Ein Jahr lang „Querdenken“ hieß für mich: einmal pro Woche auf eine Demo, Gespräche führen, Fotos machen – und mich beschimpfen lassen. Damit ist jetzt Schluss. Ein Fazit.
Es ist schon spät am Abend, als mir klar wird, dass es zu viel geworden ist. Ich liege im Bett, der Kopf brummt vom Tag und der Schlaf will nicht kommen. Einigen Stunden zuvor, am Reutlinger Marktplatz, hatte ich einen Mann mit Trump-Mütze fotografiert, was ihm nicht sonderlich gefiel. Die „Querdenken“-Organisatoren sahen in der Mütze kein Problem, sehr wohl aber in mir. Das Foto solle ich löschen, ich mich hier nie wieder blicken lassen. „Wir wissen, wo Sie wohnen“, hatte man mir gesagt.
Inzwischen gehört das schon zur Routine. Im vergangenen Jahr wurde ich regelmäßig bedroht, mal mehr, mal weniger glaubwürdig. Man hatte mich beschimpft, geschubst – schlimmeres ist zum Glück nie passiert. Doch diesmal, dachte ich, war es anders. Eine Kleinstadt, kurze Wege – sollte sich tatsächlich jemand die Mühe gemacht haben, meine Reutlinger Anschrift herauszubekommen?
Vor meinem Fenster sehe ich Licht aufsteigen. Ein Auto nähert sich. Jetzt kommen sie, dachte ich, wollen mit mir, der „Systempresse“, ein Gespräch führen, vielleicht sogar Schlimmeres. In Duckhaltung laufe ich zum Fenster. Ein Auto parkt mühsam ein. Kein Angreifer der Welt, denke ich, würde sich die Mühe machen, so genau einzuparken. Am nächsten Morgen ist das Hirngespinst verflogen. Ich bin in Sicherheit.
Ich habe keine Lust mehr auf „Querdenken“. Das Jahr als Begleiter dieser Bewegung war aufregend und aufreibend zugleich, ich durfte mehrere Artikel verfassen, Podcasts einsprechen, war als Experte im Radio und im Fernsehen eingeladen und habe wahnsinnig viel gelernt. Wäre da nicht diese Müdigkeit: ein Gefühl, dass die ganze Sache nicht mehr zu retten sei, dass der Spalt, der inzwischen quer durch Gesellschaft und Politik verläuft, ohnehin nicht mehr zu kitten ist.
Als ich mit der Recherche angefangen habe, war ich verärgert von anderen Medienschaffenden, die es sich meiner Meinung nach in der Bewertung der Bewegung zu einfach machten, wenn sie sie lediglich auf ihre rechtsradikalen Einschläge reduzierten. Heute, wo „Querdenken“ massiv an Zulauf verliert, frage ich mich: habe ich das ganze von Anfang an überschätzt? Ist „Querdenken“ nur ein Misthaufen in der Geschichte – und ich habe sie mit meiner Twitter-Reichweite auch noch bekannter gemacht?
„Querdenken“ ist und bleibt eine sehr spezielle Bewegung, ebenso eigenartig ist ihr Verhältnis zur Presse, die sie einerseits beschimpfen, andererseits Artikel der „Mainstreampresse“ anführen, um sich über Maskenskandale und andere Aussetzer der Politik zu echauffieren. Oliver Nachtwey von der Universität Basel stellte fest, dass die Mitglieder „zum Teil von links kommen, aber nach rechts gehen.“
Bei meinem ersten Besuch auf einer Demo am 9. Mai 2020 war ich von der Vielschichtigkeit überrascht, umso mehr aber davon, wie einfach es offensichtlich ist, eine breite Masse hinter sinnentleerten Sprüchen und Hohlphrasen zu vereinigen. Der einzige Nenner, auf den sich die Teilnehmer:innen einigen konnten, war, dass es so nicht weitergehen könne – und auf die Eliten kein Verlass sei. Dies war Fluch und Segen zugleich: auf der einen Seite findet man schnell Gleichgesinnte, wenn man alles Bestehende in destruktiver Weise ablehnt. Auf der anderen ist es nun auch der Grund, warum in der langsam aufziehenden Normalität nach Corona die Bewegung auseinanderfliegt.
Die letzten Versammlungen der Coronamaßnahmen-Kritiker waren allesamt ein Flop. Noch hofft man, im August an die Erfolge aus dem Vorjahr anzuknüpfen, wo man es auf mehrere zehntausend Teilnehmer:innen geschafft hatte. Aktuell müssten die Initiatoren glücklich sein, wenn sie wenigstens ein paar Hundert zusammentrommeln. Die Impfungen, das gute Wetter, die allgemeine Erleichterung: das alles nimmt der Bewegung zurzeit den Wind aus den Segeln. Auch die prognostizierten Todeszahlen durch die Impfung bleiben aus. Höchstens steigende Fallzahlen zum Herbst könnten „Querdenken“ einen neuen Schub geben. Doch mit jeder Öffnung schwindet die Notwendigkeit, überhaupt noch zu demonstrieren.
