Manchmal taucht eher zart die Frage auf, was der digitale Overkill in Bildung und Ökonomie mit Ethik zu tun hat, oder unser fatales Konsumverhalten und all die anderen Buzzwords, die unser schlechtes Gewissen triggern. Kann Ethik da helfen? Und wenn ja wie?
Ich bin von Haus aus Ethiker. Mich interessiert schon immer, was ein gutes Leben ist und wie ich es verwirklichen kann. Wie wir das können, als Angehörige einer Gemeinschaft, für die wir Verantwortung tragen. Was ist wann ein gutes Leben? Wodurch? Für wen? Und wer entscheidet das?
Wenn ich annehme, dass es das gute Leben tatsächlich gibt, dann nehme ich damit auch an, dass es das für mehr als einen Menschen gleichzeitig gibt. Ich merke recht schnell, dass sich unsere Vorstellungen von einem guten Leben ein wenig bis ganz voneinander unterscheiden (können). Bereits innerhalb derselben Familie, Wohngemeinschaft, oder am selben Bahnsteig gegenüber.
Das gute Leben: total beliebig?
Tun wir also gut daran, die Frage nach dem guten Leben der Beliebigkeit zu überlassen? Ist diese Frage womöglich gar nicht zu entscheiden? Oder helfen womöglich Regeln weiter?
Von Geboten, Normen und Regeln haben wir ja mittlerweile mehr als genug. Ihre Wirksamkeit wird angesichts des „digitalen Kontrollverlusts“ sogar in Frage gestellt. Wer sie einhält oder nicht, das entzieht sich immer mehr der Überprüfbarkeit. Und heute gelten womöglich andere Regeln als morgen: „It’s VUCA time, folks!“ Das Misstrauen in Regulierung ist so groß wie der Ruf nach ihr. Die einen wollen immer mehr davon, damit das Leben besser wird, andere fordern deren Abbau mit demselben Ziel. Also ist doch „jeder seines Glückes Schmied“?
Ich vermute, dass wir tatsächlich keine Einigkeit (mehr) darüber hinkriegen, was ein gutes Leben ist. Trotzdem sollten wir uns zusammensetzen und die Frage gemeinsam erörtern. Wieso? Weil wir dann, wenn uns so ein Gespräch wirklich gelingt, etwas vom „guten Leben“ praktizieren. Menschen, die einander wohlgesonnen zuhören, die sich und ihren Vorstellungen von einem guten Leben gegenseitig Raum geben und Respekt zeigen, verwirklichen es damit bereits. Wie komme ich darauf?
Wenn wir auf eine bestimmte Weise unsere Vorstellungen vom guten Leben teilen, dann fangen wir damit an, unseren Lebensraum anders zu teilen als bisher. Wenn wir ein Gespräch darüber führen, wie für möglichst viele ein gutes Leben in ihrem Sinn möglich wird, dann machen wir uns den Lebensraum nicht gegenseitig streitig und kämpfen nicht um die besten Plätze. Wir nutzen diesen Raum dann um zu klären, wie wir ihn am besten gestalten – so, dass er für alle „reicht“ und lebenswert ist.
Womöglich steht das gute Leben dann nicht mehr als große Idee am Anfang seiner Verwirklichung. Womöglich ist es auch nicht das Ergebnis eines langwierigen Prozesses. Womöglich entsteht es durch eine bestimmte Art und Weise, wie wir miteinander umgehen und sprechen. Schwer genug.
Doch wir stechen uns dann nicht mehr länger gegenseitig aus mit konkurrierenden Vorstellungen vom guten Leben. Wir praktizieren es, indem wir ein Gespräch darüber am Laufen halten. Damit das funktioniert, richten wir unser Gespräch nach einer Maxime aus, die als „Goldene Regel“ bekannt ist. Mit dem kleinen Unterschied dass wir sie nicht als Erwartung an andere formulieren, sondern an uns selbst – ganz im Sinne einer Selbstverpflichtung.
Ich behandle andere so, wie ich von ihnen behandelt werden will.
Beziehungsweise: Was ich mir um Umgang mit andern verbitte, versage ich mir selber im Umgang mit ihnen.
Das klappt doch nie in dieser Ego-Welt!
Das klappt nie, oder? Keine Ahnung. Wissen werden wir das erst am Ende dieses Gesprächs. Nicht an seinem Anfang und schon gar nicht, bevor wir es begonnen haben. Ob es funktioniert, erfahren wir nur, indem wir es ausprobieren. Indem wir einmal mehr nicht abbrechen, als wir gerne abbrechen würden.
Wir müssen ja niemanden dazu verpflichten. Einladen geht auch. Und bei Einladungen entscheiden meistens drei Faktoren darüber, ob wir sie annehmen. Erstens, wer auch noch da ist. Also machen wir die Liste so attraktiv wie möglich. Zweitens, wie einladend das Ganze ist. Also „Menschlichkeit statt Moral“. Drittens, was es zu essen gibt. Also decken wir einen Tisch!
