Die Bewegung der Gemeinwohl-Ökonomie hat sich seit 2010 von Österreich, Bayern, Südtirol und Teilen der Schweiz auf 30 Staaten ausgebreitet. Immer mehr Unternehmen, Kommunen und Bildungseinrichtungen beteiligen sich. Kann die GWÖ das Wirtschaftsmodell der Zukunft werden?

Nicht nur die Demonstrierenden an Fridays for Future wünschen eine Änderung der aktuellen Wirtschaftsweise. Eine Umfrage der Bertelsmann-Stiftung ergab, dass 88 Prozent der Menschen in Deutschland und 90 Prozent in Österreich eine „neue Wirtschaftsordnung“ wünschen. Die Gemeinwohl-Ökonomie ist ein innovatives Wirtschaftsmodell, das seit 2010 international Resonanz erzeugt. Die tragenden Säulen der Gemeinwohl-Ökonomie sind dabei nicht „neu“, sondern zeitlose Ziele und Verfassungswerte. Die bayrische Verfassung besagt: „Die gesamte wirtschaftliche Tätigkeit dient dem Gemeinwohl.“ (Art. 151) Das Grundgesetz sieht vor, dass „Eigentum verpflichtet“ und „sein Gebrauch zugleich dem Wohl der Allgemeinheit dienen soll“ (Art. 14).

Gemeinwohlprodukt und Gemeinwohlbilanz

Das Gemeinwohlziel wird aber heute in der realen Wirtschaft nicht gemessen. Es fehlen die geeigneten Erfolgsparameter. Heute bilden das Bruttoinlandsprodukt (Volkswirtschaft), der Finanzgewinn (Unternehmen) und die Finanzrendite (Investition) die zentralen Erfolgsmaßstäbe. Sie messen jedoch nur die Verfügbarkeit der Mittel und können daher gar nichts Verlässliches über die Zielerreichung aussagen. Künftig könnte ein „Gemeinwohl-Produkt“, das sich zum Beispiel aus Indikatoren für Gesundheit, Wohlbefinden, Bildung, Teilhabe, sozialer Zusammenhalt, ökologische Stabilität, Sicherheit und Friede zusammensetzt, direkt die Zielerreichung und damit den „Erfolg“ einer Volkswirtschaft messen. Das Gemeinwohl-Produkt könnte direkt von der Bevölkerung, etwa in Bürger*innenräten, komponiert werden.
Analog dazu wird der Erfolg eines Unternehmens mit einer „Gemeinwohl-Bilanz“ gemessen. Diese misst, wie sich Unternehmen in Bezug auf die Ziele Klima- und Artenschutz, menschenwürdige Arbeitsbedingungen, sozialer Zusammenhalt und Verteilungsgerechtigkeit, Beziehungsqualität und Geschlechterverhältnis verhält. Jedes Unternehmen kann maximal 1000 Punkte erreichen. Je besser das Ergebnis der Gemeinwohl-Bilanz eines Unternehmens, desto niedrigere Steuern, Zölle, Zinsen zahlt es, oder es erhält Vorrang beim öffentlichen Einkauf. Mithilfe dieser Anreize werden die ethischen Produkte preisgünstiger als die unethischen. Die „Gesetze“ des Marktes würden mit den Werten der Gesellschaft übereinstimmen.

Für Groß und Klein

Die Gemeinwohlbilanzierung ist grundsätzlich für Unternehmen jeder Größe und Branche geeignet, denn die ethischen Grundsatzfragen sind überall dieselben: Wie human sind die Arbeitsbedingungen, welche Umweltauswirkungen gibt es, wie werden Zulieferer und Kund*innen behandelt, wie wird verteilt und wie entscheiden? Die Gemeinwohl-Bilanz ist die ethische Schwester der Finanzbilanz: Analog zu letzterer sollen alle (größeren) Unternehmen gemeinwohlbilanzpflichtig werden, nach einem einheitlichen gesetzlichen Berichtsstandard, und das extern geprüfte Ergebnis soll Rechtsfolgen haben. Aktuell ziehen die größten Unternehmen noch weniger ehrgeizige Instrumente wie den Global Compact oder den DNK vor – sie haben diese Wahl! Zwar ist die GWÖ-Bewegung mit einigen der größten Unternehmen Deutschlands im Gespräch, darunter REWE, BOSCH und die Otto-Group, aber bisher hat kein Weltkonzern den Sprung zur Gemeinwohl-Bilanz gewagt – hier könnte die ebenfalls angestrebte Verschärfung der EU-Richtlinie über nichtfinanzielle Berichterstattung eine Änderung bringen und speziell Großunternehmen in die Berichtspflicht nehmen – ganz im Sinne von Artikel 14 des Grundgesetzes. Die „Kleinen“ zeigen vor, dass es möglich ist: Unter den 500 Bilanzpionieren finden sich vor allem kleine und mittlere Unternehmen wie die Sparda Bank München, VAUDE, Sonnentor, elobau, Herzogsägmühle, die Stuttgarter Entwässerung, die Samariter-Stiftung, die Fachhochschule Burgenland, Prior1 oder WBS Training Berlin. In der Schweiz wird gerade in einem Pilotprojekt eine Mikrobilanz für Unternehmen mit bis zu fünf Beschäftigten erprobt, die sich vor allem für kleinere Handwerksbetriebe eignen könnte.

