„Die Morgenröte der Twitter-Soziologie“ scheint angebrochen zu sein. So verkündet es jedenfalls ein umfangreicher Aufsatz in der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung (FAS) vom 25. April 2021, und der Autor Ludwig Hruza erzählt darin von den wachsenden „Datenmengen, die sich in sozialen Medien anhäufen“ und „der empirischen Sozialforschung ganz neue Möglichkeiten“ bieten. Allerdings – so werden die Leser vorgewarnt – liefern mehr Daten allein „noch kein besseres Verständnis dessen, was sie über die Gesellschaft aussagen“. Mit anderen Worten – wenn Sozialwissenschaftlerinnen und ihre Kollegen aus dem ganzen Wust von Tweets und Retweets in Reply-Netzwerken etwas machen wollen, brauchen sie wie jede andere Disziplin der Wissenschaft eine Theorie, und zwar eine standfeste, und jetzt wird es knifflig. Ihr eigenes Fach kann solch eine solide Theorie schon allein deshalb nicht liefern, weil sich der große Guru Jürgen Habermas gerne abschätzig über entsprechende Bemühungen geäußert und Theorien lässig als „Ordnungsschemata“ abgetan hat, von denen nur verlangt wird, dass sie „syntaktisch verbindlich“ konstruiert sind, sich also an den allgemeinen Sprachgebrauch halten – immerhin das.
Die angekündigte Morgenröte der Twitter-Soziologie scheint sich nun von dem erwähnen Übervater emanzipieren – oder efrauzipieren – zu wollen, und so hat man mit Hilfe aus den Reihen der Physik angefangen, mathematische Modelle einzusetzen, um mit ihrer Hilfe zu berechnen zu können, wie Ansichten im öffentlichen Diskurs entstehen und sich verbreiten. Schon ist die Rede von den „Computational Social Sciences“, und man liest etwas von computergestützten Bemühungen, ein spieltheoretisches Modell für die Meinungsdynamik aufzustellen, was in dem Twitter Gewitter deshalb gelingen kann, weil das tweetende Volk mit den paar Zeichen nur die Positionen Freund und Feind kennt, weil man in den Netzwerken kaum argumentiert und sich vor allem für etwas bekennt oder gegen etwas ausspricht, um überhaupt gehört (oder auch nicht) zu werden, und von persönlichen Differenzierungen ist nur vernachlässigbar wenig zu merken.
Mit anderen Worten, in den sozialen Netzwerken zirkulieren menschliche Meinungen in binärer Form – Like oder Dislike, Daumen rauf oder runter –, und damit schlägt plötzlich die Stunde der Physik, genauer der statistischen Physik, was dem Verfasser dieser Zeilen viel Grund zum Händereiben und zur klammheimlichen Freude gibt, wie gleich erläutert wird. Denn „im Grunde genommen gehen solche Meinungsmodelle alle auf das sogenannte Ising-Modell zurück, das ursprünglich in der statistischen Physik den Magnetismus beschreiben sollte“, wie Eckehard Olbrich vom Leipziger Max-Planck-Institut für Mathematik in den Naturwissenschaften in der FAS zitiert wird, der zugleich allgemein darauf hinweist, dass die Methoden der neuen Sozialwissenschaften aus der Physik stammen. Das Grinsen des Verfassers beim Lesen solcher Sätze hat damit zu tun, dass er in den frühen 1970er Jahren – lang, lang ist´s her – seine Diplomarbeit in Theoretischer Physik dem Ising-Modell gewidmet hat, das selbst aus den 1920er Jahren stammt. Die Soziologie hat also fast 100 Jahre gebraucht, um den Mut zu finden, sich bei der Physik zu bedienen, um dem grammatisch zwar korrekten, aber vielfach unverständlichem Gerede ihrer Gurus eine theoretische Grundierung zu verpassen. Da staunt der Laie und der Fachmann sollte sich wundern.
Das Ising-Modell
Zunächst zur Sache der exakten Wissenschaft: Das Ising-Modell geht auf den aus Köln stammenden Physiker Ernst Ising (1900-1998) zurück, der Deutschland 1939 verlassen musste und Professor in den USA geworden ist. Dies hat dazu geführt, dass viele Wissenschaftler das große I in Isings Namen als Ei aussprechen, und in Amerika muss stets darauf hingewiesen werden, dass „Ising“ als deutscher Name wie „Easing“ gesprochen wird, auch wenn der Vorschlag, mit einem Ising-Modell theoretisch-wissenschaftlich zu arbeiten, im Jahre 1936 in einer englischsprachigen Arbeit eingeführt worden ist, und zwar von dem damals in Oxford tätigen deutschen Physiker Rudolf Peierls, der sich mit seinen dazugehörigen Rechnungen an einem Modell für den Ferromagnetismus versuchte.
