Der Dichter und Wortkünstler Zhuangzi lebte im 3. Jahrhundert v.u.Z., und er hat ein Werk mit mehr als 100.000 Wörtern verfasst. Man findet seine Texte unter anderem in dem „Buch der daoistischen Weisheit“, von dem eine deutsche Fassung 2019 im Reclam Verlag erschienen ist. In ihr trifft man zu Beginn des 20. Kapitels auf einen Text, der mit „Der Bergbaum“ überschrieben ist und davon erzählt, wie Zhuangzi beim Wandern in landschaftlichen Höhen auf einen großen Baum mit ausladenden Ästen und üppiger Belaubung trifft. Als er sieht, wie ein Holzfäller achtlos an dem Baum vorübergeht, ohne Hand an ihn zu legen, fragt der Dichter den Waldarbeiter nach dem Grund für dieses Verhalten, und der Mann antwortet ihm: „Weil der Baum nutzlos ist“. Dieser Satz lässt Zhuangzi aufmerken und gibt ihm Gelegenheit, erst seine Schüler – und heute seine Leserinnen und Leser – auf etwas Paradoxes hinzuweisen, nämlich auf die Tatsache, dass es dem Baum nützt, unnütz zu sein, denn indem „er kein Nutzholz abgibt, kann er seine natürliche Lebenszeit auskosten“, wie der chinesische Philosoph zu seiner Freude erkennt. Es nützt dem Baum selbst, wenn er sonst niemandem nützt und in diesem Sinne zu nichts nutze zu sein scheint. Und so hat auch der eher nutzlose Spaziergang des Weisen seinen Nutzen gefunden. Wie würde es Zhuangzi freuen, wenn er etwas von den Fortschritten der modernen Wissenschaft lernen könnte und verstehen würde, dass gerade ein von Holzfällern ungenützter Baum den Menschen nutzt, weil er Sauerstoff freigibt, während er zugleich das Treibhausgas CO2 bindet und so hilft, den bedrohlichen Klimawandel einzufangen.
Die Weisheit des Ostens
Man kann die Einsicht in den Nutzen des als nutzlos eingestuften Baumes in den Bergen mit den Worten des Übersetzers der Erzählungen von Zhuangzi, Viktor Kalinke, ausdrücken, der meint, dass „Nutzlosigkeit sich dann als nützlich erweisen kann, wenn sie Sicherheit schafft und verhindert, benutzt zu werden“. Dieser Zusammenhang wird in dem Buch der daoistischen Weisheit am Beispiel von Tieren illustriert, die mit scharfen Zähnen ausgestattet sind und gerade deshalb gefährlicher leben „als Lebewesen, die es verstehen, für andere nutzlos zu sein“. Doch so schön diese Hinweise klingen, sie bleiben wenig hilfreich, solange keine konkreten Beispiele genannt werden. Und so kommt die Frage auf, ob das überhaupt geht, für andere nutzlos zu sein?
Wenn es die große Kette des Lebens gibt und die wimmelnde Verwobenheit der Organismen betrachtet wird, trägt doch jeder Teil des natürlichen Netzes der evolutionären Beziehungen zum Ganzen des irdischen Daseins bei, was es schlicht und einfach ausschließt, dass irgendetwas nutzlos für irgendjemanden sein kann. Selbst die Parasiten im Körper eines Menschen sind nicht nutzlos, stärken sie doch seine Abwehrkräfte, und so bleibt unklar, ob die Möglichkeit überhaupt besteht oder jemals bestanden hat, „für andere nutzlos zu sein“. Selbst der Baum, der für die Holzwirtschaft nichts abzuwerfen scheint, kann doch Menschen Nutzen bringen, entweder dadurch, dass sich Wanderer an ihm orientieren und in dem Schatten seiner Blätter rasten können, oder durch seinen erwähnten Beitrag zur Bewahrung des Klimas und nicht zuletzt auch dadurch, dass Philosophen wie Zhuangzi anfangen, sich Geschichten über den Nutzen des scheinbar Nutzlosen auszudenken und mit ihnen das entwickeln und verbreiten, was man im Westen inzwischen gerne die Weisheit des Ostens nennt.
