Gibt es ein langweiligeres Thema, als „über Standards“ zu schreiben? Kaum. Nichtsdestotrotz lohnt es sich darüber nachzudenken, suggeriert doch die ubiquitäre Verwendung dieses Begriffs an den Finanzmärkten eine vermeintliche Sicherheit und Glaubwürdigkeit der Aussagen (Standardbewertung, Standardabweichung, Marktstandards etc.).

Sofern Du Dich für Währungsprognosen interessierst, hast Du wahrscheinlich schon oft solche – oder dem Sinn nach ähnliche – Sätze gelesen: Gemäss gängigen Standardmodellen ist die Währung X überbewertet oder die Währung Y handelt zwei Standardabweichungen unterhalb der Kaufkraftparität. Auch ich habe schon vergleichbare Ansichten vertreten, beispielsweise hier auf LinkedIn am 31. Juli 2019 als ich schrieb, dass das Pfund nach allen gängigen Bewertungsmassstäben bereits deutlich unterbewertet sei.

Nun ist das so eine Sache mit den „Standards“. Der Begriff steht ja für eine allgemein anerkannte Art und Weise, etwas herzustellen, anzuwenden und zu beurteilen. Das bekannteste Beispiel ist wohl die „International Organization for Standardization“ (weshalb sie unlogischerweise mit ISO abgekürzt wird, entzieht sich meiner Kenntnis – wahrscheinlich sind wieder die Engländer daran schuld), aber korrekterweise müsste man von Normierung sprechen, denn die ISO legt einheitliche Regeln für alles mögliche fest, von den Ländercodes über die Papierformate bis hin zum Qualitätsmanagement. Ausgesprochen interessant ist beispielsweise die ISO 1483 zur Linsensenk-Blechschraube mit Schlitz...

Wenn allerdings am Währungsmarkt von Standards gesprochen wird, kann man kaum von einem einheitlichen Ansatz ausgehen. Jeder Analyst benutzt seine eigenen Bewertungsmodelle, so hat die UBS ihr selbstkonzipiertes Kochrezept, genauso Goldman Sachs mit dem GSDEER oder Barclays mit dem BEER. Den optimalen Startpunkt für die Kaufkraftparität der beiden zu vergleichenden Währungen zu finden ist eine knifflige Angelegenheit. Hinzu kommt die Frage, mit welchen zusätzlichen Ingredienzien man die Kaufkraftparität amalgamiert: Produktivitätsunterschiede, Handelsbedingungen (terms of trade), Veränderungen der Konsumenten- oder Produzentenpreise und vieles mehr ergeben demzufolge unterschiedliche Resultate.

Um auf humorvolle Weise das Konzept der Kaufkraftparität zu erklären, hat der Economist vor über 30 Jahren den Big-Mac-Index kreiert, der den Preis eines weltweit erhältlichen „standardisierten“ Produktes vergleicht. Wenn ein homogenes Gut wie ein Big Mac in Kroatien umgerechnet 3.25 Franken (21 Kuna) kostet und in der Schweiz 6.50 Franken (wie üblich in der Feldforschung habe ich heute einen Selbstversuch durchgeführt und einen Big Mac gegessen – er schmeckte grauenhaft), dann müsste der Franken relativ zum Kuna doppelt überbewertet sein. Das ist logischerweise Blödsinn und war auch nie die Absicht des Economist, denn selbstverständlich müssen die unterschiedlichen Preise für Löhne, Rohstoffe und Ladenmieten berücksichtigt werden.

Die Vereinbarung eines „Standards“ folgt eher dem Ansatz des gesunden Menschenverstandes denn einer Norm. Das Problem ist, dass man davon ausgeht, die Bandbreite zwischen deutlicher Über- und Unterbewertung einschätzen zu können, auf der Annahme basierend, dass die Mehrheit der anderen Marktteilnehmer eine ähnliche Sichtweise hat und entsprechende Standardmodelle benutzt. Um die Schwierigkeit eines Standards im Bereich der Unschärfe zu illustrieren, drängt sich der Vergleich mit etwas gleichsam Schwammigem aus anderen Bereichen auf: Beispielsweise die freie Meinungsäusserung, die politische Korrektheit – und damit die Rolle der Medien. Genauso funktioniert die Meinungsmache an den Finanzmärkten mit den Kommentaren von prominenten Marktteilnehmern, Zentralbankern, Analysten und den medialen Transportmitteln wie Bloomberg und Reuters.

