Dass das bürgerliche Völkerrecht nur einen normativen Charakter hat, ist hinlänglich bekannt. Das wird nicht nur in dem ideologischen und politischen Übergewicht westlicher imperialistischer Staaten deutlich, sondern auch in der Anwendung humanistischer Werte. Das wird nicht so sehr in der eigentlichen Intervention deutlich, sondern am Sprachgebrauch. Ob es sich beispielsweise um einen Krieg oder einen Konflikt handelt, wird nicht anhand analytischer oder empirischer Daten erhoben, sondern daran, welches ideologische Interesse vertreten wird. Auf dem europäischen Kontinent lässt sich diese dialektische Entwicklung anhand des Kosovo und der Insel Krim darstellen: während die von der NATO diktierte Abspaltung der Provinz Kosovo vom serbischen Staat als legitimes Selbstbestimmungsrecht tituliert wird, so wird die Abspaltung der Insel Krim, welche durch die Russische Föderation annektiert wurde, als Bruch mit dem Völkerrecht kritisiert.

Dass dieses Instrument im Sterben liegt, ist spätestens seit dem 7. Oktober 2023 deutlich, als der zionistische Staat Israel als Reaktion auf den Überfall der Hamas anfangs den Gaza-Streifen bombardierte und derzeit neben der „Westbank“ auf den Libanon angreift sowie Stellungen in Syrien und Jemen attackiert. Ob es sich bei der „Aktion“ der zionistischen Regierung um einen Völkermord oder Konflikt handelt, ist dabei nur ein vordergründiger Streitpunkt, der an der Tatsache selbst nichts ändert. Dass die Palästinenser:innen nicht erst seit dem 7. Oktober 2023, sondern seit der Nakba aus dem Jahr 1948 von jeder zionistischen Regierung belagert und unterdrückt, und hiernach einen schleichenden Völkermord am eigenen Leib erlebt, lässt sich tagtäglich nachweisen. Die Bilder der Zerstörung und Vernichtung werden stündlich in alle Welt geteilt. Die eigentliche Vernichtung der Bevölkerung Palästinas sowie der beginnenden Vernichtung der Libanes:innen erfährt dabei gar keine Widerlegung beziehungsweise keinen Widerspruch. Neben zionistischen Politiker:innen, die offen ihren radikalen Plan der Vernichtung kundtun, gibt es auch Stimmen der „Freund:innen Israels“, das heißt der westlichen imperialistischen Staaten, die das, was geschieht, nicht von der Hand weisen.

Dass Krankenhäuser bombardiert werden, Flüchtlingslager brennen und Leichentürme auf zerstörtem Grund liegen, kann man alleine aufgrund der überwältigenden Datenlage gar nicht leugnen. Die Einordnung, ob man von einem Völkermord, einem Konflikt oder sogar von einer „Selbstverteidigung“ spricht, bedient sich hierbei der ideologischen und geostrategischen Doktrin der Weltmächte. Das geschieht ebenfalls nicht erst seit dem 7. Oktober 2023, sondern seit der Ausrufung des bürgerlichen Völkerrechts als Reaktion auf die faschistische Diktatur der Hitlerist:innen. Freilich ist es Teil jeder politischen Doktrin, die Wahrheit in dem Sinne zu interpretieren, wie es der eigenen Linie dienlich ist. Jedes Recht unterliegt einer klassenantagonistischen Ideologie, welche freilich auch im Rahmen der Vereinten Nationen nicht ignoriert werden kann. Unter dieser Prämisse ist jede Einordnung zu betrachten, ob eine Vernichtung eines Volkes nun ein Völkermord sei, oder nicht.

Es wäre jedoch falsch, auf diese Fragestellung moralisch zu antworten. Denn wenngleich es eine moralische Komponente beinhalten kann, spielen jene Interessen eine Rolle, die für das Überleben eines jeden bürgerlichen Staates notwendig sind: ökonomische, soziale und historische. Dass der zionistische Staat Israel seit seiner Errichtung 1948 als “einzige Demokratie im Nahen Osten” bezeichnet wird, und arabische Staaten als „Barbareien“, unterliegt keiner moralischen Einordnung, sondern der Verteidigung geostrategischer und imperialer Interessen. Dass besonders europäische Staaten und die Vereinigten Staaten von Amerika das kolonialistische Projekt der Zionist:innen militärisch und finanziell unterstützen, ist dabei mehr als eine Selbstverständlichkeit. Denn der Zionismus lebt von den Erfahrungen und Ideologien des europäischen Siedlerkolonialismus, in dem der Völkermord eine zentrale Rolle spielte. Vernichtungen der amerikanischen Indigene und der Völker Afrikas sowie in Westasien wurde bis spät in die 1880er Jahre auch von Teilen der aufstrebenden Sozialdemokratie als „Naturrecht“ bezeichnet.

