Eine Kampfansage ans schlechte Gewissen

„Schuldig!“ Das hört wohl niemand gerne, wenn’s gegen die eigene Person gerichtet ist. Und trotzdem: Leider „oft genug“ ist exakt diese Wortwahl ein schwerwiegender Bestandteil von inneren Dialogen und äußeren Konflikten.

In meinem privaten wie beruflichen Umfeld erlebe ich immer wieder, dass eigentlich neutrale Aussagen mit Worten wie „Verzeihung ...“ oder „Entschuldigen Sie bitte ...“ eingeleitet werden. Warum ist das so? Muss das sein – und auch so bleiben? Dazu findet man Antworten im Mittelalter und Projektmanagement, bei John Lennon und den Sopranos.

Vererbt oder gelernt?

Was genau ist Schuld überhaupt? „Schulden, Verbindlichkeiten. Schuldgefühl (Psychologie), bewusste oder unbewusste Überzeugung, etwas Falsches getan zu haben. Verschulden, Vorwerfbarkeit eines zivilrechtlichen Delikts (Rechtswissenschaft) Existentielle Schuld, philosophischer und sozialpsychologischer Begriff.“

So wird der Schuldbegriff bei Wikipedia definiert. (Falls jetzt jemand aufschreit, das wäre doch keine wissenschaftlich-anständige Quelle, dann bekenne ich mich sofort schuldig. Dieser Artikel hat allerdings auch keinen Anspruch auf allumfassende Wahrheit. Naja, ein wenig schon. Aber wirklich nur ein kleines Bisschen.)

Anerzogen, gelernt oder steckt dieses Gefühl „irgendwie“ tief in uns drin? Ist Schuld in der menschlichen DNA verankert? Ehrlich gesagt, ich weiß es nicht. Auf eine gewisse Weise ist’s mir fast auch egal. Denn ich möchte vielmehr als Coach und Mensch meinen Teil dazu beitragen, dass Schuldgefühle und vor allem schlechtes Gewissen möglichst wenig Raum einnehmen. Bei mir selbst und bitte auch bei Anderen.

Natürlich spricht nichts gegen eine anständige Portion Reumütigkeit oder eine ehrlich gemeinte Entschuldigung, wenn es dafür wirklich einen Anlass und Grund gibt. Doch wie häufig sind Schuldgefühle zu beobachten, weil sich jemand selbst klein und schlechtmacht? Weil er oder sie sich ungenügend fühlt oder zu stören glaubt?

Ein Fingerzeig

Das berühmt-berüchtigte „Fingerpointing“: Wenn man mit dem Finger auf jemanden zeigt, sind bewiesenermaßen dabei stets drei Finger auf sich selbst gerichtet. „Der ist schuld!“ Wer ist schuld? Im Projektmanagement-Umfeld gebe ich gerne einen Tipp weiter: Die Arbeit mit dem „Schuldigen der Woche“. Doch ist das eigentlich nur eine – fast unnötige– Krücke.

Der „Trick“ geht so: Ein Projektteam verabredet für die Laufzeit des gemeinsamen Vorhabens, dass es immer einen „Schuldigen der Woche“ (w/m/d) gibt. Idealerweise ist das nicht jedes Mal derselbe Mensch. Ein wöchentlich wechselnder Turnus ist hilfreich und sinnvoll. Und wenn dann über Fehler und Probleme gesprochen wird, hebt genau diese Person dann sofort die Hand. „Ich war’s!“. Regelmäßig ist sofort ein befreites Lachen die Reaktion, das Team kann sich umgehend auf die Lösungssuche machen – statt den Verantwortlichen ausführlich an den Pranger zu stellen.

Wie gesagt: Das ist zwar hilfreich und spannungslösend, allerdings darf man sich durchaus fragen, ob dieser Trick wirklich erforderlich sein sollte. Vor allem ist er nur wenig tauglich, wenn man selbst das Team ist.

Wer war's? Ich, Ich oder Ich?

Häufig haben wir unser ganz persönliches, inneres Team so konditioniert, dass wir beim Fingerpointing regelmäßig mit der gesamten Hand oder Faust auf uns selbst zeigen. Der Schuldspruch richtet sich dann vehement ans eigene Spiegelbild. „Ich bin schuld!“ (Eigentlich an allem, was in der Welt nicht rund läuft.) Bei solch einem Zustand gehe ich jede Wette ein: Damit ist dieser Mensch nicht auf eben diese Welt gekommen. Zwar bin ich weder für Genetik noch Epigenetik ein echter Experte, aber trotzdem bin ich felsenfest überzeugt: Das ist gelernt und anerzogen. Mit einem schlechten Gewissen geboren worden? Das kann und will ich mir einfach nicht vorstellen.

