Ein fast vergessener Konflikt ist wieder in den Schlagzeilen, zumindest wenn man tief genug schaut. Doch womöglich explodiert er bald auf die Titelseiten.
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Die letzte Kolonie Afrikas | Zurück auf der Weltbühne | Wie es weitergehen könnte
(15 Minuten Lesezeit)
Blitzzusammenfassung_ (in 30 Sekunden)
- In der Westsahara schwelt einer der ältesten kalten Konflikte der Welt zwischen Marokko und der sogenannten Frente Polisario.
- Beide erheben Anspruch auf die Westsahara und führten 16 Jahre lang Krieg. Marokko kontrolliert einen Großteil des Gebiets.
- Seit 1991 gibt es ein Waffenstillstandsabkommen samt UN-Friedenstruppen.
- Nun erkennen die USA als erster Staat der Welt den marokkanischen Anspruch an – ein großer Erfolg für Rabat, ein empfindlicher Rückschlag für die Polisario.
- Und im November kam es zur ersten Gewalt zwischen den Fraktionen seit 29 Jahren.
- Droht eine neue Eskalation? Es gibt einige Hinweise darauf. Doch der Spielraum der Polisario ist begrenzt.
Die letzte Kolonie Afrikas_
Marokko und Israel unterschreiben ein Normalisierungsabkommen – das vierte israelische Abkommen mit der arabischen Welt in vier Monaten. Vermittelt wurde es durch die USA, welche schließlich ihren Bündnispartner im Nahen Osten stärken wollen.
Doch auf dem Verhandlungstisch lag etwas, dass es in sich hat: Die Westsahara.
Die USA erkennen im Gegenzug für die Normalisierung Marokkos Anspruch auf das Gebiet an. Das zwingt nicht nur einen der ältesten laufenden Konflikte der Welt wieder in die Schlagzeilen: Es könnte sogar den Startschuss für eine neue Eskalation bilden.
Gut zu wissen: Wir haben einen ausführlichen Explainer zu den "Abraham Accords", Israels Annäherung an seine arabischen Nachbarn geschrieben. Link
Nicht einfach nur ein Stück Wüste
Die Westsahara ist ein umstrittener Landstrich an der westafrikanischen Atlantikküste, gelegen zwischen Marokko, Mauretanien und Mali. Das Territorium gilt in der UN als "Hoheitsgebiet ohne Selbstregierung", was gewissermaßen nichts anderes als "Kolonie" bedeutet.
Damit ist die Westsahara auf der illustren Liste (unter anderem: Gibraltar, Cayman Islands, Französisch-Polynesien) der größte und bevölkerungsreichste Eintrag. Auf rund 266.000 Quadratkilometern – der Fläche Großbritanniens – leben 600.000 Menschen. Das macht es gleichzeitig zu einem der am dünnsten besiedelten Gebiete der Welt.
Bis 1975 war die Westsahara Teil des schwindenden Kolonialreichs Spaniens. Zu der Zeit übergab Madrid das Gebiet an die Nachbarstaaten Marokko und Mauretanien, welche seit Jahren Anspruch darauf erhoben hatten. Die beiden verloren keine Zeit: Sie marschierten umgehend ein und besetzten zwischenzeitlich drei Viertel des Gebiets. Marokko kontrollierte den Norden, Mauretanien den Süden.
Gut zu wissen: Marokko beschleunigte Spaniens Abzug mit dem "Grünen Marsch": Rund 350.000 zivile Marokkaner marschierten, eskortiert von 20.000 marokkanischen Soldaten, in die Westsahara ein. Spanien hatte wenig Lust auf blutigen Kolonialkrieg und setzte das Madrid-Abkommen auf. Darin übergab es die Westsahara an Marokko und Mauretanien unter der Bedingung, dass die Interessen der lokalen Saharauis berücksichtigt würden.