Beginnen würde ich das Gespräch über ein gutes Leben mit einer Selbstaussage: Wir erzählen einander, was wir uns unter einem guten Leben vorstellen und was wir schon alles unternommen haben, um ihm ein Stück näher zu kommen. Ich garantiere euch: Die Geschichten, die dann erzählt werden, hauen uns vom Hocker! Und wir hören sie uns an. Aufmerksam, empathisch, ganz Ohr.
Welchen Sinn ergibt das?
Wir helfen uns gegenseitig in einem solchen Gespräch dabei, die eigenen Vorstellungen vom guten Leben zu schärfen, zu vertiefen und immer besser zu verstehen. Unaufdringlich und ohne zu urteilen. Wir helfen anderen, bei sich selbst anzukommen. Das ist eine Idee, die auch den Philosophen Emmanuel Lévinas umgetrieben hat.
Corinne Pellouchon, auch Philosophin, denkt mit Lévinas „über die ethische Notwendigkeit nach, die Andersartigkeit neu zu entdecken und wertzuschätzen. Ich meine wie er, dass die Erfahrung der eigenen Verwundbarkeit für die Wertschätzung des anderen bestimmend ist: Sie ist die einzige Gelegenheit, die wir haben, das Leiden anderer zu verstehen und uns für sie verantwortlich zu wissen.“ (Quelle)
Das klingt womöglich wuchtiger, als es ist. Ich sehe es einfach als einen Dialog der neuen Art. Einer, den womöglich immer mehr Menschen gerne führen, weil sie durch andere Anwesende erfahren, dass es um sie geht und um ihre Sehnsucht nach einem guten Leben. Eingeladen zu diesem Gespräch sind alle. Denn wir sollten möglichst viele Dimensionen eines gutes Lebens hörbar machen, aus möglichst vielen Perspektiven und Disziplinen.
Die Digitalisierung kann dabei aus technologischer Sicht eine große Hilfe sein. Sie ermöglicht uns, räumliche und zeitliche Distanz auszuschalten: über innere und äußere Kontinente und über Zeitzonen hinweg ins Gespräch zu kommen und im Gespräch zu bleiben.
Und wie lernen wir das?
Zuerst: Unsere eigene Idee und Vorstellung eines guten Lebens zu artikulieren, ist uns Menschen in die Wiege gelegt, denn nichts anderes ist die Triebfeder unseres Lebens. Das gute Leben ist über alle Ebenen unseres Daseins hinweg unsere große Sehnsucht: Kunst und Konsum sind ebenso Ausdruck dieser Sehnsucht wie Wissenschaft und Forschung.
Warum diese Vorbemerkung? Weil wir immer dann, wenn wir vom Lernen sprechen, davon ausgehen, dass wir am Ende des Lernens etwas können, das wir vorher noch nicht konnten. Ich gehe jedoch davon aus, dass es ein paar Sachen gibt, die wir als Menschen ganz grundsätzlich können, die wir jedoch gerade in bestimmten Lernumgebungen wieder verlernen. Das Zuhören zum Beispiel. Niemand hört intensiver hin und zu als Kinder. Niemand sieht genauer hin, untersucht hartnäckiger, geht den Dingen ernsthafter auf den Grund als Kinder. Das verlernen sie jedoch in Lernumgebungen, die das verkümmern lassen bzw. die es instrumentalisieren.
Was ich sagen will: Alles was ein Mensch braucht, um seine Frage nach dem guten Leben immer reichhaltiger und bunter zu beantworten, sind andere Menschen, die sich für diese Antworten interessieren. Dafür, was für dieses Kind, für jenen Jugendlichen, für welches konkrete Gegenüber auch immer, mit dem ich in einen Dialog verwickelt bin, ein gutes Leben ist. Dies immer angemessener zu artikulieren und zu verwirklichen, setzt das offene und interessierte Ohr voraus. Fertig.
Selbstverständlich sind in diesem Gespräch auch Fragen erlaubt. Nichts lädt mich mehr ein, über mein Innerstes zu erzählen, als eine Frage, die signalisiert: Ich bin an deiner Geschichte interessiert.
Jede Zuwendung, die als Bekehrung verstanden werden könnte, ist Misshandlung. (Martin Walser)
Nicht schlecht wäre also eine Art von Bildungsethik, die ihre Wurzel in der Frage nach dem guten Leben hat und von hier aus fragt, was dann gute Bildung ist – und zwar indem sie das schützt und ermöglicht, was in jedem Menschen nicht nur der Möglichkeit nach angelegt ist, sondern sich vom ersten Atemzug an verwirklicht: Die Frage nach dem guten Leben.
In Zeiten der digitalen Totaltransparenz fällt es womöglich schwer, eine Aufmerksamkeit, die sich ganz auf mich ausrichtet, als etwas Positives zu erleben. Zu stark ist der Reflex geworden, sich gegen Aufmerksamkeitsübergriffe zu schützen – und oft ist dieser Reflex wichtig. Zu wuchtig wird vielleicht auch die damit einhergehende Einladung erlebt, mich zu öffnen.
Kein Problem. Fangen wir doch deshalb einfach mal damit an, einander zu erzählen, was für uns ein gutes Leben ist.
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