Das Richtige tun, selbst wenn es keinen Vorteil oder sogar Nachteile bringt: Das ist viel verlangt. Aber es kann sich über Generationen hinweg auszahlen, sich um größtmögliche Integrität zu bemühen.


Versuchung

“Gelegenheit macht Diebe” lautet eine verbreitete Weisheit - und sie enthält einiges an Wahrheit:

Auf einsamen Landstraßen im Wald beschleunigen viele Autofahrer weit über die erlaubte Höchstgeschwindigkeit.
Aber das Schild “Radarkontrolle” an der Autobahn bringt nahezu alle Autofahrer schlagartig dazu, die Geschwindigkeitsbegrenzung einzuhalten.

Wer eine Geldbörse samt Bargeld findet, kommt womöglich in Versuchung, mindestens das Bargeld zu behalten.
Bemerkt derjenige aber im nächsten Moment Polizisten, die ihn beim Aufheben beobachtet haben, dürfte sich an dem inneren Streitgespräch einiges ändern. [1]

Kurzum: Situationen, in denen der Handelnde keine Strafe befürchtet - beispielsweise, weil es vermeintlich unwahrscheinlich ist, erwischt zu werden - verführen zu unmoralischem oder sogar kriminellem Verhalten.

Ist es dagegen sehr wahrscheinlich, beim Fehlverhalten ertappt zu werden, kommt kaum noch jemand auf die Idee, gegen die jeweiligen Regeln zu verstoßen.


Was ist Integrität?

Dafür, dass Integrität so ein zentrales Element des menschlichen Idealzustandes zu sein scheint, ist der Begriff erstaunlich schwer zu fassen.

Unter allen Konzepten, die ich für mich selbst - und damit auch in Schriftform für andere Interessierte - erkunden und durchdringen möchte, steht Integrität sehr weit oben auf der Liste.

Bis ich dafür Zeit gefunden habe, muss es eine Definition von Wikipedia tun:

“Integrität ist die fortwährend aufrechterhaltene Übereinstimmung des persönlichen Wertesystems und der persönlichen Ideale mit dem eigenen Reden und Handeln. […]
Ein integrer Mensch lebt und handelt in dem Bewusstsein, dass sich seine persönlichen Überzeugungen, Maßstäbe und Wertvorstellungen in seinem Verhalten ausdrücken.”

Einfach ausgedrückt:
Integrität bedeutet, sich richtig zu verhalten, selbst wenn es niemand mitbekommt; selbst wenn es keinerlei Belohnung verspricht oder gar ein Opfer erfordert.

Das bedeutet: Jede Gelegenheit, zum sprichwörtlichen Dieb zu werden, ist auch eine Chance, nicht zum Dieb zu werden - und womöglich zu einem Alltags-Held.

Möchte man sich selbst für einen integren Menschen halten (und wer möchte das nicht?), zählen demnach gerade die Momente, in denen der innere homo oeconomicus zu einem Verhalten rät, das man eigentlich für falsch hält.

Das kann viel verlangt sein. Nicht umsonst sind Momente der Integrität häufig ein Höhepunkt in Filmen und Büchern: Wenn der Protagonist entgegen aller Erwartungen und trotz drohender Nachteile das moralisch Richtige tut - und dadurch andere dazu inspiriert, über sich hinaus zu wachsen.

Der innere Gelegenheitsdieb ist schnell zur Stelle. Aber Integrität ist ein Merkmal der eigenen Identität - und in der muss man sich immer wieder selbst bestätigen.

Selbst wenn man der Versuchung mal nachgibt, kommt die nächste Gelegenheit, das Richtige zu tun, mit Sicherheit. [2]


Im Jahr 2010 gab ein Mitarbeiter der Deutschen Bahn auf dem Polizeirevier, auf dem ich zu dieser Zeit mein Praktikum absolvierte, einen aufgefundenen Briefumschlag mit über 25.000 Euro Bargeld ab.

Kann es ein, dass er einen Briefumschlag mit 40.000 Euro gefunden hatte? Klar.
Aber er hat trotzdem genug Bargeld für einen neuen Kleinwagen abgegeben, das er womöglich völlig ungestraft hätte behalten können.

In jedem Fall hat er durch einen Akt der Rechtschaffenheit geschafft, über 10 Jahre später noch als herausragendes Beispiel für integres Verhalten im Kopf eines jungen Polizisten, Vaters, Ehemanns und Bloggers herumzuschwirren.

Dieser wiederum bemüht sich, Integrität für sich selbst zu ergründen, an seine Kinder weiterzugeben, seinen Kollegen vorzuleben und seinen Lesern näher zu bringen.

In welche Richtung möchtest du deine Mitmenschen inspirieren:
Gelegenheits-Held oder Gelegenheits-Dieb?


[1] Die herrschende juristische Meinung zur sogenannten “Fundunterschlagung” lautet, dass ein Finder ab einem Wert von 10 Euro davon ausgehen muss, dass der rechtmäßige Eigentümer sein Eigentum nicht aufgegeben hat, und zur Mitteilung bzw. Rückgabe verpflichtet ist. Wer also beispielsweise Bargeld, ein Handy oder ein Portemonnaie in der Bahn findet und behält, macht sich strafbar.

[2] Ryan Holiday, einer der bekanntesten Vertreter eines modernen Stoizismus, legt an sein eigenes wertegeleitetes Handeln den Maßstab die schwer zu übersetzende Phrase “more often than not” an: Er möchte in der Mehrzahl der Fälle das tun, was seinen Wertevorstellungen entspricht. Ich halte das für eine sehr brauchbare Daumenregel.


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