Doch bei ihrem Einmarsch stießen die zwei Länder auf die lokale Miliz Frente Polisario, zusammengesetzt aus saharauischen Stämmen. Sie hatte bereits seit 1973 gegen Spanien gekämpft, um einen unabhängigen Sahara-Staat zu schaffen. Nun rief sie die Demokratische Arabische Republik Sahara (DARS) aus und bekämpfte die einmarschierenden Nachbarländer. Das begann einen 16-jährigen Krieg bis 1991.
Anfangs verbuchte die Polisario Erfolge: Sie konnte Mauretanien zurückschlagen und in einen Waffenstillstand zwingen. Doch Marokko eroberte kurzerhand auch den Süden der Westsahara. Die UN mischte sich 1979 ein. Eine Resolution erkannte das Recht der saharauischen Stämme auf Selbstbestimmung an, bezeichnete die Polisario als deren Vertreter und verurteilte die marokkanische Besatzung.
Gut zu wissen: Der Internationale Gerichtshof erkannte 1975 zwar die "historischen Verbindungen" Marokkos und Mauretaniens in die Region an, doch erklärte, dass diese keine hinreichende Bedingung für Besitzanspruch bildeten.
Im Jahr 1991 folgte dann der Waffenstillstand zwischen Polisario und Marokko. Die Polisario kontrollierte zu diesem Zeitpunkt noch ein Drittel des Landes, genauer einen Wüstenstreifen im Osten – sowie vier Flüchtlingslager in Algerien, in welchen rund 100.000 Menschen leben. Die gesamte Atlantikküste, darunter ein fruchtbares Stück Land im Nordwesten (das "nützliche Dreieck") hält Marokko. Dort leben 95 Prozent der Westsahara-Einwohner.
In den Waffenstillstand war auch die UN involviert. Diese ist über ihre Mission MINURSO mit Friedenstruppen vor Ort, um die Einhaltung des Abkommens zu überwachen.
Um den Konflikt auf Dauer zu lösen, planten die Konfliktparteien ein Referendum. Dieses solle entscheiden, ob die Westsahara autonomer Teil Marokkos oder unabhängig wird. Doch damit hörten die Probleme keineswegs auf. Denn die Konfliktparteien können sich bis heute trotz regelmäßiger UN-Mediation nicht darauf einigen, wie das Referendum aussehen soll.
Marokko will gar nicht erst nach Unabhängigkeit fragen lassen, die Polisario gibt sich nicht mit Autonomie zufrieden.
Zuletzt gab es Dezember 2018 eine Runde, doch diese führte wie vorherige Anläufe nirgendwohin. Gerade Marokko zweifelt an dem Referendum, erklärte den Ansatz gar vor zwanzig Jahren für gescheitert.
Kein Wunder: Der Status Quo ist für das Königreich sehr attraktiv.
Gut zu wissen: Der UN-Sondergesandte für die Westsahara war bis vor einem Jahr niemand anderes als Ex-Bundespräsident Horst Köhler. Ihm gelang es immerhin, die Konfliktparteien an einen Tisch zu bekommen.
Eine Mauer im Sand
Um seinen Anspruch auf die kontrollierten Gebiete zu zementieren, hat Marokko eine Mauer an der Grenze zum Polisario-Territorium errichtet. Diese ist mit 2.700 Kilometern fast doppelt so lang wie die innerdeutsche Grenze. Sie besteht größtenteils aus Sand und könnte mit ihren zwei bis drei Metern Höhe aus der Ferne fast für eine kleine Düne gehalten werden.
Doch die Mauer ist hochmilitarisiert. Sie bildet das längste zusammenhängende Minenfeld der Welt, mit mehreren Millionen Minen. Dazu kommen in regelmäßigen Abständen Bunker, Artilleriestellungen, Militärlager und Flugfelder der marokkanischen Armee.
Fragt man die Polisario, ist es die "Mauer der Schande"; fragt man Marokko, ist es lediglich eine innermarokkanische Sicherheitslinie, welche den Einstrom von Separatisten verhindern soll. Schließlich habe man auch Anspruch auf das Gebiet auf der anderen Seite des Walls, so die Ansicht Rabats.