In dem Wort „Ferromagnetismus“ steckt vorne das lateinische „ferrum“ für Eisen und hinten der Name der griechischen Landschaft Magnesia, in der in vorchristlicher Zeit die ersten – nach ihr benannten – Magneteisensteine gefunden worden sind, mit denen man früher noch in Form von Stabmagneten spielen konnte, indem zum Beispiel Kompassnadeln irritiert wurden. Man konnte damals im Kinderzimmer auch Magnetbausteine mit ihren Nord- und Südpolen zusammensetzen und Metallstücke (Nägel) aus Eisen mit ihrer Hilfe aufsammeln und sogar aus der Ferne anziehen.
Eisenatome stellen in den Augen von Physikern submikroskopisch kleine und damit extrem winzige Elementarmagnete dar, die unterschiedliche Pole aufweisen, was sie definitionsgemäß zu einem Dipol werden lässt. Auf diese Weise spüren die Atome eine Kraft, sie verfügen über ein magnetisches Moment, wie man in der Physik sagt, um anschließend zwei Komponenten genauer zu unterscheiden. Was sich in einem Atom befindet und dort bewegt, sind vor allem die Elektronen, die sich erstens um den Kern und zweitens um ihre eigene Achse drehen, wie man sagen kann, wenn man anschaulich zu beschreiben vorhat, was sich im Innersten der Welt abspielt. Wohlgemerkt – es gibt elektrische Ladungen, die sich bewegen und dadurch Stoffe magnetisch werden lassen. Es gibt aber keine analogen magnetischen Ladungen (Monopole), was die Erforschung des Magnetismus von Anfang an vor besondere Aufgaben stellte. Das Elektrische steckt in den Ladungen und ist mit ihnen gegeben, aber das Magnetische entsteht erst aus der mobilen atomaren Elektrizität. An dieser Stelle soll nun die Aufmerksamkeit der Eigendrehung von Elektronen gelten, die den Namen Spin bekommen hat, und zwar genau in der Mitte der 1920er Jahre, als Ernst Ising sich an einer Doktorarbeit versuchte.
In diesen Goldenen Zwanziger Jahren erlebte nicht nur Deutschlands Kulturszene turbulente Höhepunkte, konnte nicht nur die Philosophie eine „Zeit der Zauberer“ feiern, sondern gelang es auch der Physik, sich dramatisch zu wandeln und aus den Fesseln des klassischen Weltbildes zu lösen. Ihre Vertreter vermochten eine revolutionäre Atomtheorie namens Quantenmechanik aufzustellen und mit ihr eine völlig ungewohnte und revolutionäre Sicht der Wirklichkeit zu gewinnen. Zu den einfachen Einsichten der neuen Physik gehörte anfangs die Tatsache, dass die Gebilde atomarer Größenordnungen mit drei Quantenzahlen beschrieben und charakterisiert werden konnten – bis sich 1924 herausstellte, dass dies nicht reichte. Der Physiker Wolfgang Pauli schlug deshalb eine vierte Quantenzahl vor, die heute zwar mit dem erwähnten Spin gleichgesetzt wird, die er selbst aber einführte, um etwas völlig Unanschauliches zu erfassen, nämlich eine klassisch unverständliche Zweiwertigkeit in der atomaren Sphäre, die es vor allem bei Elektronen anzuwenden galt. Deshalb ist der Spin binär (zweiwertig), er kann mit plus oder minus, durch auf und ab oder als rechts- und linksherum charakterisiert werden, und so einfach diese zweifache Möglichkeit auch klingt, mit ihr konnte es triumphal gelingen, den Aufenthalt von Elektronen in einem Atom verständlich zu machen oder deren Bindung in einem Molekül zu erklären.