Bleiben wir bei dem Meister Zhuangzi, der etwa zur gleichen Zeit wie sein griechischer Kollege Aristoteles lebte und seine „Lehren des Weges“ in paradoxe Erzählungen wie die von dem Bergbaum packte. Lehren des Weges – das meint natürlich so etwas wie Ratschläge zur Erziehung oder zum richtigen Leben zu geben, wozu sich Zhuangzi ermutigt fühlt, seit ihm die Frage in den Sinn gekommen ist, „Wer die Menschen als unveränderlich betrachtet, wie kann er Menschen verändern?“ Menschen sind die bewegten Beweger des Daseins, und sie bewegen und werden bewegt durch die Geschichten und Lehren der Philosophen, was humaner wirkt als die Setzung eines unbewegten Bewegers, wie ihn Aristoteles an den Anfang alles Geschehens gesetzt und zu einem Gott gemacht hat, dem man sich fügen muss. In der chinesischen Tradition kann man sein Leben selbst wählen, und Zhuangzi nutzte seine philosophischen Einsichten in die Nutzlosigkeit für sich selbst praktisch dadurch aus, dass er es ablehnte, ein Amt am Hofe etwa von König Hui von Liang (369-335 v.u.Z.) anzutreten. Denn „es wäre zu gefährlich und könnte ihm das Leben kosten“, wie einer Biographie von Zhuangzi entnommen werden kann, die im 2. Jahrhundert v.u.Z. geschrieben worden ist, als die chinesische Philosophie des Daoismus oder Taoismus bereits mehr als einhundert Jahren als „Lehre des Weges“ zirkulierte und erörtert wurde. Doch auch wenn dies unentwegt als chinesische Lebensweisheit verkündet und zitiert wird, das eben erwähnte Verständnis der Nützlichkeit des Nutzlosen leuchtet in nachchristlichen Zeiten und in europäischen Landen längst nicht mehr so unmittelbar ein, wie dies offenbar in den Jahren der Han-Dynastie der Fall war, in denen Zhuangzi auf der Erde weilte und sich über verschont gebliebene Bäume in den Bergen wunderte, die sich selbst genug sein und ihr Dasein auskosten konnten.
Westliche Wissenschaft
In der östlichen Kultur findet man eine Vorliebe für paradoxe Situationen, in denen zum Beispiel das weiche Wasser den harten Stein besiegt oder man eben auf die Nützlichkeit nutzlosen Daseins aufmerksam wird. Dem entspricht in der westlichen Welt die Überzeugung von der „Nützlichkeit nutzlosen Wissens“, also „The Usefulness of useless knowledge“. So heißt jedenfalls ein 1939 in den USA erschienener Aufsatz von Abraham Flexner (1866-1959), der 1930 geholfen hat, das berühmte Institute for Advanced Study im amerikanischen Princeton zu gründen, nachdem es dem Wissenschaftsorganisator gelungen war, den Finanzier und Philanthropen Louis Bamberger (1855-1944) zu überzeugen, die vielen Millionen Dollar, die der Geschäftsmann für die Einrichtung einer akademischen Institution zur Verfügung stellen wollte, der Grundlagenforschung zukommen zu lassen. Beim Studium der Geschichte der Naturwissenschaften war Flexner aufgefallen, dass große Fortschritte von Forschern nicht erzielt worden waren, weil sie sich vorgenommen hatten, etwas Nützliches zu finden. Wissenschaft erwies sich im Gegenteil gerade dann als „beneficial to mankind“, als Wohltat für die Menschheit, wenn ihre Vertreter vor allem dem Verlangen nachgaben, ihre Neugierde zu befriedigen – „the desire to satisfy their curiosity“. Und das in Princeton gegründete Institut sollte ein „Paradies für Gelehrte“ bieten, in dem sie ungestört treiben konnten, was ihnen gefiel, weil sie – in Flexners Augen – gerade unter diesen Vorgaben ihr Bestes zustande bringen, das heißt, wenn ihnen Freiheiten der genannten Art eingeräumt werden.
Als Flexner seine Ansichten über die Nützlichkeit des nutzlosen Wissens zu Papier brachte, hatte er unter anderem das Lebenswerk des Schotten James Clerk Maxwell und des Deutschen Heinrich Hertz im Sinn, die beide über kuriose und von Anwendungen eher entfernte Zusammenhänge zwischen magnetischen und elektrischen Feldern nachgedacht haben und im Laufe ihrer wahrlich nutzlos wirkenden Arbeiten die Grundlagen für die Mittel der Kommunikation – etwa den Rundfunk – legen konnten, mit denen bald das Nachrichtenwesen der Welt aufgebaut wurde und Millionen zu verdienen waren, von den dazugehörigen Arbeitsplätzen und neuen Berufen mit allen gesellschaftlichen Konsequenzen ganz zu schweigen.
