Bruxismus – wenn wir mit den Zähne knirschen
Wenn Menschen mit den Zähne knirschen, dann glauben viele von ihnen, sie seien krank.
Dabei ist zu 99% das Gegenteil der Fall – wir machen Bekanntschaft mit einem altbewährten Stresshormon-Entsorgungstrick.
Wenn wir in der Nacht mit den Zähnen knirschen, dann baut unser Organismus in aller Regel Stresshormone ab. Das ist ein evolutionär bedingter Vorteil und macht Sinn, sind Stresshormone doch einerseits sehr sinnvoll:
Wenn der Säbelzahntiger gebrüllt hat und wir schleunigst auf die Zuckerreserven aus unseren Muskeln zurückgreifen müssen, um das Weite zu suchen brauchen wir diesen lebenswichtigen biochemischen Schalter. Adrenalin und Norardrenalin bewirken eine Bereitstellung von muskelgespeicherter Reserven von Zucker in der Blutbahn. Als Überbleibsel im Kreislaufsystem sind Stresshormone allerdings nicht gesundheitsfördernd, weil sie auch gefäßverengend wirken und daher auch ein anderes - stets unerwünschtes - Potential zur Wirkung bringen, wenn sie nicht abgebaut werden.
Die nächtliche „Entsorgung“ dieser Stresshormone auf dem Weg des nächtlichen Zähneknirschens ist also zunächst eine absolut geniale und effektive Methode um zirkulierende, gefäßverengende Substanzen zu „entschärfen“. Wir sollten sehr dankbar sein, diesen Stresshormon-Entsorgungstrick in unserer angeborenen Trickkiste zu haben.
Gefährliche Begegnungen kamen zu früheren Zeiten recht selten vor. Sie sollten es auch bleiben. Leider leben viele von uns im Dauerstress - das Bild sei gestattet - umgeben von einer Säbelzahntigerhorde. Wenn es täglich erneut zu Ausschüttungen von Stresshormonen kommt, dann kippt die Nutzen-Schaden-Relation aus ihrer Balance und bringt auch den Stresshormon-Entsorgungstrick an seine Grenzen. Nächtliches Geknirsche kann dann zu einer mechanischen Belastung unserer Zähne werden. Säbelzahntiger begegnen dem sog. „zivilisierten“ Menschen heute in Gestalt von Terminen beim Einwohnermeldeamt, NachbarInnen mit gestörtem Verhältnis zur begrenzenden Heckenhöhe, dichtestress-garantierter Grundschulklassengröße, Wohnungsnot und, und, und...
Tricks, die Belastung deutlich zu reduzieren
Um den stressgeplagten Kauapparat zu relaxieren, gibt es ein paar einfache, aber in der Wirkung in meiner langjährigen Praxis bewährte, hocheffektive Tricks:
- Die Zähne sollten tagsüber keinen Kontakt miteinander haben – immer dann, wenn nicht gesprochen oder gegessen wird, sollte die Zunge zwischen den Zähnen „geparkt“ werden. ZahnärztInnen nennen diese Position des Kiefers „Ruheschwebelage“.
- Stresshormone sollte mit Hilfe von sog. isometrischen Übungen täglich abgebaut werden. Wer kein Sportstudio in der Nähe hat, kann sich mit Übungen, die zuhause durchgeführt werden, auf einfachem Wege gut helfen. Hierzu eignen sich z.B. Liegestützen sehr gut, Joggen weniger.
- Nachts, wenn wir nicht bewusst die Lage unseres Unterkiefers beeinflussen können, sollten wir in Belastungsphasen eine Zahnschiene tragen. Allerdings nicht länger als 4 Wochen am Stück – stets das Tragen der Schiene für eine Woche (oder auch länger) unterbrechen.
- Weiche Kost meiden (Brot mit harter Kruste bevorzugen, Möhren, Nüsse), weil mit weicher Kost die Kaumuskulatur stets unterfordert bleibt
Um das Thema herum werden viel Mythen verbreitet, es wird von insbesondere von ZahnärztInnen, die für sich eine „ganzheitliche“ Behandlungsweise für sich gepachtet haben, pathologisiert, dass bisweilen die Schwarte kracht.
So berichtet der Sender am NTV am 2.6.23 von hochdramatischen Symptomen, die in der Realität aber nie kausal mit Zähneknirschen oder auch -pressen miteinander verbunden sind, sondern - entgegen vieler (primär umsatzfördernder) Behauptungen - völlig getrennt von der Entität „Bruxismus“ zu bewerten sind:
„Halswirbelsäule und den gesamten Muskel- und Bandscheibenapparat der Wirbelsäule und der Kiefergelenke. Kopfschmerzen, Tinnitus, Migräne und sogar Bandscheibenvorfälle oder taube Finger und Kribbeln in den Armen können hier die Folge sein.“
Warnung
Bruxismus ist ein alltägliches und banales Symptom.
Dieses kann in 99% der Fälle sehr gut therapiert werden, aber Bruxismus sollte niemals als eine Eintrittskarte für unnötige Pathologisierung fungieren.
Zu den Gefahren einer völlig unnötigen Pathologisierung des nächtlichen Zähneknirschens gehören invasive Behandlungsmethoden, wie z.B. das komplette Überkronen von Zähnen eines oder beider Kiefer. Bevor solche unumkehrbaren Behandlungsschritte getätigt werden, sollte vorab stets ein Zweitmeinung eingeholt werden!
Weiterführende Literatur: DGFDT-Leitlinien: Diagnostik und Behandlung von Bruxismus