Jenseits der Mauer, in der Polisario zugesprochenen "Freien Zone", liegt pure Wüste. Nur einige Zehntausend Nomaden leben dort in Oasenstädten (der Großteil der Saharauis lebt inzwischen in den algerischen Flüchtlingslagern). Polisario-Truppen patrouillieren das Gebiet und haben dort Militärinfrastruktur.
Zwischen der "Freien Zone" und den marokkanischen Stellungen befindet sich eine von der UN festgelegte und überwachte Pufferzone, eine Art Niemandsland. Fragt man Marokko, ist die gesamte "Freie Zone" die Pufferzone und jegliche militärische oder zivile Aktivität darin ist verboten. Die Polisario weist diese Interpretation des Waffenstillstandsabkommens zurück.
Gut zu wissen: Menschenrechte? Werden mutmaßlich auf beiden Seiten missachtet, so NGOs. Marokko schränke die Rechte von Saharauis in der kontrollierten Westsahara ein und lasse Aktivisten verschwinden; die Polisario rekrutiere Kindersoldaten und gehe unrechtmäßig mit marokkanischen Kriegsgefangenen um.
Siedeln in der Sahara
Marokko schafft nicht nur mit Mauern Tatsachen. Das Land siedelt seit 1975 eigene Bürger in der Westsahara an. Rund 300.000 zugewanderte Marrokaner dürften es inzwischen sein, womit sie die Mehrheit in dem Territorium bilden.
Allerdings führte das 2003 zu einer paradoxen Situation: Die UN bot an, dass beim lang erwarteten Westsahara-Referendum auch die marokkanischen Siedler abstimmen dürften. Die Polisario stimmte zu. Doch Marokko lehnte ab.
Wieso? Offiziell lehnt Marokko jedes Referendum ab, welches Unabhängigkeit beinhaltet.
Doch ein wichtigerer Grund könnte die ethnische Zusammensetzung der Siedler gewesen sein: Womöglich waren es trotz großzügiger staatlicher Förderungsleistungen vor allem um marokkanische Saharauis, welche in die Westsahara zogen. Also genau die Volksgruppe, welche die Polisario vertritt. Rabat könnte befürchtet haben, dass deren Loyalität angesichts eines UN-gestützten Unabhängigkeitsreferendums doch ins Wanken gerät.
Warum wird um die Westsahara gestritten?
Sonderlich spannend ist die Westsahara als Territorium nicht. Es gibt bescheidene Phosphat-Vorräte (welche in der Landwirtschaft und bei der Konsumgüterherstellung zum Einsatz kommen) und Hinweise auf Erdgas- und Ölfelder. Ob diese wirtschaftlich erschließbar sind, ist allerdings fraglich. Nach Einschätzung der UN wäre die Erschließung außerdem illegal, da die Westsahara ja nun mal als "Hoheitsgebiet ohne Selbstregierung" eingestuft ist.
Gut zu wissen: In unserem Explainer zum Gasstreit im östlichen Mittelmeer erklären wir, warum ein Erdgasfeld nicht unbedingt wirtschaftlich ertragreich sein muss. Link
Am lukrativsten sind noch die reichen Fischereibestände vor der Atlantikküste, weswegen zwei Drittel der Bevölkerung auch in der Fischindustrie arbeiten. Doch Überfischung droht regelmäßig zu schwindenden Oktopuszahlen zu führen, was die hiesige Wirtschaft belastet.
Die Westsahara ist also kein El Dorado im klassischen Sinne. Im Gegenteil: Sie ist eine Bürde für Marokko.
Das Land gibt laut amerikanischen Geheimunterlagen aus 2005 rund 160 Millionen USD pro Jahr aus, um das Leben in der Region zu subventionieren, Siedler anzulocken und Wirtschaftswachstum zu generieren. Das sei pro Kopf gerechnet eines der größten Investitionsprogramme in der Menschheitsgeschichte, so der damalige US-Botschafter in einer Depesche.
