Wenn im nächsten Jahr Hilde Deutsch 100 Jahre alt würde, ist sie seit 80 Jahren tot. Ermordet von antisemitischen Nationalsozialisten, Profis in Sachen Völkermord. Ihre Mörder haben vor und nach ihrem Einsatz in Belgrad keinerlei Spuren hinterlassen. Aber sie wurden gesehen und ihre Freundlichkeit wurde in Zeugenaussagen überliefert.

Doch der Reihe nach:

Als Hitlers Truppen im April vor 80 Jahren Jugoslawien militärisch besetzen, installieren die Besatzer gleich mehrere perfide und perverse Systeme zum Massenmord an Gegnern und „Untermenschen“.

Hilde Deutsch war als etwa einjähriges Kind 1923 mit ihren Eltern von ihrer Geburtsstadt Wien nach Belgrad gezogen. Ihr Vater Emil – fortan serbifiziert – Dajc genannt, scheint als Ingenieur in dem neu gegründeten Vielvölkerstaat bessere Berufschancen als in Österreich vorgefunden zu haben.

Die Tochter wächst also ebenfalls serbifiziert als Hilda Dajc auf und erlernt mindestens zwei Muttersprachen: Serbisch und Deutsch.

Von Hilda sind insgesamt 4 Briefe und zwei Fotos erhalten geblieben. Ihr damaliger Schulfreund Aleksandar „Sascha“ Lebl erinnerte sich wenige Jahre vor seinem Tod im September 2020 an Hilda. Es muss ihn ein Leben lang gequält haben, dass er sich den Judenmördern entziehen konnte und sie nicht überredet hatte, mit ihm in den Untergrund zu gehen. Lebl hatte überlebt, weil er mit gefälschten Papieren bis Dubrovnik gelangte und erst ein Jahr nach seiner Flucht aus Belgrad verhaftet wurde. In einem italienischen Konzentrationslager begegnete er dem Schriftsteller Ervin Sinko, der ihm nach Kriegsende bestätigte, schon während des Krieges im Widerstand gegen den Nationalsozialismus gewesen zu sein. Diese Bestätigung öffnete dem nach Kriegsende noch jungen Sascha die Tür zum Studium des Journalismus.

Wer die vier Briefe der Hilda Dajc heute liest und weiß, dass diese hochbegabte Autorin dieser Briefe von Barbaren in Uniform ermordet wurde, dem dringt ins Bewusstsein, dass hier der Weltliteratur mit größter Wahrscheinlichkeit eine ganze Regalreihe brillanter Bücher verloren gegangen ist. Nein, von den Nationalsozialisten der Welt verweigert wurde.

Emil Dajc war der stellvertretende Vorsitzende der jüdischen Selbstorganisation in Belgrad. Hier war auch Sascha Lebl im Sommer 1941 tätig. Sein Job war, die Todeslisten der Männer abzustreichen, die im Wald zwischen Pancevo und Jabuka erschossen wurden. Gegen Herbst sah Sascha Lebl, dass die Liste sich dem Ende neigt und so vermutete er, selbst bald zu seiner Erschießung gebracht zu werden. Also besorgte er sich falsche italienische Papiere und floh.

Emil Dajc blieb mit Frau und den beiden Kindern, Hilda und Hans in Belgrad.

In Berlin fassten im Reichssicherheitshauptamt (RSHA) Friedrich Pradel und andere den Plan, künftig mit größeren Gaswagen effizienter zu morden.

Anfang Dezember 1941 wurde auf dem alten Messegelände Belgrads das „Judenlager Semlin“ (auch „Staro Sajmiste“) eingerichtet. Die Messehallen hatten im vorangegangenen April Schäden durch die Bombenabwürfe teilweise stark beschädigt.

Hilda Dajc möchte eigentlich Architektur studieren, hat aber vom Leid der Kranken im Lager gehört und beabsichtigt, sich freiwillig als Krankenschwester zu melden. Von der Mordabsicht der Nazis scheint sie nichts mitbekommen zu haben. Sascha Lebl war zu diesem Zeitpunkt längst in der Sicherheit des Untergrunds in Dubrovnik.

Emil Dajc gerät mit seiner Tochter in Streit und kann sie nicht davon abhalten, freiwillig ins Judenlager Semlin umzuziehen.

Dort schreibt Hilda ihren ersten Brief. Sie beschreibt, nachts bei klarem Himmel die Sterne zu sehen. Sie hat Bücher mitgenommen: Heinrich Heine und Goethes Werther, aber auch Sprachlernkurse für Englisch und Hebräisch.

In Berlin finden etwa zur selben Zeit Testfahrten mit dem neuen Gaswagen der Marke Saurer, verändert bei Gausdat in Neukölln statt.

Hilda Dajc hilft mit, Leichen über die zugefrorene Save in den gegenüberliegenden Hafen zu bringen. Dort sieht sie noch ein oder zweimal Schulfreundinnen.

Im März kommen zwei SS-Scharführer, die in der Literatur Götz und Meyer genannt werden, nach Belgrad und melden sich dort zunächst bei der GeStaPo und der SS.

Sie werden irgendwann bis Mai 1942 auch Hilda Dajc mit ihren Eltern und dem Bruder ermorden.

Die Identitäten von Götz und Meyer sind bis heute nicht aufgeklärt worden. Wie eingangs erwähnt, tauchen ihre Namen vor dem März 1942 in erhalten gebliebenen Dokumenten ebenso wenig auf, wie nach Juni 1942.

Inzwischen haben einige Historiker, aber auch Staatsanwälte und Journalisten erfolglos versucht, diese beiden Mörder zu enttarnen.

Das Bundesarchiv sagt, aufgrund der Namenshäufigkeit und des niedrigen Ranges sei es nahezu aussichtslos, nähere Angaben zu den SS-Scharführern Götz und Meyer auffinden zu können.

Andere Experten vermuten inzwischen, dass es sich bei den beiden Namen um Pseudonyme handeln könnte. Dieser Verdacht erscheint plausibel, weil einiges über deren Kollegen bekannt ist. Auch Fahrer anderer Gaswagen konnten vor Gericht gestellt und vernommen werden. Nicht so Götz und Meyer, die außerhalb Belgrads kaum Spuren hinterlassen haben.

Vor der Identifizierung steht eine offenkundig monatelange Recherche in Ermittlungsunterlagen, die anlässlich einer Reihe von Gerichtsprozessen erstellt wurden.

Die Finanzierung einer solchen Mammutrecherche übersteigt die Kapazitäten eines einzelnen Journalisten. Die Archivrecherchen unter Lockdown- und Quarantänebedingungen müssen auf die Zeit nach Corona verschoben werden.

Einzig die Politik wäre in der Lage, die nötigen Ermittlungen und Recherchen in Gang zu setzen. Dies in einer Zeit ganz anderer und sicher existenzieller Herausforderungen. Dennoch bedeutet die Identifizierung der beiden etwa 8000fachen Mörder, Götz und Meyer, sicherlich das Schließen einer offenen Wunde nicht nur bei Hinterbliebenen und Überlebenden der Shoah in Serbien.

Nächstes Jahr würde Hilda Dajc 100 Jahre alt...

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