Wenn Volker Beck auf Schwulendemos in Warschau, Minsk oder Moskau körperlich angegriffen wird, wundert und ärgert er sich. Ja, zurecht. Oder?
These:
Obwohl die kommunistische Ideologie vorhatte und vorgab, die Menschheit zu befreien, hat die realsozialistisch beglückte Bevölkerung ihre ursprünglichen Moralvorstellungen teils 70 Jahre lang konserviert. Oder wie wäre es nun möglich, dass der Christopher Street Day oder die Pride Parade etwa in Belgrad von den Mehrheitsparteien im Parlament, von Hooligans und der Serbisch-Orthodoxen Kirche sanktioniert, diffamiert und körperlich angegriffen wird?
Der Reihe nach:
In der Bundesrepublik Deutschland konnten junge Frauen in den 1960er Jahren auf der Straße Ohrfeigen kassieren, wenn sie die „Frechheit“ besaßen unter freiem Himmel zu rauchen. So beschrieb mir eine ehemalige RAF-Frau ihren Grund, den Alltag politisch zu hinterfragen.
Mit den sogenannten '68ern öffnete sich die Gesellschaft in Deutschland, aber auch in Westeuropa, den USA und Canada.
1968 – eine weltweite Jugendbewegung?
In Deutschland radikalisierten sich Teile der Studentenbewegung bereits im Jahr zuvor. Am 2. Juni 1967 war der Student Benno Ohnesorg nach seiner Verhaftung durch den Polizisten Karl-Heinz Kurras erschossen worden. Das Bild des Sterbenden wurde zur Ikone einer ganzen Generation.
Mit dem Wahlkampf Willy Brandts begann der 'Marsch durch die Institutionen', der auf den Wahlkampfslogan 'Mehr Demokratie wagen' einsetzte. Es waren viele Demonstrationen, Aktionen und schließlich auch Anschläge, die der Weltkriegsgeneration auch Angst vor der rebellischen Jugend machte. In vielen Familien traten Verwerfungen und Spaltungen auf. Junge Familien setzten Teile der Antiautoritären Erziehung um, erzogen ganze Jahrgänge der Söhne zur Gewaltfreiheit.
Ähnliche Ereignisse markieren den Beginn äquivalenter innerer Öffnungen in den USA, Frankreich, Italien usw.
Und im "Ostblock"? Im Warschauer Pakt?
Der Prager Frühling fand ebenfalls 1968 statt. Ebenso demonstrierten Studenten auf den Straßen. Dort soll sich der kommunistische Präsident Jugoslawiens sogar wohlwollend über „seine Studenten“ geäußert haben. Kurz darauf verschwanden diese allerdings in irgendwelchen Gräbern. In Prag walzten sowjetische Panzer den mutigen Aufstand nieder.
Insofern lässt sich feststellen, dass im Westen in den „freien Gesellschaften“ ein gesellschaftlicher Wandel tatsächlich stattfinden konnte, der etwa in Deutschland den § 175 StGB außer Kraft gesetzt und später ganz abgeschafft hat. Auch viele andere Fragen der Emanzipation der Frau, der Gleichberechtigung beider Geschlechter, sind zwischen 1968 und heute verändert worden. Aus den jeweiligen Gesellschaften heraus. Nicht staatlich verordnet!
https://www.dtv.de/buch/norbert-frei-1968-34920/
Exkurs zu Tito und seinem Vielvölkerstaat
Josip Broz Tito hatte mit Machtantritt ab 1944 in Jugoslawien sämtliche Parteien verboten. Konservative, Königstreue und Liberale wurden per se als Faschisten bezeichnet und sanktioniert. Die Einschätzung, Tito sei der Garant des Friedens in Jugoslawien war gleichermaßen richtig und falsch. Richtig ist, nach Titos Tod zerfiel Jugoslawien in fürchterlichen Kriegen und Genoziden. Falsch ist die Annahme Tito hätte die innerjugoslawischen Konflikte gelöst. Nein, er hat sie unterdrückt und in den Gremien von Staat und Staatspartei für einen besondere Form des „Ausgleichs“ gesorgt: Ein Kroate saß mit seinem Serben zusammen. Beide blockierten einander und waren zu keinerlei Konfliktlösung verpflichtet. So froren sämtliche Konflikte, die sich aus widerstrebenden aber natürlichen Interessen ergeben ein. Sie tauten auf, mit dem Erwachen des jeweiligen Nationalismus, dem Aufbrechen religiös konnotierter Radikalismen im Land.