Stand der Bewegung

Neun Jahre nach dem Start in Österreich, Bayern, Südtirol und Teilen der Schweiz hat sich die Gemeinwohl-Ökonomie-Bewegung auf 30 Staaten ausgebreitet. Allein in Deutschland sind 66 Regionalgruppen entstanden, insgesamt unterstützen 2800 Unternehmen die Bewegung. Zehn nationale Vereine von Schweden bis Chile gründeten 2018 den Internationalen Verband. Aktuell machen sich immer mehr Gemeinden und Städte auf den Weg zur Gemeinwohl-Gemeinde. Stuttgart hat zwei Kommunalbetriebe bilanziert, Mannheim folgt gerade mit vier Betrieben. Steinheim und Brakel in Ostwestfalen sind die ersten Gemeinwohl-Städte. Großes Interesse herrscht auch an Schulen, Hochschulen und Universitäten. An der Universität Valencia wurde ein Lehrstuhl für Gemeinwohl-Ökonomie eingerichtet, in Österreich ist ein Lehrgang Angewandte Gemeinwohl-Ökonmie 2018 gestartet. Bisher haben fünf Landesregierungen – Salzburg, Baden-Württemberg, Hassen, Bremen und Valencia – die Gemeinwohl-Ökonomie im Regierungsprogramm. Auf EU-Ebene hat der Wirtschafts- und Sozialausschuss (EWSA) eine Initiativstellungnahme zur Gemeinwohl-Ökonomie abgestimmt: 86% der Ausschuss-Mitglieder votierten für ihren Einbau in den Rechtsrahmen der EU und ihrer Mitgliedstaaten.

Wirtschaftsmodell der Zukunft?

Die Gemeinwohl-Ökonomie versteht sich als zukunftsfähiges Wirtschaftsmodell und setzt auf ökologische Stabilität und sozialen Zusammenhalt. Dafür sorgen zum einen negative Rückkoppelungen, die der Konzentration von Reichtum und Macht entgegenwirken. Zum anderen würden so genannte Ökologische Menschenrechte dafür sorgen, dass das globale Wirtschaften prinzipiell innerhalb der ökologischen Grenzen des Planeten stattfindet. Auch eine weitere Verkürzung der Arbeitszeit, die Stärkung von öffentlichen und Gemeingütern, Ethischer Welthandel und die Vollgeld-Reform finden sich unter den Reformimpulsen.
Alle Vorschläge der Gemeinwohl-Ökonomie sollen in Bürger*innenbeteiligungsprozessen diskutiert und entschieden werden, dafür wurden die „Demokratischen Wirtschaftskonventen“ entwickelt. Erste Versuche zeigen, dass die Bevölkerung die Ungleichheit bei Einkommen rund um den Faktor zehn (die höchsten Einkommen dürfen maximal das Zehnfache der Mindesteinkommen ausmachen) festlegen würde. Aktuell reicht die Ungleichheit in Deutschland bis zum Faktor 80.000, in den USA bis zum Faktor 350.000. Mithilfe „souveräner Demokratie“ könnte auch die Zulassung systemrelevanter Banken, ihre Rettung mit Steuergeld, freier Kapitalverkehr in Steueroasen, die Fusion von Bayer mit Monsanto oder die Verlängerung von Glyphosat verhindert werden – und die Wirtschaftsordnung demokratisch stärker legitimiert als heute.

Geeignet für große Volkswirtschaften?

Dass kleinere Länder wie Costa Rica, die Schweiz, Island oder Buthan kreative Wege beschreiten und bei Zukunftsthemen „vorreiten“ können, ist bekannt. Die Gemeinwohl-Ökonomie eignet sich aufgrund ihres demokratischen Designs aber gerade auch für die größeren Volkswirtschaften wie Deutschland: Denn sie geht das Demokratieproblem und die Weiterentwicklung der Wirtschaftsordnung gemeinsam an. Je größer eine Volkswirtschaft, desto mächtiger ist der Einfluss wirtschaftlicher Interessengruppen auf Regierung und Gesetzgebung. Wenn aber Grundpflöcke des Rechtsrahmens für Märkte von den Souveränen gesetzt werden, kann sich wirtschaftliche Macht nicht in demokratiegefährdendem Ausmaß konzentrieren. Die Bevölkerung würde Unternehmen sehr viel eher eine Größenschranke auferlegen als Parlamente, eine Obergrenze für die Bankbilanzsumme festlegen, die Eintragung ins Lobby-Register oder eine Gemeinwohl-Bilanz verpflichtend machen. Das würde die Wirtschaft stärker dem Ideal einer Sozialen Marktwirtschaft annähern, an der die GWÖ anknüpft und die sie fit für die Zukunft macht. Das gesellschaftsverändernde Potenzial der GWÖ ergibt sich nicht zuletzt daraus, dass sie alle wesentlichen Akteure der Gegenwartsgesellschaft – Unternehmen, Kommunen, Bildungseinrichtungen, kirchliche Organisationen - in Transformationsprozesse einbezieht. So kann die neue Wirtschaftsordnung langsam aus der bestehenden hervorwachsen.


Christian Felber, 47, ist Autor zahlreicher Wirtschaftsbücher, zuletzt „Gemeinwohl-Ökonomie“, „Ethischer Welthandel“ und „This is not economy. Aufruf zur Revolution der Wirtschaftswissenschaft“. Er initiierte die Gemeinwohl-Ökonomie und die Genossenschaft für Gemeinwohl in Österreich. Er lehrte an diversen Hochschulen und ist aktuell Affiliate Scholar am IASS in Potsdam. Außerdem ist er zeitgenössischer Tänzer und Performer.

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