Als Pauli diesen später mit Nobelehren ausgezeichneten Vorschlag unterbreitete, arbeitete er mit dem Physiker Wilhelm Lenz zusammen, der die Idee des Spins aufnahm, um mit ihr zu versuchen, die Magnetisierung etwa von Eisen zu verstehen. Es schien Lenz, als ob die magnetischen Momente der Atome einer ferromagnetischen Substanz nur zwei diskrete entgegengesetzte Einstellungen annehmen konnten, und er stellte sich vor, dass zwischen zwei Nachbaratomen eine Energie wirksam werden könnte, die deren Parallelstellung begünstigt. Das ganze System – der makroskopische Magnet – setzt sich dann aus gleichartigen Elementen zusammen, für die zwei diskrete Zustände von Natur aus verfügbar sind und die paarweise miteinander in Wechselwirkung treten, wobei die Einstellung eines Spins sich nach derjenigen der Nachbarn richtet. Das heißt, Wilhelm Lenz schlug seinem Studenten Ernst Ising vor, die genaue Theorie zur Herstellung der kollektiven Ordnung auszuarbeiten, die sich in der Magnetisierung von Eisen, Cobalt und Nickel zeigt, um ein paar Beispiele aufzuzählen. Und so spricht die Welt heute vom Ising-Modell, auch wenn der Kölner Sohn jüdischer Eltern im Laufe seines Lebens immer betont hat, „das Modell müsse eigentlich Lenz-Ising-Modell heißen.“
Zwei- und eindimensionale Lösungen
Hier gilt anzumerken, dass bei aller Einfachheit der Grundannahmen die mathematischen Folgen bei den von Natur aus dreidimensionalen physikalischen Systemen und die dazugehörigen Rechnungen je nach eingesetzter Energie bald ungeheuer verwickelt werden, weshalb sich Theoretiker in ihren Modellen gerne auf eine oder zwei Dimensionen beschränken. Dem holländischen Physiker Lars Onsager ist es in den Jahren des Zweiten Weltkriegs tatsächlich gelungen, die exakte Lösung für ein Ising-Modell in zwei Dimensionen vorzulegen, wobei mit dem Wort „Lösung“ gemeint ist, dass Onsager bei konkreten physikalischen Phänomenen wie Phasenübergängen die genaue Temperatur angeben konnte, bei der sich der Ordnungszustand des betrachteten Systems ändert, indem etwa seine Magnetisierung verschwindet oder in einem leitfähigen Metall die Eigenschaften eines Isolators auftreten. Phasenübergängen kennt man im Alltag, wenn Wasser verdampft und gefriert, und auch das kann die statistische Physik modellieren.
Das Ising-Modell mit einer nachbarlichen Paarwechselwirkung hat sich im Laufe der Jahre als höchst hilfreich beim Verständnis von komplexen Abläufen erwiesen, bei denen sich individuelles Verhalten nach dem Vorbild des Nachbarn richtet, was als soziale Imitation bezeichnet wird und Erscheinungsbilder von Gruppen hervorbringt, wie man sie etwa als La-Ola-Welle in Sportarenen beobachten kann. Wenn die miteinander wechselwirkenden Nachbarschaftsverhältnisse bei solchem Massenverhalten zu verschachtelt werden, kann es passieren, dass im Modell kein Grundzustand allgemeiner Zufriedenheit erreicht werden kann, was tatsächlich auch in der Physik als „Frustration“ bezeichnet wird. So ein Zustand kommt bei kohärentem Verhalten auf Kapitelmärkten ebenso vor wie bei dem Einsatz von Ionenkanälen in Membranen, die ebenfalls binär zu verwalten sind, nämlich entweder geschlossen oder geöffnet auftreten, um dann Strom fließen zu lassen oder nicht. Als ich 1972 meine Diplomarbeit in Theoretischer Physik zu schreiben hatte, wollte ich ebenfalls mit dem Ising-Modell punkten, aber vorsichtshalber nur in einer Dimension. Mich interessierte der Faden des Lebens, das lineare DNA-Molekül, das als Doppelhelix aus zwei Strängen besteht, die durch Basenpaare miteinander verbunden sind. So wie der Elektronenspin eines Atoms in einem Magneten auf oder ab zeigen kann, steht den Basenpaaren der Erbsubstanz die Möglichkeit zur Verfügung, verbunden oder unverbunden zu sein, und meine Idee bestand darin, das Trennen der beiden Stränge bei Zunahme der Temperatur zu berechnen. Die Wissenschaft spricht dann von einer Schmelzkurve der DNA, und ich unternahm den Versuch, sie mit einem Ising-Modell zu berechnen, was einigermaßen gelang. Am Ende bekam ich ein Diplom in Physik, aber das soll nur am Rande erwähnt werden. Seit dieser Zeit habe ich mich aber in anderen Disziplinen umgetan und das Ising-Modell zwar als anregend aber nicht als systemrelevant oder gar politisch bedeutsam in Erinnerung behalten – bis mir jetzt die Morgenröte der Twitter-Soziologie vor die Augen kam und das alte Modell plötzlich eine moderne Meinungsdynamik erklären soll, wie einleitend erläutert worden ist und was ungeheuer spannend werden kann.