Kein Wunder, schließlich muss Trinkwasser teuer gefördert werden, wird aber für den nationalen Preis – weniger als ein Zehntel – verkauft. Treibstoff wird zur Hälfte subventioniert. Infrastruktur für das wichtige Militär muss gebaut werden. Die nicht allzu maritimen Saharauis müssen für den Einsatz in der Fischindustrie ausgebildet werden. Und um die Privatwirtschaft in Gang zu kriegen, zahlten Geschäfte zumindest vor 15 Jahren noch keinerlei Steuern.
Für Marokko geht es deswegen viel mehr um nationale Souveränität als wirtschaftliche Interessen. Das Königreich betrachtet die Westsahara als natürlichen Teil seines Staatsgebiets und nennt sie "Südliche Provinzen". In der Bevölkerung gilt die Westsahara als Frage des nationalen Stolzes.
Gut zu wissen: Die marokkanischen Nationalisten, welche rund um 1960 viel Einfluss hatten, verfolgten gar die Vision eines Großmarokko, angelehnt an das Herrschaftsgebiet der mächtigen arabischen Almoraviden-Dynastie vor 900 Jahren.
Zurück auf der Weltbühne_
Die Lage sieht also folgendermaßen aus: Marokko weigert sich, über Unabhängigkeit zu sprechen; die Polisario lehnt einen Autonomiestatus ab. Auch die internationale Gemeinschaft weiß nicht so recht, wie es weitergehen soll. Und ehrlicherweise ist das Interesse am Konflikt abseits der Region recht gering.
Die von der Polisario ausgerufene Demokratische Arabische Republik Sahara (DARS) wird von 47 Ländern der Welt als Staat anerkannt. Am wichtigsten ist die Unterstützung durch Algerien. Das Nachbarland behaust nicht nur einen großen Teil der saharauischen Bevölkerung, verteilt in vier Flüchtlingslagern unter DARS-Kontrolle, sondern auch die Polisario-Führung.
Algerien stand von Beginn an aufseiten der DARS. Es versuchte bereits 1975 Spanien daran zu hindern, die Westsahara an Marokko und Mauretanien zu geben und unterstützte die Polisario-Separatisten mit Waffen und Material. Es entsandte gar eigene Truppen in die Westsahara, doch zog sich nach einer verlorenen Schlacht gegen Marokko wieder zurück.
Für Algerien dürfte es darum gegangen sein, den Einfluss seines Nachbarlands Marokko zurückzudrängen und Zugang zum Atlantik zu erlangen. Die Beziehungen zwischen Algier und Rabat sind traditionell schwierig. Marokko wirft der Polisario deswegen vor, eine Separatistengruppe unter algerischer Kontrolle zu sein.
Neben Algerien unterstützen auch zahlreiche afrikanische Staaten die DARS, wenn auch nur rein politisch. Der selbsternannte Staat ist Teil der Afrikanischen Union, weswegen Marokko bis 2017 auch mehrere Jahrzehnte lang aus Protest nicht Teil der Organisation war.
Gut zu wissen: Einige Forscher sehen einen weiteren, etwas idealistischeren Grund für Algeriens Unterstützung der DARS: Sympathie für vermeintlich unterdrückte Völker sei quasi in der politischen DNA des Landes, welches immerhin aus einem blutigen Unabhängigkeitskrieg gegen Frankreich hervorging. Das würde sich auch in Algeriens Unterstützung für die Palästinenser und der (selbst für arabische Maßstäbe) ausgeprägten Feindseligkeit gegenüber Israel zeigen.
Marokkos Stellung in der Welt
Während die DARS offen anerkannt wird, zeigen sich Rabats Unterstützer eher bedeckt. Vor allem arabische Länder sympathisieren mit der marokkanischen Position. Und im Laufe der Zeit akzeptierten immer mehr Staaten den Status Quo. Das hat dazu geführt, dass Länder ihre Anerkennung der DARS zurückzogen: Von einst 84 ist jetzt nur noch etwas mehr als die Hälfte übrig geblieben.
Westliche Länder lehnen Marokkos Position ab, zeigen aber hin und wieder eine gewisse stillschweigende Akzeptanz. So hat Frankreich sehr gute Beziehungen zu Marokko, lobte das Land jüngst für seine Bemühungen zur Stabilisierung der Region und exportierte immer wieder Rüstungsgüter.
