Am 08.08. des letzten Jahres fand sich auf einem entlegenen dörfischen Kirchberg eine Trauergemeinde zusammen.

Teils gebrechliche ältere Personen, teils rockigere und ledrigere Frauen und Männer schleppten sich an dem warmen Augustvormittag die steilen Treppen hinauf.

Sie alle hielten vor dem Kircheneingang inne. Entweder hatte das Kirchenratsmitglied die Pforte noch nicht aufgeschlossen oder es gab eine stillschweigende Übereinkunft über die Reihenfolge des Einmarschs. Was auch immer es war, für die Anwesenden spielte es keine Rolle.

Kurz vor elf Uhr machte sich Unruhe breit, als plötzlich die leisen Gespräche verstummten und alle nach und nach über den Fuß der Treppe hinaus zu einem abgelegenen Parkplatz schauten. Ein abgeschranzter roter Civic kam zum Stehen und daraus stiegen nach und nach drei Personen.

Aus der Ferne wirkten sie, als hätten sie sich bewusst der Größe nach geordnet. Eine kleinere Person links und eine recht hoch gewachsene, schlacksige Person flankierten die mittlere auf ihrem Weg zur Treppe. Als sie näher rückten, wurde deutlich, dass sowohl die ältere Dame als auch der große jüngere Mann sich mühen mussten, mit dem Stechschritt des mittleren mitzuhalten, wie sie an der Flotte an Motorrädern vorbeimarschierten.

Die Mittagssonne glitzerte auf den strubbelig schwarzen Haaren und den schwarzen Lackschuhen des jungen Mannes in der Mitte. Sein Blick war von einer dunklen Sonnenbrille abgeschirmt und schien nach erklimmen der Treppe starr auf das Kirchtor gerichtet. Er ging durch den von Trauergästen gesäumten Weg mit knappen Nicken und knappen Gesten, um etwaige Ansprachen abzuwehren bis er schließlich den Kirchhof erreichte. Dort hatte sich seine Begleitung dann unter die weiteren Gäste gemischt und den Vortritt den Familienangehörigen gelassen.

Kurz vor dem Kirchenportal löste sich eine junge Dame und hielt den Mann kurz auf. Aus der Entfernung war nur ein „…danach...“ zu hören, ehe er sich loslöste und in die Kirche schritt.

Noch immer war kein Geistlicher zu sehen.

Als die Gäste sich nach und nach in das Kirchenschiff begaben und die Bänke sich füllten, wurde der Blick frei auf die unzähligen bunten Blumenkränze, die neben dem Pult drapiert wurden. Im Zentrum dieser Farbenpracht, stand ein Bild einer lebensfroh lachenden Frau, die lässig auf einem Herbstwaldboden hockte und in die Kamera strahlte. Daneben thronte ernüchternd eine moosgrüne Urne mit goldenem Relief, die von einem goldblättrigen Baum geziert wurde.

Die Gäste wurden ruhiger und Stille überkam das alte Gemäuer.

Leise drehten sich manche Köpfe. Vergewisserten sich ob der Anwesenheit anderer oder suchten nach dem Pfaffen.

Nach einem schier unendlichen Moment der Stille, schoß plötzlich der schrille Sound von Bruce Springsteens Mundharmonika durch das Kirchenschiff, gefolgt von einem markerschütternden Jauchzen von der ersten Bank.

Gut fünf Minuten sang der Boss über den ausgetrockneten Fluss, zu dem er immer noch regelmäßig zurück lief.

Der Boss - der damals in Berlin sang. 89. Als die strahlende Frau den Vater des jungen Mannes mit den schwarzen Haaren kennengelernt hatte.

Mit den von geschnäubten Nasen und Schluchzen begleiteten letzten Tönen der Mundharmonika folgte der nächste Moment unerträglicher Stille.

Als der Schwarzschopf sich aus der ersten Reihe erhob und auf das Pult zuschritt, schien es als ob es dem Raum selbst die Luft abschnürte. Mit glühenden Ohren wurde man sich der taubdumpfen Stille gewahr, die trotz Gegenwehr vom Klang schwarzer Lackschuhe, die von kaltem Kirchengemäuer wiederhallten in die Erinnerung vertrieben wurde.

Er trug keine Brille mehr als er mehrere Seiten gefaltetes Papier aus der Innenseite seines tiefschwarzen Jacketts zog und auf dem Pult vor sich deponierte.

Rote Augen suchten und fanden einen violett-farbenen Stein an einer Silberkette.

Diese hatte er sich um die Hand gewickelt, ehe er aufblickte und durch die Reihen schaute.

Nachdem er sich einmal mit der Hand durchs Gesicht gefahren war, setzte er mit eiserner Miene an und begrüßte alle Gäste.

Dieser junge Mann dort vorn, mit der eisernen Maske hatte einen weiten Weg hinter sich gelegt.

Er war um die 30 und hatte immer nur studiert oder gejobbt. Alles erfolglos. Seit sein Vater sich vor sieben Jahren suizidiert hatte, hatte er es schwer gehabt wieder auf die Beine zu kommen.

Familie, Freunde, Kollegen. Unumstritten war er sicher auch nie gewesen. Aber nun stand er da.

Wer ihn kannte, der wusste, dass er ein Muttersöhnchen und auch stolz darauf war.

Das wurde auch in der anschließenden Rede deutlich. Die Frau, deren sterbliche Überreste dort vorn vor allen aufgebahrt waren, war immer sein Halt. Alleinerziehend, stets neugierig, ein wenig abgedreht, liebevoll und immer hilfsbereit. Sie war eine Inspiration. Nicht zuletzt durch ihre Gutherzigkeit, die sie Skater aufnehmen ließ und auch immer einen Platz und eine warme Mahlzeit für 17-jährige Bauernschrate übrig hatte.

Doch neben diesen Seiten schilderte der junge Mann, dessen Stimme nur einmal eingangs schwankte, auch andere Seiten. Er berichtete von den Rückschlägen, den Schwierigkeiten der Familie und den Depressionen seiner Mutter sowie den Dingen, die sie mit Verwandten und Freunden erlebte. Dabei streute er gar noch eine Anekdote ein, die das Kirchenschiff ein Gelächter erfuhren ließen, dass es an diesem Tag sicher nicht erwartet hätte.

Zum Ende hin war die eiserne Maske geschmolzen und ergoss sich in ein glühendes Herz.

Die Rede endete mit einem Apell an die Gäste. Ein wenig die Welt sehen, wie diese Frau sie sah. Ein wenig wie diese Frau für diese Welt sein. Jeder und jede die sie kannten, sollten sich etwas davon bewahren. Sie seien es ihr schuldig. So wie er.

Dabei brach ihm ein zweites und letztes Mal die Stimme. Mit wieder gefasster Miene nickte er irgendwo in die Höhen des Kirchenschiffs.

Darauf erklangen Gitarren und Violinen, ehe die rauen Stimmen Santianos unter den Augen Christi ein Wiedersehen in Walhalla versprachen.

Er war der Erste am Grab und der Letzte.

Hier wo noch kein Grabstein stand, ließ er die Frau zu Grabe, die immer an ihn geglaubt hatte.

Die Frau, die er nie vergessen würde.

Die Frau, deren Andenken er leben würde.

Die Frau, für die er wieder und wieder aufsteht.

Seine Mutter.