"Ausverkauf unserer Werte"

Die Auswertung der persönlichen Meinungen meiner Mitbürger*innen zeigt entsprechend der medialen Berichterstattung aktuell einen klaren Schwerpunkt: Afghanistan! Die Zuspitzung der Lage und die rasend schnelle Machtübernahme der radikalislamischen Taliban im Land am Hindukusch, in dem wir unsere Freiheit verteidigen wollten, treibt die Mitte unserer Gesellschaft um.

Und sie zeigt ein deutlich einheitliches Meinungsbild: "Die Heuchelei aller westlicher Politiker ist unerträglich. Es ist seit Jahren bekannt, dass die Taliban von Pakistan unterstützt werden. Dort befinden sich Ausbildungslager, dort wird man rekrutiert und dorthin kann man sich zurückziehen." Stellvertretend für den den Tenor des Meinungsbildes in der Mitte unserer Gesellschaft stehen diese Ausführungen von Herrn Dr. Hans K. in seinem Leserbrief veröffentlicht am vergangenen Sonntag in der großen Stadt. Und weiter: "Der Taliban-Aufstand ist ein Stellvertreterkrieg zwischen Indien und Pakistan wegen Kashmir." Man könnte tatsächlich den Eindruck gewinnen, dass Herr Dr. K. sehr viel intensiver die Lage am Hindukusch in den letzten Jahren verfolgt haben könnte, als beispielsweise der deutsche Auslandsnachrichtendienst BND. Denn diesem zufolge kam doch alles sehr überraschend, zumindest wenn man die offiziellen Verlautbarungen zuständiger Entscheidungsträger für bare Münze nimmt?

Der Zorn der Leser*innen macht sich erneut an der Krisenbewältigung der Verantwortlichen fest: "Wo ist die so oft beschworene 'deutsche Planungs- und Organisationswut', wenn es um die Rettung von Menschenleben geht?" fragt Wilfried M. in seinem Leserbrief. Er malt auch gleich das große Bild: "Das war die Frage zu Beginn der Pandemie, das war die Frage bei der jüngsten Flutkatastrophe und das ist nun auch in Afghanistan die große Frage."

Über die mangelnden handwerklichen Fähigkeiten hinaus  thematisiert Prof. Dr. Michael M. die moralische Dimension dieses Dramas: "Ich empfinde es für die betroffenen Menschen entsetzlich, dass amerikanische und deutsche Geheimdienste sich über die politische und militärische Entwicklung in Afghanistan derart gründlich geirrt haben wollen und die für die Aufnahme von Afghanen in Deutschland zuständigen behördlichen Dienststellen derartig zögerlich und langsam arbeiteten, dass es nun für eine große Anzahl von Menschen zu spät und nicht mehr möglich sein wird, ihr Leben zu retten."

Vertrauen, der zentrale Begriff vieler Meinungen, genauer gesagt, das Vertrauen in die zuständigen Institutionen und deren Repräsentanten, ist durch die Ereignisse in Afghanistan offenkundig stark beschädigt worden. Leider zeigt die Art und Weise, wie derzeit genau diese Repräsentanten versuchen, sich gegenseitig die Schuld in die Schuhe schieben und sich in höchst beschämender Art ihrer Verantwortung entziehen wollen nur eines: Sie verfügen nicht über den Hauch von Empfindungen über das, was in den Köpfen der Menschen in der Mitte unserer Gesellschaft passiert.

Zur Leitidee ihres Leserbriefes macht demgegenüber Ute L.  ihre persönliche Betroffenheit: "Die Entscheidung über den Umgang mit den Ortskräften in Afghanistan gefährdet nicht  nur das Vertrauen in deutsche Auslandseinsätze, es gefährdet auch besonders mein Vertrauen in die demokratische Grundstruktur des Parlaments."

Quelle: "Der Tagesspiegel", Nr. 24633, 22. August 2021, Seite 12

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