Aber wie lernt man es dann, sich schuldig zu fühlen? Einen Hinweis dazu bietet nachher der Ausflug nach New Jersey zu den Sopranos.

Existenzielle Schuld?

„Entschuldigung, dass ich existiere!“ Dieser Leitspruch von passiv-aggressivem Verhalten bringt es – leider – auf den Punkt. Darauf kommen wir gleich wieder zurück. Doch zunächst richtet sich der Blick auf den Sachinhalt.

Jeder Mensch darf eine Geo-Koordinate haben, einen Standpunkt und einen Fleck zum Sein. „Stehe ich im Weg? Oh, Entschuldigung!“ Warum denn eigentlich? Herrje, irgendwo „muss“ man sich ja befinden. Wenn ich dabei tatsächlich aus Un-Achtsamkeit jemandem im Weg stehe – im Supermarkt, auf der Straße, vielleicht auf dem Lebensweg oder Karrierepfad – kann es natürlich angebracht sein, sich zu entschuldigen. (Oder etwas in der Art, mehr dazu direkt im Anschluss.) Und gleichzeitig nimmt jeder Mensch nun mal Raum ein. Das darf so sein, wenn man dabei nicht mit Vorsatz jemand Anderes behindert oder mit böser Absicht auf die Füße tritt.

Falls ein Mensch von früh auf gelernt hat, dass er oder sie „irgendwie falsch“ und „ständig im Weg“ ist, dann bringt es wenig, von außen mit einem herzhaften „Hör doch einfach auf damit!“ zu reagieren.

Solch ein freundlich und hilfreich gemeinter Impuls kann zwar förderlich sein, um eine Veränderung im Denken und resultierenden Verhalten dieser Person, insbesondere mit Blick auf deren Selbstwahrnehmung, Selbstbewusstsein und Selbstvertrauen, zu initiieren. Jedoch kann meist „nicht einfach so“ ein entsprechender innerer Schalter umgelegt werden. Die wirklich gute Nachricht: Es gibt ihn, diesen Schalter.

Ablasshandel - mit sich selbst?

„Hiermit entschuldige ich das Fehlen meines Sohnes am vergangenen Montag.“ Was von Eltern im Schulischen gerne versucht wird, das geht eigentlich gar nicht.

Können wir uns selbst entschuldigen? Nee, oder? Vielmehr können wir lediglich um Entschuldigung bitten. Genau dieses Prinzip hatte die katholische Kirche im Mittelalter zu einem florierenden Geschäftsmodell gebracht. Mist gebaut? Kein Problem! Einfach fix in den Beichtstuhl, danach eine anständige Summe in die Kollekte geworfen – und schon war man frei von aller Schuld. (Möglicherweise funktioniert das sogar auf eine gewisse Weise.)

Sünde, Buße, Reue, Gnade ... hui. Keinen dieser Begriffe habe ich wirklich in mein Herz geschlossen.

Wie steht es mit Verzeihen? Können wir uns selbst vergeben? Und wie schaut das im Umgang mit anderen Menschen aus, die uns Unrecht getan haben? Verzeihen wir ihnen? Oder im Endeffekt uns selbst, indem wir unsere Wut, unseren Zorn und Groll ihnen gegenüber nicht mehr länger in uns aufrecht halten, sondern loslassen?

Das "Goldene Buch" für sich selbst neu schreiben

„Das tut man nicht. Das darf man nicht. Das ist nicht richtig, brav, anständig, ehrenhaft, geziemend, ordentlich, tugendsam.“ Und wenn man‘s doch tut? Lerneffekt, Veränderung oder Schuldgefühl?

Über einschränkende Glaubenssätze, sogenannte „Beliefs“, kann man ganze Bücher schreiben. (Achtung, Werbung: Das hat der Autor dieses Beitrags zumindest anteilig in „Impulse zur eigenen Veränderung“ getan.) Was man im Leben so alles muss! Was unbedingt – genau so! – sein muss. Was keinesfalls sein darf und was man nie, nie, niemals tut (weil sonst ...): Auch mit diesen Dingen kommen wir nicht auf die Welt. Wir lernen sie. Aus einem virtuellen, goldenen Buch, das es nicht gibt.