Bevor Maxwell und Hertz die elektrischen und magnetischen Felder verstehen und erzeugen konnten, hatte der Brite Michael Faraday erst entdecken müssen, dass es diese physikalisch wirksamen Energien überhaupt gibt, wobei ihn bei seinem Suchen allein die Neugierde antrieb, nachdem eher zufällig beobachtet worden war, dass ein elektrischer Strom eine Magnetnadel beeinflussen konnte, wenn er eingeschaltet wurde. Faraday sah sofort, dass sich dann auch umgekehrt mit einem bewegten Magnetfeld ein elektrischer Strom in Gang setzen lassen müsste, und er arbeitete Tag und Nacht, um diese elektromagnetische Induktion hinzubekommen und sein Symmetrieverlangen zu befriedigen. Als er den physikalischen Effekt endlich geeignet hinbekam und einem Politiker vorführte, fragte der hohe Herr eher gelangweilt, „Und was ist der Nutzen von dieser Spielerei?“ Faraday soll gelächelt und geantwortet haben: „Fragen Sie wirklich nach dem Nutzen eines Babys? Mit Hilfe meiner wissenschaftlichen Geburt kann man demnächst Haushalte mit Strom beliefern, und dann können Regierungen Steuern auf diese Dienstleistung erheben.“ Man könnte das eine westliche Weisheit nennen und sollte in wissenschaftsfernen Kreisen und meditativen Zirkeln den Physiker Faraday mindestens so hochschätzen wie den Philosophen Zhuangzi.
Flexners Institut in Princeton ist in den Jahren des Zweiten Weltkriegs durch sein bekanntestes Mitglied berühmt geworden, nämlich durch Albert Einstein, der in den 1930er Jahren Europa verlassen musste und in den USA eine neue Heimat finden konnte. Einstein, der sich selbst vor allem eine hartnäckige Neugierde als Gütesiegel attestierte, war am Ende des Ersten Weltkriegs durch seine kosmischen Theorien zu einem Popstar der Wissenschaft aufgestiegen und kurz danach mit dem Nobelpreis für Physik ausgezeichnet worden. Am Ende des Zweiten Weltkriegs tauchte sein Gesicht erneut auf den Titelblättern der politischen Magazine auf, weil die Amerikaner in den 1940er Jahren eine Atombombe gebaut und eingesetzt hatten, in der sich zeigte, dass Einsteins berühmte Formel E=MC2 den quantitativen Zusammenhang zwischen einer Masse M und der in ihr enthaltenen Energie E richtig erfasst hatte, wobei das Quadrat der Lichtgeschwindigkeit C andeuten kann, um welche Riesenmengen an Energie es selbst bei kleinen Massen geht. Und wenn das jetzt auch sehr nach militärischer oder politischer Nützlichkeit klingt – als Einstein die dramatische Äquivalenz zwischen Masse und Energie im Jahre 1905 (!) ableiten konnte – 40 Jahre vor Hiroshima –, da wollte er in seiner leidenschaftlichen Neugierde etwas ganz anderes wissen, nämlich wie die Trägheit eines Körpers – und damit seine Masse – von seinem Energiegehalt abhängig ist. Einstein leitete dabei die Formel M=E/C2 und nicht das Umgekehrte ab, und wenn die beiden Gleichungen auch mathematisch leicht ineinander umzuwandeln sind – als Einstein über seine Fragestellung nachdachte, schien es keine nutzlosere Beschäftigung zu geben als die, wissen zu wollen, was die Energie mit der Trägheit macht. Und als er seine heute weltberühmte Einsicht mit dramatischen Folgen für die Menschheit erstmals publizierte, musste er lange Zeit auf Resonanz warten. 1905 wusste man kaum etwas von Atomen, und wer damals von Kernenergie gesprochen und gar ihre Freisetzung erwogen hätte, wäre rasch auf seinen oder ihren Geisteszustand hin untersucht und in eine geschlossene Anstalt eingewiesen worden.
