Große Teile der Schulen bleiben geschlossen. Pünktlich zum Ferienende brach erneut ein Glaubenskrieg darüber aus, welche Rolle Kinder & Schulen in der Pandemie spielen. Er ist genau so absurd, wie die Diskussion, ob Masken gegen eine durch Tröpfchen übertragene Atemwegserkrankung schützen.
Bevor ich kurz auf ein paar Studien dazu eingehe, möchte ich meine persönlichen Beobachtungen schildern. Ich bin Hausarzt und leite eine Praxis mit drei angestellten Kollegen. Wir betreiben seit vielen Monaten eine (gut gefüllte) Infektionssprechstunde.
In dieser Sprechstunde sehen wir JEDEN TAG Lehrer, Schüler oder Eltern schulpflichtiger Kinder mit COVID-19. Und das wundert uns nicht, denn es war schon immer offensichtlich, dass eine hochinfektiöse virale Atemwegserkrankung auch durch Kinder übertragen wird.
Wenige 100m von unserer Praxis entfernt befindet sich ein Schulcampus mit 5 weiterführenden Schulen. Noch Anfang Dezember habe ich dort regelmäßig dutzende Jugendliche ohne Abstand oder Maske an der Haltestelle, am Imbiss oder im Schulbus beobachtet.
Lehrer unter meinen Patienten berichten mir, dass Hygienekonzepte halbherzig (oder gar nicht) umgesetzt werden.
Immer wieder habe ich Schüler behandelt, die MIT TYPISCHEN SYMPTOMEN noch mehrere Tage zum Unterricht gegangen sind.
Schüler, die mit einem positiven Mitschüler im selben Klassenraum waren, galten laut Gesundheitsamt NICHT als Kontaktpersonen, weil sie nicht direkt neben dem Indexfall saßen (sondern 2-3 Tische weiter) und gingen deshalb weiter zur Schule - bis sie selbst Symptome hatten...
Kurz gesagt: Jeder, der Kinder hat (ich habe 4), weiß, dass Kinder jedes Jahr virale Atemwegsinfekte aus der Kita oder der Schule mit heimbringen.
Es gibt mittlerweile eine Reihe von Studien, die diese Zusammenhänge belegen.
- https://www.nature.com/articles/s41562-020-01009-0
„Among the six full-consensus NPI categories in the CCCSL, the largest impacts on Rt are shown by [...] closure of educational institutions (73%, and estimates for ΔRt ranging from −0.15 to −0.21).“
"Unter den sechs Vollkonsens-NPI-Kategorien (nicht-pharmazeutische Interventionen) in der CCCSL (COVID-19-Kontrollstrategien-Liste) zeigen sich die größten Auswirkungen auf Rt (Reproduktionszahl) durch [...] die Schließung von Bildungseinrichtungen (73 %, und Schätzungen für ΔRt im Bereich von -0,15 bis -0,21)." - https://www.thelancet.com/journals/laninf/article/PIIS1473-3099(20)30785-4/fulltext
„A decreasing trend over time in the R ratio was found following the introduction of school closure, [...] An increasing trend [...] was found following the relaxation of school closure, [...]“
"Nach der Einführung der Schulschließung wurde ein abnehmender Trend im Zeitverlauf der R-Kennzahl festgestellt, [...] nach der Lockerung der Schulschließung wurde ein zunehmender Trend [...] festgestellt, [...]" - https://jamanetwork.com/journals/jama/fullarticle/2769034
„In this US population–based time series analysis [...] school closure was associated with a significant decline in both incidence of COVID-19 [...] and mortality [...]“
"In dieser bevölkerungsbasierten US-Zeitreihenanalyse [...] war die Schließung von Schulen mit einem signifikanten Rückgang sowohl der Inzidenz von COVID-19 [...] als auch der Mortalität verbunden [...]" - https://www.thelancet.com/journals/lanpub/article/PIIS2468-2667(20)30133-X/fulltext
„Specifically, closing schools reduced deaths from 120 000 (95% PI 380–270 000) to 65 000 (150–260 000).“
"Speziell die Schließung von Schulen reduzierte die Zahl der Todesfälle von 120.000 (95% PI (Vorhersage-Intervalle) 380-270.000) auf 65.000 (150-260.000)."
Mir ist bewusst, dass es auch anderslautende Studien gibt. Die meisten, die mir bekannt sind, leiden jedoch unter mindestens einem der folgenden Problemen bzw. Bias.
- Sie stammen aus der Zeit des ersten Lockdowns.
- Sie stammen aus Ferienzeiträumen oder Zeiten der Niedriginzidenz im Sommer.
- Sie stammen aus Schweden, wo (m.E.) systematisch und gezielt das Infektionsgeschehen ignoriert wurde.
Mein Lieblings-Bias lässt sich jedoch beschreiben mit:
„Wenn Du keine Temperatur misst, stellst Du kein Fieber fest.“
(Samuel Shem, „House of God“, Regel Nr. 10).
Denn es ist z.B. praktisch unmöglich, bei einem Kindergarten-/Grundschulkind einen tiefen Nasen-Rachen-Abstrich zu machen, ohne dass dies zu einer traumatischen Erfahrung für das Kind (und den Untersucher wird).
Kinder sind, im Vergleich zu Erwachsenen außerdem besonders häufig wenig symptomatisch. Daher übersehen wir m.E. nach wie vor auch systematisch eine hohe Dunkelziffer an Infektionen bei Kindern.
Ja, ich weiß, dass Schule und soziale Kontakte für Kinder extrem wichtig sind.
Ich weiß, dass v.a. Kinder aus sozial benachteiligten Familien besonders unter Schulschließungen leiden. Kinder leiden aber deutlich mehr unter dem Verlust naher Angehöriger.
Nicht nur deshalb ist es ein Trugschluss, zu glauben, wir würden Kindern durch das schnelle Öffnen der Schulen einen Gefallen tun, denn dies wird zu einem Kontrollverlust im Infektionsgeschehen führen, und damit zu einem noch härteren „Rebound-Lockdown“.
Unsere Strategie muss daher heißen:
- Schulen geschlossen halten bis zur Pandemiekontrolle (ob #ZeroCovid, #GreenZone oder Inzidenz <30 ...)
- Hygienekonzepte, die nicht am Schulgelände enden (ÖPNV/Imbißbuden etc.)
- Priorisierte Impfung für Lehrer über 60 bzw. mit Risikofaktoren
- Nutzung aller Möglichkeiten von Hybrid-/Distanz-/Wechselunterricht
Ein letztes Wort zu meiner Fachgesellschaft "Deutsche Gesellschaft für Allgemeinmedizin und Familienmedizin" (DEGAM):
Ich nehme die Rolle der Deutschen Gesellschaft für Allgemeinmedizin als zunehmend realitätsfern und von der Basis entfremdet wahr.
Ich wünsche mir vom Präsidenten der DEGAM, Martin Scherer, dass er aufhört, sich wie Herr Gassen zu benehmen.