Ich wage zu behaupten, dass jeder Leser dieser Zeilen eine Vorstellung des Spielraumes hat, in dem sich Bemerkungen und Einschätzungen noch als akzeptabel erweisen und von einer breiten Mehrheit goutiert werden. Um die Analogie zum Standard der Währungsbewertung zu illustrieren macht es Sinn, die Dimensionen der freiern Meinungsäusserung anhand eines simplen Modells darzustellen, das jeder kennt: Das kartesische Koordinatensystem. Wir Menschen mögen ja Modelle, um in unserer Orientierungslosigkeit irgendwo Halt zu finden.

Die zwei typischen Dimensionen, über die man bezüglich freier Meinungsäusserung und deren Grenzen diskutieren kann, sind einerseits politischer Natur, andererseits sexistische Themen. Es gibt gute Gründe, die These zu vertreten, dass jeder alles sagen darf, denn durch allzu abstruse Behauptungen oder primitive Äusserungen diskreditiert sich derjenige ja selbst. Aber in unserer Gesellschaft hat sich ein Konsens gebildet, dass ab einem gewissen Punkt das Zulässige erreicht ist und sanktioniert wird – nur: Wo ist dieser Punkt? Was ist der Standard? Wer definiert die Grenzen? In übertragenem Sinn wäre das dort, wo Marktteilnehmer bewusst falsche Behauptungen aufstellen, Gerüchte in die Welt setzen und Statistiken absichtlich verfälschen.

Bei der ersten Dimension – der politischen Meinungsfreiheit – geht es um Aspekte wie Rassismus, Extremismus, Chauvinismus und Patriotismus. Die Verteilung, beziehungsweise das Setzen der Grenzlinien, für das was von politisch links bis rechts noch als angemessen betrachtet wird, wäre aus optischer Überlegung die Abszisse im Koordinatensystem opportun. Die zweite Dimension – das Tolerierbare bezüglich Sexismus – beinhaltet geschlechtergerechte Sprache, Feminismus, Anzüglichkeiten und Beleidigungen. Die Ausdehnung dieser Dimension mit seiner Limitierung des Akzeptablen zwischen primitiv und sexistisch wäre demnach die Ordinate. Damit hätten wir die vier Quadranten. Alles was sich in der Nähe des Koordinatenursprungs befindet ist ausgewogen und politisch korrekt (ein Währungspaar also nahe bei der Kaufkraftparität bzw. die Berichterstattung fair und ausgewogen), alles was sich auf der Abszisse und der Ordinate jenseits des Punktes befindet, den der gesellschaftliche Konsens setzt und im Streitfall von Richtern verurteilt wird, gilt als illegitim (die Währungsanalysen unwahr oder übertrieben einseitig).

Ich denke, die Schnittmenge von dem, was die meisten von uns innerhalb der Eingrenzung von Abszisse und Ordinate – und als Kombination in den vier Quadranten – tolerieren würden, ist relativ gross. Typischerweise stehen sich zwei gegensätzliche Gruppen gegenüber, die gegenteilige Ansichten vertreten, sich aber von ihrer Argumentation nicht abbringen lassen. So machte sich beispielsweise letzte Woche der Comedian Dieter Nuhr über die preisgekrönte Moralistin Greta Thunberg lustig – sie erhält ja den Alternativen Nobelpreis – („Ich bin gespannt, was Greta macht, wenn es kalt wird, heizen kann es ja wohl nicht sein“) und erntete für seine Sprüche viele Lacher von der Gruppe, die seinen Humor teilt, von der ökologischen Fundamentalfraktion dagegen hagelte es reihenweise Kritik („geschmacklos“, „keine Satire mehr“). Diese Konstellation ist an den Währungsmärkten oft zu beobachten mit Teilnehmern, die immer positiv oder negativ für eine bestimmt Währung eingestellt sind und selten bis nie ihre Meinung ändern, ungeachtet der Tatsache ob sie nach „gängigen Standards“ hoch oder tief bewertet ist.