Und Rechtsexperten des EU-Parlaments kritisierten die Europäische Union 2010 dafür, dass ihre Fischereiabkommen mit Marokko auch die Gewässer vor der Westsahara umschließen. Bis heute hat sich daran nicht viel geändert. Auch Phosphate aus der Westsahara werden in alle Welt exportiert.
Doch offiziell äußert sich die internationale Gemeinschaft recht eindeutig: Die EU nennt die Westsahara "nicht Teil des marokkanischen Territoriums" und die UN bezeichnete die Situation jüngst 2016 als eine "Besatzung" (woraufhin Marokko dutzende UN-Mitarbeiter des Landes verwies). Kein Staat der Welt stellte sich offiziell hinter Marokko.
Bis jetzt.
Ein Tweet und 40 Jahre Außenpolitik
Die USA erkennen Marokkos Anspruch auf die Westsahara an. Für Rabat ist das der größte außenpolitische Erfolg, den sie sich hätten vorstellen können. Normalisierung mit Israel – welche 88 Prozent der Marokkaner explizit ablehnen (Arab Opinion Index, 2019-20) – ist dafür ein kleiner Preis.
Die Entscheidung ist eine Abkehr von Jahrzehnten US-amerikanischer Außenpolitik. Frankreichs früherer UN-Botschafter Gérard Araud schrieb mit Bezug auf Trumps Verkündung: "In der kleinen Welt der Diplomatie ist das eine Bombe. Vierzig Jahre Debatten ausgelöscht in einem einzigen Tweet".
Gut zu wissen: In einer Hinsicht verstehen sich Marokko und Israel seit Jahren wunderbar: Iran. Rabat wirft Teheran und der Hisbollah vor, die Polisario militärisch zu unterstützen. Im Jahr 2018 brach Marokko deswegen die diplomatischen Beziehungen zu Iran ab.
Marokko wird hoffen, dass es auf dem Erfolg aufbauen kann. Jetzt, wo die erste offizielle Anerkennung steht, und von niemand geringerem als den USA, könnten weitere folgen. Die Hauptpreise sind wirtschaftliche und politische Schwergewichte wie die EU, China oder Russland.
Präsident Trump findet die Anerkennung derweil nur fair: Schließlich war Marokko das erste Land, welches die junge USA 1777 anerkannt hatte. Kosmisches Karma, gewissermaßen. Doch es könnte schnell zu Chaos führen.
Wie es weitergehen könnte_
Die Polisario und Algerien sind schockiert über Trumps Anerkennung der marokkanischen Position. Sie sei ein "eklatanter Verstoß" gegen UN-Beschlüsse und behindere Versuche, eine Lösung zu finden.
Damit dürfte die Polisario recht haben. Sie ist zunehmend frustriert über die mangelnde Dynamik im Streit. Nicht nur, dass die Diplomatie zu wenig Resultaten führt: Die Diplomatie kommt nicht einmal wirklich in Fahrt.
Seit 1991 gab es nur eine überschaubare Zahl an Gesprächsrunden, um ein Referendum zu organisieren. Keine davon führte weit. Schon 2000 erklärte Marokko den Ansatz für gescheitert. Vor zwei Jahren gab es noch einmal Gespräche, doch auch diese scheiterten und seitdem geschah nichts mehr. Der UN-Posten des Sondergesandten für die Westsahara ist seit anderthalb Jahren unbesetzt.
Eine ganze Generation an Saharauis hat damit keinerlei Bewegung in ihrer Sache miterlebt. Das ist ein Rezept für Frust und folglich für Eskalation.
Die Anerkennung durch die USA facht die angespannte Lage nur weiter an. Sie ändert die Rechnung für die Polisario: Hält die Gruppe weiter an einem langsamen diplomatischen Prozess mit zunehmend wenig Erfolgsaussicht fest, riskiert sie, dass Marokko nach und nach mehr Unterstützung erhält.
