Saubere graue Fliesen, der Geruch von Reinigungsmittel und viele schneeweiße Waschbecken. Das ist meine allererste Erinnerung an Deutschland. Es war der Nachmittag des 6. März 2001 und wir machten Halt in einem Einkaufszentrum in Dresden, um die Waschräume zu benutzen. Einen Tag vorher bin ich mit meinen Eltern in einem Reisebus aus Kiew in ein neues Leben nach Deutschland aufgebrochen.
Wie viele andere in der ehemaligen Sowjetunion haben meine Eltern Mitte der 90er Jahre ihre Jobs verloren. Seitdem kamen wir gerade so über die Runden, bis sie als sogenannte Kontingentflüchtlinge einen Antrag auf unbefristete Aufenthaltsgenehmigung in Deutschland gestellt haben. Etwa ein Jahr später fing das neue Leben in Deutschland dann an. Ich war 11 Jahre alt.
In Kiew war ich stets Musterschülerin. Meine Eltern haben zwar nie studiert, doch trotzdem immer Wert darauf gelegt, dass ich viel lese und fleißig lerne. In Deutschland konnte ich jedoch nicht daran anknüpfen. Ich sprach kein Wort Deutsch, der Aufbau des Schulunterrichts war mir fremd, plötzlich hatte ich keine Freunde mehr.
Eine (Realschul-)Empfehlung für die Zukunft
Nach etwa eineinhalb Jahren in einer Übergangsklasse für neu zugewanderte Kinder in Augsburg wurde an einem kurzweiligen Vormittag über mein zukünftiges Leben entschieden. Meine Kenntnisse in Deutsch, Englisch und Mathe wurden getestet. Ich war eingeschüchtert und aufgeregt. Wie sollte man als ein 12-jähriges Kind auch reagieren, wenn man weiß, von deinen Antworten wird womöglich deine Zukunft abhängen? “Festgestellt” haben die Prüfer jedenfalls, dass ich fürs Gymnasium nicht gut genug sei. Für eine Realschule würde es aber reichen. Und Empfehlungen sind in Bayern bindend.
Fünf Jahre später schloss ich tatsächlich eine Realschule in Augsburg ab. Als Schulbeste, mit nur einer Note, die keine “1” war: Eine “3” in Sport verewigte sich auf meinem Abschlusszeugnis. (Meine Eltern sprachen weiterhin kein Deutsch und lebten von Hartz IV.) Ein Jahr vorher, mit einer Durchschnittsnote von 1,3, habe ich auf eigene Faust versucht, auf ein Augsburger Gymnasium zu wechseln. Dort hat mir ein Mitarbeiter der Schulleitung lapidar ins Gesicht gesagt, ich würde da nicht hingehören. Ende der Durchsage.
Der Satz hat sich bei mir eingebrannt. Genauso wie das Gefühl, in den Augen der Gesellschaft nicht gut genug zu sein. So einfach kann das System Talente die bürokratische Kanalisation hinunterspülen. Doch ich wollte kämpfen, um nicht zu ertrinken. Ein Hochschulabschluss war das Ziel.
Zum Master ohne Abitur
Mit 17 zog ich nach München und absolvierte zunächst eine Ausbildung zur Fremdsprachenkorrespondentin. 200 Euro BAföG erhielt ich damals, habe abends stets gearbeitet, um über die Runden zu kommen. Zwei Jahre nach diesem Abschluss machte ich noch einen, als staatlich anerkannte Übersetzerin. Mit diesem in der Tasche ging ich nach England und studierte Internationale Beziehungen im Master. Rückblickend kann ich nicht sagen, wie ich es geschafft habe, das Geld für ein einjähriges Studium in England zusammensparen. Aber es hat gereicht. 2012 kehrte ich mit einem Master-Abschluss nach Deutschland zurück. Ich war 22 und voller Tatendrang.
In Berlin angekommen, begab ich mich äußerst naiv auf Jobsuche. Ohne Kontakte, ohne tolle Praktika stößt man als Berufseinsteiger auf verschlossene Türen. Hinzu kommt, dass gerade wir als Menschen aus prekären Verhältnissen uns oft nicht gut verkaufen können. 80 Bewerbungen waren es, bis ich meinen ersten Job hatte. Peu a peu habe ich ein Netzwerk aufgebaut, auf den zweiten Job folgte der dritte.
Ich war tatsächlich angekommen. Eine junge Deutsche mit Migrationshintergrund, die einen Job, Freunde und Hobbys hat und sich darüber hinaus ehrenamtlich engagiert.
Was sich ändern muss, damit ich keine Ausnahme bleibe
Doch es war ein verdammt harter Kampf. Das Gefühl, nicht gut genug zu sein, ist eine weit verbreitete Krankheit unserer Zeit. An ihr kann man zerbrechen, auch wenn man Talent und Potenzial hat. Dürfen wir es zulassen, dass uns Potenziale verloren gehen, weil wir Kindern, Jugendlichen und jungen Erwachsenen einreden, sie seien nicht gut genug, anstatt sie bestmöglich zu fördern?
Ja, ich habe es geschafft. Obwohl meine Eltern nach wie vor kaum Deutsch sprechen und von Hartz IV leben. Obwohl mir so oft auf meinem Weg gesagt wurde, ich sei nicht gut genug. Doch ich möchte nicht, dass nur die allerstärksten Kinder und Jugendlichen aus prekären Verhältnissen ihren Weg machen können.
Ich wünsche mir ein Deutschland, in dem jedes Kind die für ihn notwendige individuelle Förderung erfährt und die eigenen Potenziale entfalten kann; in dem man genug Lehrkräfte und Betreuer hat, die Kinder ermutigen, die Talente in sich selbst zu suchen.
Ja, das kostet viel Geld. Doch das müssen wir uns als eine zukunftsgerichtete Gesellschaft leisten können.
Dieser Artikel erschien ursprünglich beim MiGAZIN.
Bild: Inka Junge