Es kommt bis in die Gegenwart vor, dass große Einsichten in der Wissenschaft als nutzlos und überflüssig abgetan werden, wenn sie erstmals zu hören sind, wobei hier als Beispiel ein Vortrag dienen soll, den der Schweizer Biochemiker Werner Arber am Ende der 1960er Jahre an einer amerikanischen Eliteuniversität gehalten hat und in dem er zum ersten Mal davon berichtete, dass einzelne Genstücke aus dem Erbgut einer Zelle herausgelöst und in Reagenzgläsern biochemisch untersucht werden konnten. Das heißt, Arber hatte den Weg zu dem gefunden, was heute als Gentechnik betrieben wird, aber erst einmal konnte er nur mitteilen, dass in Bakterien Gene zerschnitten werden können, und das schien vielen Kollegen nutzlos. Gene zerschneiden? Und was dann, wenn sie kaputt sind? Nutzloser konnte kaum etwas sein als die Genschnipsel die Arber präsentierte, bis in weiteren Experimente bemerkt wurde, dass an den abgetrennten Genstücken lose Enden auftraten, mit deren Hilfe das Zerschnittene neu zusammengesetzt werden konnten, und diese Form der genetischen Rekombination machte bald nicht nur wissenschaftlich, sondern erst recht politisch und gesellschaftlich ungeheuer viel Wirbel, wobei mit einem Mal überall Ethikfachleute auftauchten, die dem plötzlichen Nutzen des anfänglich Nutzlosen massiv die Risiken entgegen hielten, die das Hantieren mit dem Genmaterial ebenfalls mit sich bringen konnte. Übrigens: Was bislang eher folgenlos in philosophischen Seminaren diskutiert worden war, wurde nun in das Rampenlicht der öffentlichen Aufmerksamkeit gezerrt, um hier Fragen der Verantwortung in der Wissenschaft zu diskutieren – was insgesamt ein weiteres Beispiel dafür ist, dass Grundlagenforschung nicht nur in den Naturwissenschaften wie bei Flexner sondern auch in der Philosophie auf den Tag warten kann, an dem aus dem scheinbar Nutzlosen das Nützliche wird, mit dem man sich unerwarteten Problemen stellen und angemessen auf sie reagieren kann.
Apropos Reagieren: Zu den großen Einsichten der Physik, die Isaac Newton den Menschen bereits im späten 17. Jahrhundert geschenkt hat, gehört die einfache Formel „Actio gleich Reactio“, Kraft gleich Gegenkraft. Man spricht vom Dritten Newtonschen Gesetz (die ersten beiden werden hier nicht verraten), das von Wechselwirkungen handelt, die etwa beim Rückstoß einer abgefeuerten Pistole eine Rolle spielen und den Baron Münchhausen daran hindern, sich selbst am Schopf auf einem Sumpf zu ziehen. Zu jeder Wirkung gehört eine Gegenwirkung, und zu jeder Chance ein Risiko, wobei man auch sagen kann, dass es zu jeder Hauptwirkung eine Nebenwirkung gibt. Dies ist nicht nur medizinisch oder gesundheitlich gemeint, wenn es heißt, „Zu Nebenwirkungen und Risiken fragen Sie“ und so weiter. Dies ist vor allem für das Verständnis der Evolution von Bedeutung, die es vermag, etwas anfangs Nebensächliches zur Hauptsache zu machen – wobei ein einfaches Beispiel in den Knochen besteht, die Tiere erst bekommen haben, um auf Beinen laufen zu können. Als sich herausstellte, dass mit denselben Gebilden Bodenvibrationen wahrgenommen werden konnten, machte sich die Natur daran, die Knochen zu verkleinern und in den Kopf zu verlegen, wo sie als Ohrknöchelchen das Hören erlauben. Die Nebensache der Schallleitung ist dabei zur Hauptsache einer Sinnesqualität geworden, und wenn auch niemand die ersten Knochen in den Extremitäten als nutzlos bezeichnen würde, so haben sie doch anfänglich nichts zur Wahrnehmungsfähigkeit des Lebens beigetragen und ihren diesbezüglichen Nutzen erst später bekommen. Nichts ist nutzlos, man muss den Nutzen des Vorhandenen allerdings erst in jedem Fall ausfindig machen und kann nur sicher sein, dass sich einer finden lässt, wenn man lange genug wartet. Das Nutzlose ist die Quelle des Nützlichen, was es sinnlos erscheinen lässt, überhaupt irgendetwas als nutzlos zu bezeichnen. Eher scheint man dauernd auf der Suche der Nützlichkeit des Nutzlosens zu sein.
Gibt es überhaupt Nutzloses?