Entweder werden uns solche Glaubenssätze von Familie, Schule, anderen Menschen oder Medien eingetrichtert. Oder wir eignen sie uns eigenständig an. „Ich werde nur geliebt, gemocht, wertgeschätzt, wenn ich ...“ Bitte vervollständigen Sie diesen Satz. Oder werfen Sie ihn einfach über Bord.

Denn die unvollständige Aussage impliziert „und wenn nicht, dann ...“. Dann ist man ja selber schuld daran, dass man keine Liebe bekommt, weder Zuneigung noch Anerkennung. Willkommen in der Hölle der Abhängigkeit, die vor allem mit Schuldgefühlen geheizt wird.

Hier öffnet sich jedoch auch die Tür zu einem freieren Leben jenseits aller Schuld und Schuldgefühle, wenn man sich nämlich mittels „Reframing“ einen neuen Kontext verschafft. Dazu kann auch gehören, sich weitaus weniger abhängig vom Wert-Urteil (!) anderer Personen zu machen. Das geht keinesfalls per Knopfdruck, jedoch klappt es, wenn man diese Art der Veränderung – für sich selbst – wirklich erreichen möchte.

Unmittelbare Auswirkung?

„Instant Karma“ ist der Titel eines Songs von John Lennon aus dem Jahr 1975. „Instant Karma is gonna get you, gonna knock you off your feet“, heißt es darin. Nun ja, der Gedanke von Karma hat nach meinem Verständnis nicht immer eine sofortige Reaktion auf eine Handlung zur Folge. Wahrscheinlich wird der ein oder andere Karma-Kenner zustimmen, dass sich nach der dahinterstehenden Philosophie und Theorie manch eine Handlung auch erst in einem späteren Leben auswirken wird.

Insofern darf hier ruhig ein Fragezeichen an meine frühere These gesetzt werden, dass „Schuld“ nicht geerbt werden kann. Erbsünde, bei der man selbst der Verursacher ist? Klingt ganz schön gruselig.

Ein krasser Killer

Nach meiner Erfahrung und Beobachtung gibt es kaum etwas Schlimmeres als dauerhaft schlechtes Gewissen. „Selbstzugefügter seelischer Krebs“, so nenne ich das.

Wenn man also sinnbildlich andauernd mit dem Finger auf sich selbst zeigt, hat man für das Leben maximal nur eine Hand frei.

Wer mit sich selbst Krieg führt, wird nur schwer gleichzeitig irgendeinen Frieden finden. Wer sich selbst verachtet, sich permanent schuldig fühlt, der wird auf ebenso seelischer wie körperlicher Ebene sein Immunsystem massiv belasten.

„Passiv“ könnte solch aggressionsgeladenes Verhalten nur insofern benannt werden, als dass man sich dabei nicht öffentlich und offensichtlich selbst verletzt. „Auto-aggressiv“ trifft es, wenn schlechtes Gewissen zum dauerhaften Begleiter eines Menschen wird. (Um den Wortwitz auszureizen: Man setzt sich dabei gewissermaßen in ein autonom fahrendes Fahrzeug, das einen samt aggressiver Fahrweise schnurstracks in die Schuldhölle kutschiert.) Wenn man sich also selbst nicht guttut. Und – hey! – dafür kann man sich doch sogleich wieder schlecht und schuldig fühlen! Wie wunderbar, ein wahrer Teufelskreis. Und den kann man verlassen, selbst als Mafiapate.

Neulich bei den Sopranos

Anerzogen, das hatten wir schon in diesem Artikel. Mein „Lieblingsbeispiel“ für injizierte Schuldgefühle gibt es in der Serie „The Sopranos“ (1999–2007), die vom Leben der gleichnamigen Mafiafamilie in New Jersey erzählt. Hauptfigur ist Anthony „Tony“ Soprano, den man über die sechs Staffeln hinweg regelmäßig bei seiner Therapeutin antrifft. Kern dieser Sitzungen? Seine Mutter. Die gibt später einen Mordauftrag gegen ihren Sohn in Auftrag, hat aber vorher selbst schon „ganze Arbeit“ geleistet, indem sie Tony das massivste schlechte Gewissen eingeimpft hat, das man sich nur vorstellen kann. Kein Wunder also, dass der „Capo“ ständig mit Panikattacken zu kämpfen hat. (An dieser Stelle sei ausdrücklich gesagt, dass auch Väter, Onkel, Tanten, Großeltern und weitere Verwandte, ebenso Lehrer und Vorgesetzte sowie ganz andere Menschen dies bewerkstelligen können.)