Twitter Theorie
Wer sich die jüngere Geschichte der Wissenschaft anschaut, kann zum Beispiel feststellen, dass das rasche Aufkommen der triumphalen Molekularbiologie in den Jahren nach dem Zweiten Weltkrieg sich vor allem den Arbeiten von Physikern verdankt, die ihren Kollegen aus den herkömmlichen Lebenswissenschaften experimentell unter anderem mit Röntgenstrukturanalysen und theoretisch mit dem Begriff der Information und statistischen Analysen von Genfrequenzen und Mutationsraten geholfen haben. Vielleicht steht der Menschheit in diesen Tagen, da sich eine „Computational Social Science“ am Horizont zu zeigen beginnt, eine ähnliche Blüte ins Haus, nur dass aus der traditionell betulichen Botanik und Zoologie keine aufregende Molekularwissenschaft mehr hervorgebracht wird, sondern dass sich diesmal die längst überbordende Sozialforschung mit ihren stark zunehmenden empirischen Untersuchungen und überquellenden Datensammlungen zu einer theoriegesättigten Sozialphysik mit Modellcharakter und abstrakten Ideen entwickelt – zu einer Twitter Theorie der Gesellschaft eben.
Das heißt, ob es eine Theorie wird, die diesen Namen verdient hat – was etwa für die Relativitätstheorie und die Quantentheorie der Physik der Fall ist –, kann man an dieser Stelle kaum vorhersagen und eher mit dem Hinweis auf die erwähnte Molekularbiologie bezweifeln, die es bei allem Erfolg auch nicht vermochte, eine theoretische Wissenschaft wie die großen Vorbilder der Physik zu werden. Wie wenig die immer dicker werdenden Lehrbücher der Molekulargenetik von ihrem anvisierten Objekt, dem Leben einer Zelle oder der Entwicklung eines Organismus verstehen, zeigt sich unter anderem dadurch, dass man am derzeitigen Ende des großen Projektes namens Hugo, in dessen Verlauf das Humangenom – daher das hübsche Hugo – mit seinen biochemischen Bausteinen offengelegt werden konnte, von dem ursprünglichen Ziel, mit der Kenntnis sämtlicher Gene den Ursprung von Krebs zu verstehen, weiter denn je entfernt ist. Wahre Wissenschaft zeigt sich nicht in der Lösung schwieriger Fragen, sondern in der Vertiefung des Geheimnisses, das sie umgibt.
Eine Twitter Theorie sollte oder könnte versuchen, das fortzuschreiben, was Physiker, Informatiker, Mathematiker in den 1980er Jahren als eine Theorie komplexer Systeme mit chaotischen Elementen angefangen haben, wobei man mit Hilfe des Modellierens im Sinne von Isings Ansatz darauf hoffen kann, den Erfolg der Physik bei der Berechnung von stofflichen Phasenübergängen zu wiederholen, indem man soziale Phasenübergänge vorherzusagen versucht, die sich im Umkippen von Meinungen oder als plötzlicher Shitstorm voller Hassmails mit aufgeblähtem Rassismus zeigen, um ein paar Beispiele zu nennen, von denen die Medien berichten.
Solch eine Sozialphysik oder Twitter Theorie der Gesellschaft muss neben der geborgten Mathematik wenigstens versuchen, eigene Begrifflichkeiten zu entwickeln. Sie kann sich nicht bequem zurücklehnen und zum Beispiel weiter fröhlich von Netzwerken, kybernetischen Regelkreisen, Quantensprüngen und Energiebilanzen palavern, die ja sämtlich wie die Phasenübergänge aus der Physik stammen, die sich mit ihren Theorien auch bei Ordnungsparametern oder Informationsmengen besser auskennt. Die Neigung der Sozialwissenschaften nimmt offenbar zu, sich von anderen Disziplinen unterwandern zu lassen und zum Beispiel Gene von Unternehmen zu manipulieren und Computerviren durch Algorithmen im Rechensystem zu programmieren, oder um mit künstlicher Intelligenz (KI) die Energiebilanz vor der sozialen Entropie mit zunehmender Unordnung in der wachsenden Komplexität zu schützen und zuletzt alles in eine Computersimulation verwandeln. Natürlich kann man – etwa durch das Ising-Modell – für solch ein Geschäftsmodell Hilfe bei den exakten Naturwissenschaften bekommen. Aber dazu reicht es nicht, sie in die gesellschaftlichen Abläufe einzulassen. Jeder Einzelne muss sich vielmehr auf die Naturwissenschaften einlassen und ihre historischen Abläufe zur Kenntnis nehmen. Erst dann kann man mit ihnen in jeder Hinsicht rechnen, und vielleicht kann man demnächst von ihrem Beitrag zu dem Märchen mit der Morgenröte erzählen. Das Geheimnis der Gesellschaft wird dabei nur verlockender, und die Zukunft bleibt so offen, wie es Menschen wollen.
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