Die Weisen des Ostens erzählen in ihren Geschichten seit Jahrtausenden, dass auch das Nutzlose seinen Nutzen hat, und die Wissenschaft des Westens hat im Laufe ihrer Geschichte immer besser verstanden, dass es nutzloses Wissen kaum gibt und selbst Irrtümer ihren Nutzen aufweisen, weil sie korrigiert werden können und die Denkmöglichkeit offenhalten, es könne alles anders sein. Natürlich gibt es nutzlose Bemühungen – etwa den Versuch zu unternehmen, Nazis die Qualität von jüdischen Gelehrten oder die Bedeutung der Wissenschaft nahe zu bringen –, und manches Wissen wird sicher nutzlos verpuffen, wenn es zu spät vorliegt oder das Thema verfehlt. Aber so wie die Nutzlosigkeit des Baumes in der Geschichte von Zhuangzi auf jeden Fall für ihn selbst und vielleicht sogar für die ganze Welt von Nutzen ist, so ist jede scheinbar nutzlose Idee in der Wissenschaft wenigstens für ihren Urheber von Nutzen, weil sie ihm eine Befriedigung verschafft, wie man sie auch dem ungestört blühenden Baum zuweisen könnte, der doch – in den Worten des Weisen – nun „seine natürliche Lebenszeit auskosten“ kann. Mit anderen Worten, das Nutzlose ist nur scheinbar nutzlos. Es steckt voller Möglichkeiten, nützlich oder genutzt zu werden, nicht nur in Wissenschaft und Gesellschaft, sondern auch in jedem oder jeder Einzelnen. Das Nützliche kann nutzlos sein und das Nutzlose kann jederzeit nützlich werden, und während man das hinschreibt, kann man den Eindruck gewinnen, dass beide Konzepte sich zwar beim ersten Hören widersprechen, beim weiteren Nachdenken dann aber zusammenfinden. Das Nützliche und das Nutzlose sind vielleicht wie Yin und Yang in der chinesischen Philosophie oder wie das Prinzip der Komplementarität im westlichen Denken. Beide stehen in enger Beziehung zueinander, und Beziehung ist alles, wie nicht nur Alexander von Humboldt gemeint und geschrieben hat.
Das heißt, das chinesische Prinzip der polaren Gegensätze Yin und Yang – hell dunkel, weiblich männlich – gehört seit Jahrtausenden zur Tradition des östlichen Denkens, während die Idee der Komplementarität im Westen länger gebraucht hat, um sich bemerkbar zu machen. Es hat bis in das 20. Jahrhundert gedauert, bevor das abendländische Denken akzeptierte, dass zum Beispiel Licht nur komplementär zu fassen ist, also mit Ideen, die sich zwar auf den ersten Blick widersprechen, beim genauen Hinsehen aber zusammengehören. Licht ist Welle und Teilchen zugleich, und – wenn der große Sprung erlaubt ist – jeder Mensch ist zugleich ein spirituelles und ein körperliches Wesen. Komplementarität will sagen, dass es zu jedem Stück ein Gegenstück und zu jeder Actio und eine Reactio gibt, und so wie der Tag nicht ohne die Nacht denkbar ist, kann es das Nützliche nicht ohne das Nutzlose geben und umgekehrt.
Der Gedanke der Komplementarität meint, dass das Verständnis der Dinge wie die Elektrizität durch die Spannungen zwischen Polen zustande kommt, die sich im physikalischen Fall in der Steckdose und im philosophischen Kontext überall dort finden lassen, wo das Denken hinkommt. Es gibt immer zwei Gegenüber, die Welt und Ich, wir beide, und was nützlich oder nutzlos ist, findet sich im beiderseitigen Wechselspiel zwischen Welt und Ich. Alles bleibt in Bewegung wie der Baum, der wächst und mit den Blättern rauscht, wenn man ihm die Chance dazu lässt. Und während man ihm dabei zusieht, gewinnt man seinen eigenen Nutzen aus dem scheinbar nutzlosen Tun der menschlichen Natur, die sich als Neugierde zeigt. So ist das Leben und so treffen sich östliche Weisheit und westliche Wissenschaft. Beide Kulturen gehören zu der einen Menschheit, deren Leben zwar begrenzt ist, deren Wissen aber grenzenlos ist, wie im Buch der daoistischen Weisheit ebenso geschrieben steht wie etwa in den Schriften des Physikers Werner Heisenberg, der auf seinem Weg in das Innerste der Welt leibhaftig und persönlich die Erfahrung machen konnte, „die Fähigkeit des Menschen, zu verstehen, ist unbegrenzt“. Das ist das Wissen, das Menschen brauchen. Mit ihm suchen sie das Offene, und das Nutzlose sorgt dafür, dass dieses Streben möglich bleibt und die „Begrenzten Grenzenloses verfolgen“ können, wie es als eine daoistische Weisheit ausgedrückt wird. Menschen wissen, dass sie irgendwann im Leben dem Nützlichen begegnen. Es wartet doch auf sie.
Dir gefällt, was Ernst Peter Fischer schreibt?
Dann unterstütze Ernst Peter Fischer jetzt direkt: