Eine kleine Twitter-Vorlesung von Prof. Dr. Hedwig Richter.

Bei der US-Wahl werden weiter die Stimmen ausgezählt. Es gibt eine gut dokumentierte Historie zu diesem Prozess:

In der großen Reformzeit um 1900 wurde die Ermittlung des Wahlergebnisses zu einer Demonstration moderner Zeiten und nationaler Potenz.
(Es sollte nicht mehr so ablaufen wie hier in South Carolina 1826):

Image

Bis in die 2. Hälfte des 19. Jhs konnte sich das Auszählen über mehrere Tage hinziehen. 1849 hatte der Magistrat von Berlin drei Tage nach den Wahlen von den 626 Wahlbezirken 155 ermittelt. Bei den amerikanischen Präsidentschaftswahlen von 1848 dauerte die Auszählung eine Woche. Dann kam die Telegraphie. Da sich die Wahlergebnisse in Zahlen fassen ließen, erwiesen sie sich als ideale Nachricht für den Zeitungsmarkt. Der stellte seine Meldungen wegen der Telegraphie auf Telegrammstil um– news statt views (wie die Kommunikationswissenschaft das beschreibt)

Image

Überhaupt: Um 1900 steckten Reformer in Industrieländern viel Energie in die Wahltechnik, um sie rationaler, gleicher, geheimer, fairer zu machen. Auch die Auszählung sollte diszipliniert ablaufen, ohne Gewalt, mit klaren Regeln, transparent - und schnell!
("Wahrer Jacob“, 1889)

Image

Die Bevölkerung wurde mit steigendem Interesse an den Wahlen (und mit der Massenpolitisierung im letzten Drittel des 19. Jhs) immer gieriger, die Wahlergebnisse schnell zu erhalten.
(Leibl, 1877, „Die Dorfpolitiker“)

Image

In Deutschland half die geordnete Bürokratie, und die Wahlprotokolle mahnten die Vorsitzenden, „SOFORT NACH ABGEHALTENER WAHL“ das Wahlresultat weiterzuleiten.
Das funktionierte relativ gut.
den USA boten private Unternehmen, was die Bürokratie nicht konnte:
(Wahlen, Dtld. 1883)

Image

Associated Press teilte an alle Wahlhelfer Formulare zum Eintragen der Ergebnisse aus. Die Formulare wurden nach der Auszählung weitergeleitet. Telegraphie-Firmen stellten ihre Technik AP zur Verfügung - und am Morgen nach den Wahlen standen die Wahlergebnisse in den Zeitungen.

Image

In den Industrieländern wurde das gemeinsame Warten auf Wahlergebnisse zunehmend zum Event.
(Reichstagswahlen, Auszählen der Stimmen, 1912)

Image

1904 lagen einem Zeitungsherausgeber aus Buffalo (New York) 45 Minuten nach Wahlschluss alle Wahlresultate der Stadt vor, und 62 Minuten nach Schließung der Wahllokale brachte er eine Sonderausgabe seiner Zeitung mit sämtlichen Wahlergebnissen auf den Markt. Aber: In den USA blieb die Ermittlung oft ineffizient. Immer wieder kam es in bei nächtlichen Auszählung zu Gewalt, Fälschungen & Drohungen. „Throw the damned box away, it [is] no use to count it“, riefen Schläger, als sie kurz nach 12pm eine Auszählung stürmten.
Bild: Phil. 1869

Image

1905 waren die Straßen am Tag nach der Wahl zum Bürgermeisteramt rund um das „Election Bureau“ auf Manhattan von Kutschen blockiert, in denen die 6.000 Wahlurnen auf richterliche Anordnung zum erneuten Auszählen angefahren kamen.

Image

Grundsätzlich aber diente die schnelle Ergebnisermittlung als Demonstration der Moderne.
„Am Abend des Wahltages vor einer Druckerei“, Berlin, Illustrirte Zeitung, 19.11.1881; rechts: eine Epoche später: New York 1918, öffentliche Radioübermittlung und der Abenddämmerung.

Und auch in Deutschland spielten die Geschäftsinteressen der Medien zunehmend eine Rolle. Hier Public Viewing vor dem Ullstein-Haus in Berlin (mein Liebling dieser Geschichte, @tgrdebate mag es auch), 1907. Ca 15.000 Menschen erwarteten hier mit Spannung die Nachrichten und „brachen in stürmische Hochrufe aus, wenn die Wahl eines populären Kandidaten […] verkündet wurde“. Die „aufgeregte Menge, das Heranrasen der Automobile, das Ausschwärmen der Boten mit den in hunderttausenden Exemplaren verbreiteten Extrablättern“
(Public Viewing, Berlin, 1907).

Image

Literatur:
* Transnational election reform around 1900,
* Demokratie. Eine deutsche Affäre.,
* Moderne Wahlen. Eine Geschichte der Demokratie in Preußen und den USA im 19. Jahrhundert.

Moderne Wahlen
Diese Historiographie des Wahlrechts und der Wahlpraxis von Hedwig Richter beschreibt die Geschichte der Demokratie anhand von Wahlen.