
Bei der Lektüre erlebte ich ein lange nicht mehr gekanntes Phänomen: Ich konnte F wie Flüchtling nicht mehr aus der Hand legen, ließ meinen Umzug Umzug sein und las das Buch als das erste in meiner neuen Wohnung bis zum Ende durch.
Daraufhin schrieb ich der Autorin, die dem Jahrgang meiner Mutter angehört, noch in der Nacht eine WhatApp-Nachricht mit dem Wortlaut „danke für dieses lebendige, liebevolle und richtig cool geschriebene Buch! Ich kann es nicht aus der Hand legen, weil wirklich jeder beschriebene Mensch bei der Lektüre direkt den Weg ins Herz findet!“
Damit ist die erzählerische Stärke einer einfühlsamen, gleichermaßen empathischen wie herausfordernd frechen Schreiberin oberflächlich angedeutet.
Die Fluchtgeschichte beginnt in der Zeit vor dem Krieg in Pommern. Das winzige Dorf Klein Mellen, das zur Stadt Dramburg gehört, ist als die friedliche Idylle gezeichnet, die in dieser Gegend sicher seit Jahrhunderten existierte.
Die Liebesgeschichte ihrer Eltern ist ungewöhnlich, denn der Vater wurde aufgrund seiner Kinderlosigkeit von Berlin in die pommersche Provinz strafversetzt, auch weil er sich geweigert hatte der NSDAP beizutreten. Der 33-Jährige war also unverheiratet, als er die 17-Jährige Bankangestellte an deren erstem Arbeitstag auf dem Fahrrad vorfahren sah. Vom Donner und diversen Blitzen gerührt, musste er nun diese Frau kennenlernen. Vorwände für Besuche in der Bank fand er sofort und jeden Tag. Aber die Schönheit, deren Fahrrad auf der Rückseite der Bank stand, musste wohl regelmäßig beim Betreten der Bank vom Erdboden verschluckt worden sein.
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Doch wer wäre der antike Liebesgott Amor, wenn er nicht dafür gesorgt hätte, dass aus einer anfänglichen und doch intensiven Schwärmerei eines Tages nicht auch noch Kinder geboren werden sollten? Am Freitag der ersten Woche sollte die neue Bankangestellte erstmals ihren Dienst am Schalter tun. Willi Buß betrat auch an diesem Freitag mit seiner unstillbaren Sehnsucht die Bank und sah nun doch: Irmgard Köhler stand strahlend schön, gepflegt und gut gekleidet am Schalter. Jetzt wurde sie von einem ähnlichen Blitz getroffen und vom Donner gerührt, denn Willi begegnete ihr mit seiner klaren Offenheit und Verliebtheit, die sie direkt ins Herz traf.
Wie damals üblich, musste der neue Mann im Leben der Tochter zunächst der Familie vorgestellt werden. Willi, war doppelt so alt wie Irmgard – das könnte zu großen Konflikten führen, auf Ablehnung der künftigen Schwiegereltern stoßen und damit in einer Situation enden, die das frühe Ende einer Liebe bedeuten würde.
Doch Fritz Köhler, Irmgards Vater schloss nach wenigen Augenblicken seinen 12 Jahre jüngeren und künftigen Schwiegersohn direkt ins Herz, die Schwester und der kleine Bruder („Willi, hast du mir was mitgebracht?“), aber auch Mutter Köhler waren angetan von dem Mann, der hier um die Gunst der Familie seiner Liebe zu werben angetreten war.
Heirat 1939. Krieg, Willi wird eingezogen. Zwei Kinder werden geboren. Auf der Flucht aus Pommern verliert der kleine Sohn im Alter von 1 Jahr und 7 Monaten sein Leben und wird von einem Pfarrer im heutigen Mecklenburg-Vorpommern beigesetzt. Die lange Geschichte will, dass dessen behinderter Sohn während der 40 Jahre DDR das Grab des Kindes pflegt und die Mutter nach dem Mauerfall von 1989 noch einmal ans Grab ihres Sohnes führt.