Egal wo man ökologisch steht, aber wohl weder Nuhrs plumpe Satire noch Thunbergs ermüdende Belehrungen sind in der Nähe der Grenzverletzung. Wenn wir uns in Richtung Limite beziehungsweise deren Überschreitung bewegen, fällt auf, dass der Fokus fast immer auf der rechten Seite des Spektrums liegt. Ein aktuelles Beispiel: Nachdem der britische Premierminister Boris Johnson neulich 21 Tory-Mitglieder exkommuniziert hatte, weil sie im Unterhaus nicht geschlossen hinter seiner Strategie standen, beklagte sich eine der betroffenen Politikerinnen – die Tory-Abgeordnete Anna Soubry – im Interview mit dem Magazin Der Spiegel: „Die Säuberungsaktion gegen moderate Tories ist etwas, worüber selbst Josef Stalin überrascht gewesen wäre.“ Ist diese Aussage noch innerhalb des gesellschaftlichen Konsens? Es scheint so. Es gab weder Einwände mittels Leserbriefen noch wurde diese Aussage in einem anderen Medium kritisch aufgegriffen. Dennoch ist der Vergleich hanebüchen. Durch Stalins Säuberungsaktion kamen rund 20 Millionen Menschen zu Tode, während aufgrund Johnsons „Säuberungsaktion“ 21 Tory-Mitglieder ihren Sitz im Parlament verloren. Stalins Massenmord wurde nur noch durch den chinesischen Diktator Mao Zedong übertroffen, der mit seinem „Grossen Sprung“ 45 Millionen Menschen in den Tod schickte. Wäre ich nicht so ein gelassener Zeitgenosse, würde ich mich über Soubrys Aussage aufregen. Stellen wir uns einmal vor, Björn Höcke, der Fraktionsvorsitzende der AfD im Thüringer Landtag, würde – ich betone: würde – auf eine Handlung der Grossen Koalition sagen: Da wäre selbst Adolf Hitler überrascht gewesen. Der Sturm der Entrüstung würde keine Minute auf sich warten lassen. Im Umkehrschluss zu Soubrys hornochsiger Analogie könnte man demzufolge behaupten, dass Hitler im Vergleich zu Stalin und Mao ein Waisenknabe war, denn er hatte „nur“ 6 Millionen Juden, Behinderte und Homosexuelle umbringen lassen. Was lernen wir daraus? Die Standardabweichung – auch so ein schönes Wort – ist ein hübsches statistisches Modell, aber im Bereich der Unschärfe, sei es die Toleranz bei linken und rechten politischen Äusserungen oder bei bullischen und bearischen Analysen am Währungsmarkt, ist die Verteilung sehr oft einseitig ausgeprägt.

Man könnte dies als Einzelbeispiel abtun, aber in den vergangenen sechs Monaten habe ich verschiedene Qualitätsmedien (NZZ, Süddeutsche, FAZ, Spiegel, Guardian und BBC) zu diesem Thema aufmerksam verfolgt und der Befund ist diesbezüglich eindeutig: Die Toleranz auf der linken Seite ist bedeutend grösser als auf der rechten (wer zu einer anderen Feststellung gekommen ist, darf dies gerne in der Kommentarspalte begründen). So wird jedem überzogenen Kommentar des SVP-Nationalrates und Verbal-Haudegens Andreas Glarner sofort mit Entrüstung begegnet. Man erinnere sich an Glarners Facebook-Post gegen die Lehrerin, die muslimischen Schülern für den Bayram einen Jokertag zugestand. Glarner lag in seiner Einschätzung falsch – was er nachträglich auch einräumte –, aber sein Kommentar „vielleicht möchte jemand der Lehrerin mitteilen, was man davon hält“ erscheint geradezu lächerlich zum vorhin erwähnten Stalin-Vergleich von Soubry.

Nun kommen wir zur freien Meinungsäusserung bezüglich Sexismus und Beleidigungen. Diesbezüglich gibt es ja eine endlose Anzahl an Beispielen, deshalb ein Fall, der in den vergangenen Wochen einiges Aufsehen erregt hat und sich für meine Ausführungen bestens eignet: Die Klage der Bundestagsabgeordneten Renate Künast gegen 22 Facebook-Nutzer. Diese Auseinandersetzung ist deshalb prädestiniert, da Aktion und Reaktion vorkommen, dazu eine bekannte Politikerin sowie diverse Verbalinjurien und das Urteil eines Landesgerichts. Spannend ist schon der dramaturgische Aufbau der Geschichte. Aufgrund eines uralten Zwischenrufs von Künast im Jahr 1986 im Berliner Abgeordnetenhaus im Rahmen einer Pädophilie-Debatte legte Sven Liebich – ein politischer Aktivist und Satiriker – ihr im vergangenen März ein Zitat in den Mund, das eine unterstützende Haltung zur Entkriminalisierung des Geschlechtsverkehrs mit Kindern ausdrückte und postete es auf Facebook. Die Invektiven auf Facebook liessen natürlich nicht lange auf sich warten, gegen dessen 22 Nutzer Künast vor dem Landesgericht Berlin klagte. Die FAZ und die Berliner Morgenpost listeten die Corpora Delicti fein säuberlich auf: „Drecksfotze“, „Geisteskranke“, „Stück Scheisse“, „Sondermüll“, „die Fresse polieren“, „Pädophilen-Trulla“, „altes grünes Dreckschwein“, „knattere sie doch mal so richtig durch, bis sie wieder normal wird“ und die abschliessend rhetorische Frage lautete „wurde diese ‚Dame’ vielleicht als Kind ein wenig viel gefickt und hat dabei etwas von ihrem Verstand eingebüsst?“.

