Bei dieser Frage müssen wir ein Fass aufmachen, dass ich bis heute nie öffnen wollte, weil es hier leicht verwirrend werden kann. Nämlich das Thema Spezies - Serotypen - Quasispezies.

Wenn wir über ein Virus sprechen, wie z.B. HIV, dann meinen wir nie ein Virus das überall auf der Welt und immer gleich war. Sondern damit meinen wir eine Spezies, wie die menschliche Homo spp. Aber es gibt HIV-1 und HIV-2. So wie Homo sapiens und Neandertaler. HIV-2 kann man eigentlich direkt wieder vergessen, wir finden überall fast ausschließlich HIV-1. Also betrachten wir das genauer und finden wir finden 4 Gruppen. HIV-1 Gruppe M, N, O und P. Wir können direkt wieder alle Gruppen vergessen bis auf M, denn M ist die pandemische Form von HIV-1 die wir heute fast überall finden. Das bedeutet metaphorisch betrachtet finden ethnische Gruppen innerhalb von Homo sapiens. Und innerhalb der Gruppe M finden wir noch bestimmte Stämme. Also HIV-1 Gruppe M und dann Stamm A, B, C, D, E, F, G, H, I, J, K und weil das noch nicht genug ist gibt es auch Stämme die Rekombinationen mehrerer Stämme sind. Und da könnte man jetzt von bestimmten regionalen Gruppen innerhalb einer Ethnie reden. So und jetzt gibt es natürlich innerhalb dieser Stämme ebenfalls Unterschiede. Theoretisch ist jedes Virus anders. Auch wenn die Unterschiede manchmal nur gering sind reicht es aus, um starke Unterschiede zu erzeugen. So wie wir Individuen und voneinander unterscheiden. Viren unterscheiden sich genau voneinander wie menschliche Individuen. Und diese Individuen bezeichnen wir als Quasispezies. Die Quasispezies des Patienten 0 von SARS-CoV-2 war mit einer anderen Quasispezies infiziert als der Patient 1.000, 10.000 und 100.000.

Darum habe ich diesen Wahnsinn hier aufgewickelt, denn wir sollten uns von dem Gedanken lösen, dass Viren eine Spezies ist die nur aus Kopien von sich selbst besteht und wenn sich das Virus in China verändert, verändert es sich genau gleich in Südafrika. Nein, Virionen sind Individuen. Und je länger sie auf der Welt zirkulieren, desto mehr werden sie sich voneinander unterscheiden und in unterschiedliche Richtungen entwickeln und neue Gruppen bilden.


Ich schreib kein Wort umsonst. Ich hab das Fass aufgemacht, weil das jetzt wichtig wird. Weil, wenn wir das einmal verstanden haben kann man sich damit viele virologische Phänomene erklären. Die Immunität eines Wirts ergibt sich durch die Eigenschaften des Immunsystems das Virus wieder zu erkennen und zu neutralisieren, bevor es eine Infektion etablieren kann.

Es gibt Viren die sich so langsam verändern, dass sie über eine ganze Lebzeit immer einigermaßen gleich aussehen. Es gibt Viren die verändern sich stark, aber es gibt konservierte Strukturen, die sich einfach nicht verändern dürfen. Zum Beispiel das Protein, das für den Eintritt des Virus verantwortlich ist. Wenn sich dieses Protein verändert, dann kann das Virus keine neuen Zellen infizieren und es stirbt. Und das sind die einzigen Proteine, die von Antikörpern erkannt werden können, weil Antikörper nicht in Viren hineinsehen können. Sie können nur mit den Strukturen außen in Kontakt kommen. Wenn das Virus ein Oberflächenprotein hat, das sich nicht verändern darf, weil es sonst nicht mehr funktioniert, dann ist das ein guter Angriffspunkt für Antikörper, denn egal wie sich das Virus verändert, diese Struktur muss immer gleich bleiben. Wenn das der Fall ist, kann man leichter lange oder gar lebenslange Immunität dagegen aufbauen.

Bei anderen Viren ist es jedoch so, dass selbst diese Struktur detailreich sehr flexibel sein kann. Und wenn das der Fall ist dann wird es schwer. Denn es reicht nur eine kleine Mutation dort, wo die Antikörper binden und schon wirken sie nicht mehr.


Um den Rahmen nicht zu sprengen möchte ich es mit dem Kapitel "Mutation" mal dabei belassen. Natürlich kann man sich immer mit Viren einer anderen Gruppe oder eines anderem Serotypen anstecken. Also z.B. schützt eine Immunität gegen Dengue-1 nicht gegen eine Infektion mit Dengue-2. Ganz im Gegenteil hier kann es sogar zu Komplikationen kommen, die die zweite Infektion sogar noch schlimmer machen. Das nennt man Antibody-mediated enhancement[1], aber das nur nebenbei erwähnt. Es gibt meistens mehrere Serotypen einer Virusspezies, was bedeutet, dass man meistens nie gegen alle geschützt ist, wenn man gegen eine geimpft wurde oder einmal daran erkrankt ist.


Kurzer Fazit: Mutation und Diversität der Virusspezies.

Ich hoffe ich hab nichts vergessen oder bin zu sehr ins Detail gegangen.


Appendix: es gibt noch eine Möglichkeit, wie man mit demselben Virus zweimal angesteckt werden kann, obwohl es sogar dieselbe Quasispezies ist. Und zwar kann das Masern Virus eine gewaltige Anzahl der Gedächtniszellen eleminieren und damit die gesamte Immunität. Eine Masern Virus Infektion kann daher fast die gesamte Immunität eines Individuums vernichten und es anfällig für alle vorangegangenen Erkrankungen machen. Ziemlich tragisch. Bitte lasst eure Kinder Impfen.

Measles infections erase immunological memory - measles vaccination confers protection

Fußnoten

[1] Antibody-dependent enhancement - Wikipedia


Dieser Beitrag ist zuerst auf Quora als Antwort auf die Frage "Welche Eigenschaften benötigt ein Virus, um nach einer Genesung des Wirtes ein zweites Mal bei ein und demselben Wirt auszubrechen?" erschienen.