Zurück zu Tony und seiner Mutter, die hier wirklich bitte lediglich als Beispiel, nicht als klassischer Stereotyp verstanden werden soll. „Ja, sei DU nur glücklich! ICH habe mich ja all die Jahre aufgeopfert, damit es DIR gut geht. Wie es MIR dabei geht, das interessiert ja NIEMANDEN.“ (Ein Hinweis an dieser Stelle: Tonys Mutter scheint ihr eigenes Wohlergehen bei weitem nicht so sehr zu interessieren wie die Chance, anderen ein möglichst mieses Gewissen zu bereiten. Möglicherweise ist das wiederum eine sehr seltsame Form des Lustgewinns. Doch weiter im Text von Livia Soprano.) „All die vielen Jahre seit DEINER Geburt habe ich MEIN eigenes Wohl zurückgestellt!“ (Hier liegt mir „Selber schuld!“ auf den Lippen. „Es war Deine eigene Entscheidung, liebe Livia“, das trifft es wohl besser.)

Wer mit solchen Worten und den darin nur unschwer „versteckten“ repressiven Emotionen aufwächst, der könnte sich wohl spätestens mit dem Eintritt ins Erwachsenenalter eine Dauerkarte beim Therapeuten buchen. Andererseits muss es kein jahrelanger Therapiemarathon werden, um sich von fiesen Beliefs und schlechten Gefühlsinjektionen zu befreien. Doch klar ist auch: ein Spaziergang ist es nicht, mit dem man dieses von außen induzierte schlechte Gewissen wieder loswird. Aber es geht. Versprochen.

Leersein

Zurück zum Karma. Aufgrund von aktuellen Schuldgefühlen oder manchmal auch „im vorausschauenden Gehorsam“, der keinesfalls zukünftige Schuld auf sich laden will, kann es zum karmischen Missverständnis kommen. Denn es geht bei dieser Philosophie, diesem Lebensverständnis und -konzept keinesfalls darum, „so viel Gutes wie nur möglich“ zu tun.

Vielmehr steht eine „ausgeglichene Bilanz“ auf der Agenda. Ziel von cleverer Karma-Arbeit ist es daher, „auch im Guten nichts anhäufen“. Denn das schleppt man nach diesem Konzept dann ebenso mit ins nächste Leben – eben solange, bis man „den emotionalen Rucksack“ wirklich leicht und leer gemacht hat. Erst dann ist der Weg frei ins Nirwana.

Freisein: Das ist auch ein kluges Vorgehen beim Verzeihen. Um sich selbst nicht mehr zu belasten mit dem Tragen von negativen Gefühlen. Ganz gleich, ob anderen oder sich selbst gegenüber. Denn bleiben wir im Bild: Wer anderen oder sich selbst gegenüber nachtragend ist, der muss ja wortwörtlich ständig etwas mit sich herumschleppen. Alleine schon aus der Erfahrung beim Wandern kann ich ein Geheimnis verraten: Mit leichtem Gepäck läuft es sich viel angenehmer.

Schlussendlich

Patentrezepte? Die gibt es auch hier wieder einmal – nicht. Doch die Idee, den eigenen Rucksack fürs Wandern durch das Leben so frei und leer wie möglich von negativen Glaubenssätzen, Gedanken und Gefühlen zu machen, sich gleichermaßen nicht mit dem Ziel eines massiven „Karma-Vorschusskredits“ zu stressen, die kann ich wärmstens empfehlen. Aus ganz persönlicher Erfahrung, ebenso aus der Arbeit mit Klientinnen und Klienten. Im Endeffekt ist dieses befreite Laufen & Leben das Beste, was man sich selbst, selbstfürsorglich & selbstverantwortlich schenken kann.

Dieser Beitrag wurde während einer Bahnfahrt von Berlin nach Bielefeld unter Zuhilfenahme mehrerer Songs von Lana Del Ray geschrieben. Titel wie „Born to die“, „Dark Paradise“, „God knows I tried“, „The Blackest Day“, „Don’t let me be misunderstood“, „Tomorrow never came“ sowie schlussendlich „Change“ und „Get free“ waren dafür ein hervorragender Soundtrack.


(Ursprünglich wurde der Artikel am 4. Februar auf https://wenigerundmehr.de/coachblog veröffentlicht.)