Das Wiedersehen – nach der kriegsbedingten Trennung - von Willi und Irmgard lässt 9 lange Jahre auf sich warten. Aus Krieg und französischer Gefangenschaft bringt Willi Verletzungen mit, Wunden, die nicht heilen wollen, wird Vater von Inge 1949 und stirbt 1954 in Schwelm bei Wuppertal. Damit ist Irmgard mit 32 Jahren verwitwet mit zwei Töchtern, die 5 und 14 Jahre alt sind.
Diese kurze Wiedergabe der gesamten Erzählung markiert noch nicht einmal alle Wunder, die auf Irmgards Flucht eintraten und die junge Mutter schützten und ernährten.
Ihrer zweiten Tochter verdankt Irmgard Buss nun ein Stückchen Unsterblichkeit und sicher einiges Herzklopfen und ein paar Tränen der Leserinnen und Leser eines Buches, das aus den bekannten Erzählungen von Fluchtgeschichten herausragt. Als „Nachgeborene“ und doch zum Flüchtling mit einem -F- im Klassenbuch gekennzeichnete und damit stigmatisierte Tochter einer Frau, die aus Pommern fliehen musste, hat Ingrid Buss eine natürliche Distanz zum dramatischen Geschehen der Flucht und dem Tod des Großvaters. Diese Ereignisse hat sie mit ihren Erinnerungen und denen in ihrer Familie literarisch und mit ihrer Liebe in Form eines spannenden Buches verarbeitet. Es ist eine große Herausforderung der Generation nach der Flucht, die in Westdeutschland aufwuchs und doch immer von allen Verwandten die Geschichten von damals, aus der verlorenen Heimat und damit dem Verlust jahrzehntelanger Geborgenheit erzählt und vorgeweint bekam, diese Erfahrungen und daraus resultierende Erkenntnisse auch anderen Menschen zugänglich zu machen.
Ingrid Buss sorgt zudem für einen Verständnisrahmen mit ihren Hinweisen auf das jeweilige politische Zeitgeschehen. So ist der Einblick in die Lebensumstände vor der Währungsreform 1948 und der Gründung beider deutschen Staaten auch ein wertvoller Bestandteil des Buches, weil dieser für Orientierung nicht nur anhand von genannten Jahreszahlen sorgt.
Zu ihrem gezogenen Fazit hatte ich ihr geschrieben, was mir der ehemalige Häftling im KZ-Buchenwald, Ivan Ivanji im Interview gesagt hatte als er sein Fazit aus der katastrophalen Geschichte in seiner jugoslawischen Heimat in den Jahren 1941 bis 1948 fortfolgende zu ziehen anschickte: „Wir haben immer gesagt, es soll nie wieder geschehen, aber nach den Ereignissen in Jugoslawien in den 1990er Jahren, kann ich das nicht mehr. Deshalb nur: Hütet euch!“
Der fromme Wunsch nach gegenseitigem Respekt, der zwischenmenschliche Konflikte verhindern kann und für Frieden sorgt, der ist bei der darin enthaltenen Naivität dennoch notwendig. So hat Ingrid Buss nicht nur ein tolles Buch auf hohem Niveau vorgelegt, sondern sie liefert auch einen Diskussionsbeitrag für heutige Konfliktlösungen, die historische Aufarbeitung und zeigt, wie tief ein geschriebener Text ins gelebte Leben – hier der eigenen Angehörigen – vordringen kann. Das tut sie, um den Gefühlen, der Liebe ihrer Eltern und dem Schmerz der Trennungen einen Raum im Heute zu geben. Dieser ist verbunden mit der Suche nach wahrhaftiger Erkenntnis für die Gestaltung einer hoffnungsvolleren Zukunft.
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Das Buch „F wie Flüchtling – aus Pommern in den Westen“ ist erhältlich bei epubli, amazon und im Buchhandel. ISBN 978-3-759834-62-1
Diese Rezension erschien auch im Magazin
Pommern - Zeitschrift für Kultur und Geschichte - Heft 4 / 2024,
sowie im
Deutschen Ostdienst - Nachrichtenmagazin des Bundes der Vertriebenen - Heft 5 / 2024
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