Bereits mit einem Minimum an Vorstellungskraft sieht man die 22 Facebook-Nutzer direkt vor sich, wie sie wahlweise mit Schaum vor dem Mund oder johlend und schenkelklopfend ihre Geistesblitze in die Tasten hauen. Nun kann man durchaus über die literarische Qualität dieser Zeilen debattieren – es soll ja Menschen geben, die sich an solchen Ergüssen delektieren –, aber die Landesrichter amteten nicht als Juroren an der Frankfurter Buchmesse, sondern als dritte Staatsgewalt in Berlin, um über Recht und Unrecht zu befinden. Und was sagen die Landesrichter zur Causa? Sie ordneten die Schmähungen als „zulässige Meinungsäusserung“ ein, denn die „mit dem Stilmittel der Polemik geäusserte Kritik“ sei „überspitzt, aber nicht unzulässig“ (Aktenzeichen 27 AR 17/19). Sehr schön ist dieser Satz in der Begründung des Gerichts: „Der Kommentar ‚Drecksfotze’ bewegt sich haarscharf an der Grenze des von der Antragstellerin noch Hinnehmbaren.“ Für mich als juristischen Laien und gerade mit Gedanken zu Standards beschäftigt ist es wahrlich beeindruckend, dass man diesbezüglich eine „haarscharfe Grenze“ ziehen kann. Wie auch immer, das Landgericht stellte klar, dass die entsprechenden Kommentare „keine Diffamierung der Person der Antragstellerin und damit keine Beleidigung“ darstellen. Die Auffassung der Richter scheint zu sein, dass Künast – da es nun einmal um das Thema Sex gegangen ist –, sich nun ebenfalls auf sexueller Basis beleidigen lassen müsse. Damit sind wir also wieder zurück bei den biblischen Gesetzen: Auge um Auge, Zahn um Zahn. In Anlehnung an das letzte Album der deutsche Band Deichkind könnte man fragen: Niveau, weshalb, warum?

Ein nicht zu vernachlässigendes Detail ist, dass die Richter dieses Urteil „im Namen des Volkes“ gesprochen haben. Ich weiss nicht wie es Dir geht, aber ich finde die Interpretation des Spielraumes einigermassen überraschend und es zeigt, wie schwammig unsere Vorstellung des „Standards“ ist. Ebenso können nicht nur Bewertungsmodelle für Währungen je nach Gutdünken zurechtgebogen werden, sondern ist auch der Freiraum auf diesen Portalen wie Zerohedge, FCF, Forexlive und wie sie alle heissen ebenfalls relativ gross. Viele Einschätzungen und Behauptungen sind – euphemistisch gesagt – ziemlich abenteuerlich. Kommentare wie „Institutionelle haben in der letzten Woche Gewinne auf ihren Yen-Positionen genommen“ (Forexlive, 4. Oktober) ohne irgendeine Quellenangabe sind gang und gäbe. Oder Patrick Zweifel, der Chefökonom von Pictet Asset Management, behauptete, dass der Franken „unterbewertet“ sei (CNN Money Switzerland am 7. Juni 2019). Als Begründung für seine bemerkenswerte Schlussfolgerung lieferte er einfach ein paar Punkte, die seine These unterstützen (relative Produktivität, die Schweiz als Netto-Gläubiger). Damit befindet er sich diametral entgegengesetzt zur Einschätzung der SNB, die regelmässig insistiert, der Franken sei „deutlich überbewertet“. Nun stellt sich die Frage, wer hier Dieter Nuhr und wer Greta Thunberg ist, doch dürfte es in diesem Fall mit dem stets sehr ernst dreinblickenden SNB-Präsidenten Thomas Jordan relativ klar sein. Solche Beispiele liessen sich endlos fortsetzen. Seien wir ehrlich: Ähnlich wie bei der Meinungsfreiheit gibt es weder für Währungskommentare noch für Bewertungsmodelle verbindlichen Standards und nicht einmal Richter. Jeder kann behaupten, was er will. Ich rate deshalb jedem, der sich im Währungshandel engagiert, anhand qualitativ hochwertigen Informationssystemen wie Bloomberg oder Reuters sich selbst ein Bild zu machen und nicht diesen unzähligen Plattformen, die irgend etwas schreiben können, Glauben zu schenken.