Schule kann nicht fehlen

Dieser Satz lässt mindestens zwei Deutungen zu. Ich kann ihn so  interpretieren, dass die Schule unverzichtbar ist und in einer etwas  altmodischen Lesart so, dass sie nicht fehlbar ist. Wie der Papst in  Glaubensfragen. Zusammengenommen führen beide Deutungen in die  Selbstreferenzialität jeder Argumentation über die Notwendigkeit von  Schule. Sie bilden jene Voraussetzung, über die in den endlosen  Diskussionen über Schule nicht noch einmal nachgedacht wird oder  diskutiert. Wo und wann auch immer über Schule gesprochen wird, gilt  unausgesprochen: Sie kann nicht fehlen. Was auch immer sie falsch macht –  fehlen kann sie nicht.

Die unkontrollierte Kontrolle

Kein anderes kulturelles System ist in seiner Existenz wie in seiner  Pragmatik so gründlich von der Reziprozität  der Kontrolle ausgenommen,  wie die Schule. Wann immer Schule in den Fokus von Kontrolle gerät, sind  die Kontrolleure in irgendeiner Form selber Teil des Schulsystems.

Quelle: Google

Nirgendwo sonst (?) gibt es in demokratischen Gesellschaften ein  System, das nichts anderes tut, als Menschen in seine Gegenwart zu  zwingen, um sie zu bewerten und zu beurteilen, ohne  selbst in diesen Kernprozessen von unabhängigen Instanzen bewertet und  beurteilt zu werden, denn: Schule kann nicht fehlen. Sie ist  „infallibel“, indem sie nicht nur auf normativer, materialer und  struktureller Ebene selbstreferenziell darüber bestimmt, was sie tut,  wie sie es tut und wie sie es richtig tut. Vielmehr (re-)produziert sie  auf dieser Basis das Narrativ ihrer Unverzichtbarkeit  (Alternativlosigkeit), also die erste angenommene Bedeutung von „Schule  kann nicht fehlen“.

Verrückte Welt: Wo wir vor allem in D-A-CH pausenlos um Themen wie  Privatsphäre, Datenschutz und den digitalen Kontrollverlust streiten,  leisten wir uns eine Schule, in der junge Menschen ein einseitiges und  absurdes Verständnis von Kontrolle entwickeln, weil sie in der Schule  täglich damit konfrontiert sind und aufwachsen: mit einem einseitigen  Command & Control Setting.

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Schule ist nicht undemokratisch, sondern nicht-demokratisch

Das demokratische Prinzip lebt davon, dass es sich selbst nicht  abschaffen kann. Deshalb unterliegen Parlamente und Regierungen einer  regelmäßigen Kontrolle durch den Souverän, der auch eine Sie ist. Dieses  Kontrollprinzip gilt nicht für Schule. Die demokratische Legitimierung  ihres Handelns endet auf der Schwelle.

Auf dieser Basis realisiert und reproduziert Schule mentale und  soziale Rahmenbedingungen, die dem Demokratieprinzip im Kern  widersprechen. Im Vollzug ebenso wie in Struktur und Kontrolle. Sie ist  ein nicht-demokratisches System, kein undemokratisches. Letzteres wäre  sie, wenn sie schlechte Demokratie praktizieren würde, wie das z.B.  Regierungen und Parlamente regelmäßig tun. Schule hingegen ist, was auch  immer sie tut, nicht-demokratisch konstruiert. Sie unterliegt keiner  demokratischen Legitimation, nur ihrer eigenen, die eine bürokratische  ist. Als Schüler*in kann ich dieses System nicht verlassen. Herausgeholt  werden von mündigen Eltern kann ich auch nicht, denn entscheidende  Grundrechte der Bürgerinnen und Bürger sind durch die Schulpflicht  ausgesetzt – wie sonst nur noch im Militär oder im Gefängnis.

Wir suchen derzeit händeringend nach Gründen und Zusammenhängen  dafür, warum Demokratie merkwürdig dysfunktional erscheint und für sehr  viele Menschen (links und rechts) gefühlt wirkungslos. Ein ganz  offensichlicher Grund liegt für mich hier: In der Schule lernen wir  durch den Rahmen und die Art, wie wir dort lernen, das Gegenteil von  Demokratie als Funktionsprinzip sozialer Interaktion kennen und  akzeptieren. Weil Schule von ihrer Wurzel her nicht-demokratisch ist,  prägt sie am Fließband Haltungen, die vieles sind – außer demokratisch.

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Was bedeutet für dich „demokratisch“?

Für mich bedeutet es, willens, motiviert und in der Lage zu sein, in  diskursiven Prozessen und unter freiem Einsatz des eigenen Verstandes  daran interessiert und darum bemüht zu sein, die Frage nach dem  „Demokratischen“ gemeinsam und immer besser zu beantworten. Es bedeutet,  sich dafür einzusetzen, dass dieser Diskurs so offen und heterogen wie  möglich geführt werden und lebendig bleiben kann. Das ist für mich die  Bedeutung von „demokratisch“, inklusive der auf diesem Weg immer wieder  neu anzugehenden Klärung und Schärfung der Begriffe „freiheitlich“ und  „rechtsstaatlich“ – dies alles unter Bedingungen, die das, was wir  darunter verstehen, mindestens im Ansatz schon garantieren. Wobei in  meiner Vorstellung von „demokratisch“ Bedingungen nichts gegebenes sind.  Sie entstehen erst dadurch, dass wir sie forlaufend schaffen und  reflektieren.

Diese Haltungen und Prozesse abzubilden und konsequent zu  praktizieren, Menschen dabei zu unterstützen, diese Haltungen und  Prozesse zu verstehen, sie zu verinnerlichen (Haltungen) und zu führen  (Prozesse) – das ist in meinen Augen erste Pflicht und Aufgabe von  Schule in sog. demokratischen Gesellschaften. Das Gegenteil wird heute  praktiziert.

Wie Schule demokratisch wird

Woran ich erkenne, dass Schule auf dem Weg in eine demokratische  Zukunft ist, und diese Zukunft auf diesem Weg ermöglicht – zusammen mit  denen, die so eine ZUKUNFT wollen?

Wenn Schule als System ihre Vorläufigkeit und Fehlbarkeit erkennt und  anerkennt, wenn sie sich vorbehaltlos einlässt auf die Begegnung und  Auseinandersetzung mit allen Kräften, die Demokratie herausfordern und  gestalten, wenn sie zulässt, dass sie in offenen Diskursen folgenschwer  auf ihre Demokratiefähigkeit hin abgeklopft wird, wenn sie praktisch und  pausenlos unter Beweis stellt, dass und wie sie jungen Menschen ECHTE  Angebote macht, die sie dabei unterstützen, demokratieaffin und  demokratiefähig zu werden, und wenn sie Reziprozität in ihr  Selbstverständnis als bildende Institution eingeschrieben hat – und wenn  jeder Mensch ganz grundsätzlich auch „Nein“ zu ihr sagen kann. Dann ist  sie auf dem Weg.

Diese Schule und die Demokratie.

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