In einem Jugoslawien, wie es der Kongress von Ba in seiner Resolution entworfen hatte, wäre ein echter Föderalismus entstanden, der ähnlich wie in der Bundesrepublik Deutschland sämtliche Interessen strukturell in Gremien und durch Wahlen in einem permanenten Prozess ausgeglichen hätte. Hätte, wäre, wenn. Der Monarchist Dragoljub Mihajlovic mutierte während des Zweiten Weltkriegs in Jugoslawien zum Demokraten und obendrein den Sozialdemokraten Zivko Topalovic zur Teilnahme am Sveti Sava Kongress einlud, wurde klar, dass alle unbelastet gebliebenen Parteien des Belgrader Vorkriegsparlaments einen demokratischen Staat wiederherstellen sollten. Topalovic wollte zeigen, dass „es eine demokratische, linke Alternative zu Titos Partisanen“ gab.
Dies als Alternative zur Diktatur Titos, die weder Pluralismus, noch Meinungsfreiheit, geschweige denn Pressefreiheit, sondern Unterdrückung bedeutete, zeigt, dass die garantierten individuellen Freiheitsrechte im oft diffamierten Westen eine durch und durch positive Entwicklung hin zu mehr innergesellschaftlicher Öffnung und Toleranz gegenüber Minderheiten entstehen ließen.
Erkenntnisgewinn möglich?
Die Gesellschaften in den ehemaligen Warschauer Pakt Staaten sind nunmehr seit 20, andere seit 30 Jahren in einem mehr oder weniger demokratischen Zustand. Damit laufen dort innergesellschaftliche Entwicklungen ab, die unter den Bedingungen von Globalisierung, Internet und Korruption, sowie einer Rückbesinnung auf die jeweilige Religion, Tradition und Werte, vorsichtig mit der Entwicklung in Deutschland ab 1945 vergleichbar wäre. Schwierig. Aber zwanzig Jahre nach 1945 waren erste Studenten in Berlin, Frankfurt und München aktiv „gegen den Muff von tausend Jahren“. 1975, 30 Jahre nach dem Zweiten Weltkrieg begann die Zweite Generation der RAF mit ihrer Untergrundtätigkeit. Die Grünen wurden erst fünf Jahre später gegründet. Bei Demonstrationen entstanden ähnliche Bilder, wie wir sie nun aus Belarus wahrnehmen.
Das heißt, wenn „Wir“ hier von Russen, Serben, Polen, Ungarn, Ukrainern, Rumänen usw. erwarten, dass sie in Fragen von Toleranz, Homosexualität oder Gleichberechtigung den gleichen Erkenntnis- oder Bewusstseinsstand erlangt haben könnten, bedeutet das eine Überforderung der dortigen Akteure. Vertrauen wir den jeweiligen Entwicklungen in den neuen Generationen. Bleiben wir solidarisch mit den Gruppen, die „unsere Werte“ teilen und leben. Das muss genügen, denn die strikte Forderung an die jeweiligen Regierungen nach der Einführung gleicher Gesetze und Bedingungen „wie bei uns“ wird als Provokation, unangemessene Einmischung und Bevormundung wahrgenommen.
Es braucht Zeit und Geduld. Aber auch Inspiration und Solidarität. Durchaus auch Solidarität mit den marginalisierten Gruppen und ihren Vertretern. Und ohne Freiheit, wird weder dort noch bei uns irgendetwas besser!
Positive Entwicklungen stärken, negative Ereignisse analysieren und durch positive Verstärkung verändern? Wenn das möglich ist: Tun! Aber eben nicht als Bevormundende!
In Deutschland gibt es seit 20 Jahren die Sendung 'liebe sünde' nicht mehr, weil die einstigen Werbekunden nicht weiter in diesem "schmutzigen" Umfeld werben wollten. Und das geschah einem wirklich aufklärenden Magazin! Waren also die 1990er in Deutschland offener, neugieriger, toleranter? Und sind wir heute prüder, spießiger, intoleranter geworden?
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