Die Unterwerfung indigener Völker ist eine notwendige Bedingung, um einen Staat zu errichten, der nicht dynamisch wächst, sondern oktroyiert wird. Hiernach steht der Aufbau des zionistischen Staates in der alten Tradition der Europäer:innen, in der eine Perspektive für die Palästinenser:innen nie vorgesehen war. Wenngleich beim deutschen Staat besonders ein moralisierende „Schuld“ als Hauptgrund herangezogen wird, weshalb man in Berlin die Zionist:innen in Tel Aviv ganz besonders unterstützt, spielt das nur eine untergeordnete Rolle. Denn besonders der deutsche Staat, der seinen kolonialistischen Imperialismus durch die Hitlerfaschist:innen zum größten Völkermord im 20. Jahrhundert ermöglichte, stellt der zionistische Staat Israel einen ideologischen Brückenkopf dar, der besonders seit dem 7. Oktober 2023 deutlich wird. Die innerdeutsche Militarisierung war zwar eine Antwort auf den russischen Überfall auf den ukrainischen Staat, doch seit Israel einen Völkermord in Gaza vollzieht, findet der letztliche autoritäre Umbau in Berlin statt, der die damalige deutsche Stärke getarnt als Liebe zum Judentum wieder aufbauen soll.

Die Heraufbeschwörung eines „Selbstverteidigungsrecht“ der Täter:innen ist daher das ureigenste Interesse des deutschen Staats. Die diplomatischen Rügen durch die Vereinten Nationen, die auch von der BRD mitgetragen werden, stehen dabei nur vordergründig zum Kontrast der eigentlichen Politik. Berlin fordert eben nicht, dass die Zionist:innen die Massenvernichtung und -zerstörung einstellen sollen, sondern dass Hilfsgüter an die Palästinenser:innen durchgelassen werden, um dann unter einer humanistischen Prämisse das nächste Krankenhaus zu zerstören. Der Rückgriff auf eine starke Emotionalisierung durch den deutschen Staat ist dabei folgerichtig, in dem der Schrecken der Shoah instrumentalisiert wird, und letztlich gefordert wird, dass die Zionist:innen die biblische Redewendung „Auge um Auge, Zahn um Zahn“ in die Praxis umsetzen dürfen. Natürlich nicht gegen die einzigen Täter:innen, sondern in der Tradition des europäischen Siedlerkolonialismus – die Vernichtung der Indigene, für die Freiheit des Westens.

Ist es also ein Krieg? Ginge es nach der BRD, ja. Ein Krieg der Zionist:innen gegen Islamist:innen. Doch unter Islamismus wird hier keine reaktionäre Strömung verstanden, sondern muslimische Menschen unter Generalverdacht gestellt. Und nicht-muslimische Palästinenser:innen. Und all jene, die sich auch nur ansatzweise für Rechte der palästinensischen Bevölkerung einsetzen. Es ist hiernach gar nicht gewollt, dass das bürgerliche Völkerrecht seine Anwendung findet, denn Resolutionen können ohnehin nichts anrichten. Es ist das politische Kräfteverhältnis, welches die Regeln und Richtungen vorgibt. Ob Israel nun „nur“ Gaza und die „Westbank“ letztendlich annektieren, oder den Traum von „Groß-Israel“ verwirklichen, ist für die Strategie der westlichen imperialistischen Staaten nebensächlich. Wichtig ist und bleibt die Deutungshoheit über das Wort, das heißt den „Konflikt“ über den „Völkermord“ zu stellen. Es waren mehrheitlich bürgerlich-westliche Staaten, die das normative Völkerrecht niederschrieben und jeden interpretativen Mehrwert ermöglicht, der das eigene Interesse stützt. Nach der sogenannten „Blockkonfrontation“, als der „Sowjetkommunismus“ keinen Rivalen mehr darstellte, wurde das bürgerliche Völkerrecht auf jene Ideologien gerichtet, die dem imperialistischen Interesse diametral entgegensteht.

Begeht Israel einen Völkermord? Wenn man darunter Massenvernichtung, Massenvertreibung, Massenzerstörung und ethnische Säuberung versteht, dann sicherlich. Doch das bürgerliche Völkerrecht lässt diese Interpretation nicht zu, selbst wenn es derzeit den „Vorwurf“ an Israel prüft (wohl als Reaktion auf den massiven Widerstand der Bevölkerung in bürgerlichen Staaten): Staaten des westlichen Imperialismus begehen qua forma keine Völkermorde, sondern „intervenieren“ und „verteidigen“. Derweil jene Staaten, die im Auge des westlichen Imperialismus „feindselig“ sind, permanent Menschen vernichten: ob Russland in der Ukraine, ob Kuba in der eigenen Bevölkerung, ob Iran in Israel. Der Kampf der Begriffe, diktiert durch die bürgerliche Welt, wird jedoch keine Wahrheit der Welt unterdrücken können, denn was tagtäglich zu sehen und zu hören ist, ist nur die Festigung dessen, was geschieht, ohne auch nur eine einzige Einordnung durchführen zu müssen. Ob man nun den Mord an einem Volk als Völkermord bezeichnen darf, ist letztlich nur eine semantische Spielerei.