Eskaliert sie die Lage hingegen, zwingt sie die Welt, genauer hinzuschauen. Die Staaten des Westens, deren wählenden Bevölkerungen schließlich (mit Ausnahmen) ein Faible für Unabhängigkeitsbestreben und Underdog-Storys haben, werden Druck auf Marokko ausüben müssen. Dasselbe gilt für die UN.
Konflikt birgt zwar allerlei Gefahren für die Polisario – doch auch die Chance, den zunehmend ungünstigen Status Quo aufzuwirbeln.
Gut zu wissen: Auch in seinen eigenen Reihen ist die Entscheidung von US-Präsident Trump umstritten: Senator Jim Inhofe (Rep) nennt sie "schockierend und zutiefst enttäuschend". Trump hätte eine Israel-Normalisierung auch erreichen können, "ohne die Rechte eines stimmlosen Volkes zu handeln".Ein Hauch von 1975
Einen Beweis für den aufgestauten Frust gab es im November dieses Jahres.
Erstmals seit 29 Jahren brachen wieder Kämpfe zwischen Marokko und Polisario aus. Wer sie verursacht hat, ist wie immer unklar. Marokko warf der Polisario vor, vier Wochen lang eine wichtige Autobahn beim Grenzübergang Guerguerat zu Mauretanien blockiert und UN-Truppen attackiert zu haben (die UN dementierte zweiteres später). Also löste Marokko die Blockade mit Truppen auf.
Die Polisario erklärte, dass es sich um einen spontanen Protest von desillusionierten saharauischen Aktivisten gehandelt habe und sie nichts damit zu tun gehabt hätte. Zudem sei der Eingriff der marokkanischen Truppen illegal gewesen, da er in der UN-Pufferzone stattgefunden hätte.
Beide Seiten warfen sich also vor, die Grenze überschritten und das Waffenstillstandsabkommen gebrochen zu haben. Die Polisario sprach explizit von einer Kriegserklärung Marokkos. Falls dich das beispielsweise an unseren Explainer zu Bergkarabach erinnert, hat das schon seine Gründe.
Die UN berichtete daraufhin von Schusswechseln an mehreren Orten; Polisario bestätigte, marokkanische Stellungen attackiert zu haben. Opfer sind keine bekannt. Was in den rund drei Wochen seit dem Vorfall passiert ist, ist nicht klar. Großflächige Auseinandersetzungen gab es scheinbar noch keine. Der Vorstoß der US-Regierung könnte neuen Anreiz zur Eskalation bieten.
Konflikt birgt Chancen und Gefahren
Für die Polisario ist Konflikt mit Marokko nicht nur sinnvoll, um die Welt aufzurütteln. Er ist auch zunehmend wichtig für ihr eigenes Überleben. Nicht unähnlich zu Gruppen wie der Hamas im Gazastreifen bezieht die Polisario ihre Legitimation daraus, dass sie die saharauische Sache vertritt – und zwar diplomatisch und militärisch. Die wenigen Resultate der letzten zwanzig Jahre bringen sie intern in Erklärungsnot (spanisch).
Militärischer Konflikt mit Marokko schafft eine neue Daseinsberechtigung für die Polisario. Und zwar sowohl intern, gegenüber der saharauischen Bevölkerung in der "Freien Zone" und in algerischen Flüchtlingslagern, als auch gegenüber den internationalen Unterstützern, allen voran Algerien.
Einen vollwertigen Krieg kann sich die Polisario allerdings nicht leisten. Die Gruppe ist zwar verhältnismäßig hochgerüstet, doch mit Marokko – der fünftgrößten Volkswirtschaft Afrikas – kann sie sich nicht messen. Sie kann den Konflikt nicht militärisch gewinnen. Sie kann ihn nur als Hebel nutzen, um ihre Verhandlungsposition gegenüber Marokko zu verbessern.
Ein limitierter Konflikt wäre das strategisch sinnvollste für die Polisario. Er wirbelt Staub auf, bringt die Welt dazu, ihr Festhalten an einer Verhandlungslösung zu bekräftigen und festigt die Polisario intern.
