Leserbriefe und die Stimmung in der Bürgerschaft
Im digitalen Zeitalter ist es eher ein liebgewonnenes Ritual, dass ich zum Frühstück eine "richtige" Zeitung aus Papier in Händen halte. Die wichtigen Ereignisse kennt man doch bereits aus den Online-Medien vom Vortag. Und die Analysen, Meinungen, Einstellungen und Fragen nach den Verantwortlichen zu den Ereignissen kennt man erfahrungsgemäß ebenso. Die Verfasser der Beiträge begleiten mich schon lange Zeit. Die gute alte Zeitung ist also vor allem eine Beruhigung meiner Nerven in aufgeregten Zeiten. Ein Beruhigungsmittel gegen zu viel Breaking-News, Just-in-Time-Berichterstattung, angefeuert durch sensationslüsterne Tweets und Inszenierungen in den Meinungsblasen von Twitter und Co.
Bis vor einiger Zeit war ich also nicht wirklich darauf gefasst, eine neue Entdeckung beim täglichen Lesen der Tageszeitung zu machen. Doch dann bin ich in den letzten Wochen immer häufiger am Wochenende auf der Seite "Leser-Meinung" hängengeblieben. Nach und nach schlich sich bei mir das Gefühl ein, dass ein Erkenntnisgewinn am ehesten aus den häufig analytisch starken Leserbriefen, die klare Positionen beziehen, zu gewinnen sein könnte: Wie denkt die Bürgerschaft in der großen Stadt über berichtete Ereignisse und Konfliktlinien in unserer Gesellschaft? Was sagt eigentlich die Leserschaft? Teilt sie die meinungsstarken Beiträge der Journalisten? Oder haben sie ergänzende oder kontroverse Einsichten in das Geschehen?
Der am 25. Juli 2021 im Tagesspiegel in Berlin veröffentlichte Leserbrief "Der alte weiße Mann will beteiligt sein" festigte vom ersten Absatz an meinen Entschluss, zukünftig Leserbriefe nicht nur weiterhin intensiv zu beobachten, sondern ihnen im Einzelfall eine zweites Publikum unter der Rubrik Volkes Stimme zu verschaffen: "Ich bin 78 Jahre alt, weiß und der Prototyp des alten weißen Mannes. In meinem Beruf als Schulleiter spielte das Geschlecht meiner Lehrkräfte nur dann eine Rolle, wenn es pädagogische Gründe dafür gab. (...)"
Das mit einer angenehmen Selbstironie gezeichnete eigene Bild, vor allem aber seine Ankündigung "Was ich begriffen habe" verlockte zum Weiterlesen. Es lohnt sich seine Stimme in Auszügen hier zu präsentieren:
"Das wichtigste Anliegen in der Zukunft ist die Verhinderung einer weiteren Klimaerwärmung. Man darf dabei nicht nur auf den Markt setzen, es muss regelnde und ausgleichende Maßnahmen durch den Staat geben." (...)
In Verbindung mit dem Thema Klimaerwärmung verbindet der Verfasser des Leserbriefes den für mich richtigen nächsten Punkt in seiner Liste der von ihm verstandenen Probleme: "Die wichtigste Ursache aller Lebensmittelskandale und eines Großteils der Bodenverseuchung liegt in der Massentierhaltung. Wir müssen also kein oder weniger Fleisch essen, das zwangsläufig teurer werden muss." (...)
"Alle Menschen sollen ihre sexuelle Identität selbst bestimmen und jeder erwachsene Person ihrer Wahl lieben dürfen."(...) zeigt die liberale, tolerante Einstellung zu einem wichtigen Thema für die kulturelle Weiterentwicklung unserer Gesellschaft. Diese Aussage ist eine wichtige Grundlage für ein vorurteilsfreies, faires und möglichst aggressionsfreies Zusammenleben vieler Menschen auf begrenztem Terrain.
Sehr konkret nimmt unser Verfasser die aus den plakativen politischen Losungen erwachsende alltäglichen Probleme unter die Lupe und kommt aufgrund seiner Beobachtungen zu verträglichen Lösungsvorschlägen. Daraus spricht die Stimme der Vernunft und nicht die Stimme der Ideologie. Auch zeigt er, dass er -im Rahmen seiner Möglichkeiten- einen eigenen Beitrag leistet: "Die Verbannung von Autos aus der Innenstadt von Berlin löst kein Umweltproblem, das kann nur global gelöst werden. Der Anteil Berlins am Weltklima liegt im Nanobereich, da ist jeder Verzicht auf Waren mit Palmöl oder auf brasilianisches Rindfleisch, für das Urwald gerodet wird, wirksamer." (...) "Ich fahre innerhalb Charlottenburgs alle Strecken mit dem Fahrrad, meine größte Gefährdung kommt von anderen Fahrradfahrern, die ohne Warnung in geringstem Abstand an mir vorbeirasen. Im Zweifelsfall empfehle ich einmal den Popup-Radweg auf der Kantstraße zwischen Amtsgerichtsplatz und Savignyplatz, vorbei an mindestens sechs Autos auf dem Fahrradstreifen. Wenn das die Lösung ist, will ich mein altes Problem zurück. Ich habe aber auch ein Auto und brauche es für den Transport schwerer Lasten, vor allem von Einkäufen." (...)
Auch mit Blick auf eine aktuelle Konfliktlinien in unserer Gesellschaft kommt er zu der passenden Schlussfolgerung: "Identität betont das Trennende, was Verteilungskämpfe befördert, mit der Folge, dass die Schwachen vergessen werden und die gemeinsame Stoßkraft halbiert wird." (...) Denn, wenn man die Dinge zu Ende denkt, ist es genau das, was Identitätspolitik bewirkt, und vielleicht sogar bewirken will? Auch nach meiner Vorstellung führt diese Politik auf die Schwächung des Gemeinwesens durch eine Bevorzugung von Minderheiten, Interessenzusammenschlüssen und Lobbygruppen. Es ist eine Erfahrungstatsache, dass, je kleiner und straffer organisiert diese Gruppen sind, umso erfolgreicher und durchsetzungsstärker setzen sie ihre Interessen durch.
Ja, und seinem abschließenden Wunsch kann man nicht nur beifällig applaudieren, sondern ergänzen, dass er für Frau, Mann und Kind gelten sollte: "Der alte weiße Mann will nicht erzogen und schon gar nicht umerzogen werden, er will beteiligt sein."
Quelle: "Der Tagesspiegel", Nr. 24605, 25. Juli 2021, Seite 12
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