In einem Artikel für ndAktuell bezeichnete ich die Bewegung als Aufstand des deutschen Spießbürgers. „Querdenken“ war nie eine junge, hippe Bewegung, auch wenn sie sich gerne nach außen so dargestellt hat. Es war ein Zusammenschluss von Privilegierten, die um ihre verlorene Freiheit fürchteten und nicht verstehen wollten, dass es aktuell wichtigere Probleme gab. Dazwischen viele Verunsicherte, die durch die Corona-Maßnahmen tatsächlich um ihre Existenz fürchten mussten – und Menschen, deren Leben nicht so verlaufen war, wie sie sich das vorgestellt hatten und einen Sündenbock brauchten.
Ich habe gerne über „Querdenken“ berichtet. Ich wollte zuhören, verstehen, warum jede:r Einzelne hier hin gekommen war. Daraus haben sich teilweise sehr ehrliche und auch berührende Gespräche ergeben. Doch ließ mich das Gefühl nicht los, dass der kurze Funken Einsicht, den ich nach mancher Diskussion aufkommen sah, im nächsten Moment schon wieder verflog. Manchen Menschen ist vermutlich nicht zu helfen.
Was soll man mit Menschen machen, die davon überzeugt sind, gegen eine Diktatur zu kämpfen? Sie stehen morgens auf, in ihrem sicheren Leben, dass sie führen und fahren einmal pro Woche mit Pauken und Trompeten zur nächstgelegenen Demonstration. Dort sind sie wichtig, dort sind sie Freiheitskämpfer, im Duell mit dem sie unterdrückenden Staat, dessen falsches Spiel sie nun durchschaut haben. Sei es aus Langeweile, sei es aus intellektueller Kurzsichtigkeit: ein solches Weltbild – das tapfere Volk gegen den totalitären Staat – gibt dem Tag Struktur und macht Spaß.
Auf jede Demonstration mit laut brüllenden, uneinsichtigen Menschen folgten bei mir drei Tage schlechte Laune, die eigentlich nur durch einen schönen Abend mit Freunden unterbrochen werden konnten. Genau dies war in den vergangenen Monaten kaum möglich. Nun, mit dem beginnenden Zerfall der Bewegung, möchte ich mich mit anderen Themen beschäftigen. Nicht, weil die Gefahr durch „Querdenken“ nun gebannt ist – sondern weil ich nicht mehr kann.
Das Spektrum der Bewegung zerfasert sich, einige haben sich der neuen Partei „Die Basis“ zugewandt, andere wollen weiter demonstrieren, ein nicht unerheblicher Teil der früheren Bewegung ist anscheinend in den freiheitskämpferischen Ruhestand gegangen. Ihnen ist schlicht der Grund zum Demonstrieren abhanden gekommen.
Für einige war die Sache nicht mehr als ein Happening, ein Nachholen der ausgebliebenen Pubertät. Man konnte sich nach Herzenslust mit der Polizei anlegen, die Welt als ungerecht und gegen sich gerichtet empfinden. Für andere war es ein Kampf aus tiefster Überzeugung, gegen ein korruptes System, dass es zu stürzen gilt. Vor diesen Leuten sollten wir uns in Acht nehmen.
Die Gelegenheiten, an denen sich elitenfeindlicher Protest erneut entzündet, werden kommen – spätestens, wenn die Natur uns erneut dazu zwingt, unser Leben herunterzufahren, sei es durch Stürme, Überflutungen oder einen neuen Virus. Man kann die Corona-Krise mit ihren Protesten als einen demokratischen Gradmesser ansehen. So gesehen ist es beruhigend, wie viele Menschen sich ohne Murren eine Maske aufgesetzt haben und Abstand hielten. Sie bilden, damals wie heute, die Mehrheit im Lande.
Ich möchte mich bei den vielen Menschen bedanken, die mich immer wieder, sei es emotional oder finanziell, in den letzten Monaten unterstützt haben und ohne die ich mit Sicherheit nicht so lange dabeigeblieben wäre. Und ich freue mich sehr, meinen Teil zur Einordnung dieser Bewegung beigetragen zu haben. Die nächsten Themen werden kommen und ich bin mir sicher, dass es nicht das letzte mal war, dass ich mich mit „Querdenken“ beschäftigten werde – aber hoffentlich nicht mehr im direkten Austausch mit dessen Mitgliedern. Das ist einfach zu anstrengend.
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