Marokko hat derweil recht wenig Interesse an einer Auseinandersetzung: Der Status Quo passte dem Königreich wunderbar, insbesondere, da nun internationale Anerkennung in Reichweite gerückt ist. Es sollte also nur das nötigste tun. Doch je mehr Ärger die Polisario schafft, umso stärker könnte der innenpolitische Druck werden, mit Stärke zu reagieren.
Verschätzen sich Polisario oder Marokko, wäre das fatal für die Region. Ein großflächiger Konflikt, welchen die Staatengemeinschaft nicht robust genug deeskaliert, würde eine humanitäre Krise bedeuten und könnte den Nährboden für islamistische Terrorgruppen bieten. Diese sind in der nahen Sahelzone (dem südlichen Ausläufer der Sahara) ohnehin bereits ein Machtfaktor und destabilisieren beispielsweise Mali, Nigeria und Burkina Faso seit Jahren.
Ausländische Staaten könnten aus dem Konflikt einen Proxykrieg à la Jemen oder Syrien machen: Gäbe es den Verdacht, dass Iran die Polisario unterstützt, hätten Saudi-Arabien oder Israel genug Grund, Marokko zu unterstützen. Der Konflikt würde länger und komplexer werden. Algerien und Marokko würden gefährlich nah aneinander geraten.
Was sind die Wege heraus?
Eine Lösung des Konflikts ist nicht absehbar. Die Forderung der Polisario nach einer unabhängigen Westsahara unter dem Banner der DARS ist für Marokko inakzeptabel. Rabat wird jedes Referendum, welches die Unabhängigkeit auf dem Zettel stehen hat, kategorisch ablehnen. Dass die Polisario genug internationalen Druck auf Marokko aufgebaut bekommt, ist nicht wahrscheinlich.
Aussichtsreicher ist eine Variante des marokkanischen Vorschlags: Weitreichende Autonomie für die Westsahara als Teil Marokkos. Der Vorschlag wäre der Polisario eventuell verkaufbar, je nachdem wie weitreichend die Autonomie ist und welche Rolle die Gruppe im neuen Gebilde einnimmt.
Ein Autonomiestatus ist wohl auch zu bevorzugen, wenn es um die Stabilität der Region geht. Was auch immer man von Marokkos Anspruch hält: Der Staat ist stabil und regierungsfähig. Ob die Polisario imstande wäre, die gesamte Westsahara zu verwalten, käme einem Experiment gleich. Misslingt es ihr, wäre Instabilität die Folge. Im schlimmsten Fall wäre das Resultat ein gescheiterter Staat mit hoher Attraktivität für islamistische Milizen.
Gleichzeitig würde ein Autonomiestatus bedeuten, dass die Saharauis auch 45 Jahre nach der Dekolonialisierung durch Spanien ihre Hoffnungen auf ein vollwertiges Selbstbestimmungsrecht beerdigen müssten. Das dürfte für das Volk schwer wiegen.
Je mehr die Polisario sieht, dass diplomatische Bemühungen ins Leere laufen, umso eher wird sie bereit sein, einen solchen Kompromiss einzugehen. Die aktuellen Spannungen könnten also paradoxerweise ein Prolog für einen Verhandlungsdurchbruch sein, sollte die Polisario realisieren müssen, dass auch das jüngste Gambit nur wenig strategischen Fortschritt gebracht hat.
Dagegen spricht ein Argument, welches ähnlich bei der palästinensischen Hamas angewandt wird: Wie viel Interesse hat die Polisario an einer Verhandlungslösung, welche sich kaum mit ihrer historischen Mission von Kampf und Unabhängigkeit in Einklang bringen lässt?
Die Polisario könnte ihr politisches Überleben im Zweifelsfall voranstellen und sich auf einen langen, komplizierten Konflikt einlassen.
In den Worten von Polisarios UN-Botschafter Omeima Abdeslam: "Der Hass in den Herzen unseres Volkes ist größer als welche Waffen Marokko auch immer haben mag."
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