Es ist beinahe ein Sakrileg, als Blogger:in darüber zu schreiben, dass man so lange nichts mehr geschrieben hat. Es folgen in aller Regel faule Aussagen, die sich um Prokrastination, also Wäschewaschen und Silberputzen drehen, dabei wäre es ein Leichtes, die Netflix- und Disney+-Sucht zu gestehen. Schließlich endet das sinnlose Posting in einer Verneigung vor den geneigten Leser:innen, die bis dahin die Treue gehalten haben und dies hoffentlich auch in der Zukunft tun werden usw. usf.
Die Tagesspiegel-Kolumne wird jedenfalls einmal im Monat bedient, sie wird fleißig gelesen, so die Redaktion, getwittert wird auch, vor allem lese ich da gerade, beeindruckt von dem erstaunlichen Switch von der Empörung über das #Durchseuchen der Kinder hin zur kollektiven Empörung über Putins Vorgehen. Ich lese wenigstens viel, aber auch hier vor allem Sachbücher, weniger Belletristik, es passt in de Zeitgeist des Wissensaufsaugens. Wenig Zeit, eher weniger Muße für Zerstreuung.
Einschub: Wer eine gute Medizinserie sehen will, gönne sich „The Knick“, inzwischen schon gealtert und günstig secondhand zu bekommen, die üblichen Streamingportale bieten es nicht an. Wir erleben die fortgeschrittenen Bemühungen der ersten echten Chirurgen im New York des Fin de Siecle, wir sehen viele blutige Hände, viel Kokainsucht, wenig Anästhesie und nur eine Ahnung von sauberem Arbeiten am Menschen. Dafür menschelt es umso mehr zwischen – oh, Klischee – Ärzten und Krankenschwestern, sie zu ungegendert zu benennen möge hier historisch entschuldigt sein. Wir schwanken in den Schicksalen der Held:innen und ergötzen uns an dem schmalen Grat zwischen disgust und delight. Steven Soderbergh baute das Ganze zusammen, stiller Star zwischen Clive Owen und dem Nachwuchs André Holland oder Eve Hewson ist aber das Set Direction: New York zwischen Blut und Beton, zwischen Fortschritt und Konservatismus, der vor allem Rassimus heißt.
Einschub 2: Gefangen von dem Schrecken der Geburtswehen der Chirurgie lese ich in einem zweiten Anlauf „Der Horror der frühen Medizin“ von Lindsey Fitzharris. Vor zwei Jahren mal begonnen, dann weggelegt, dann an junges Medizingemüse weiter verschenkt, jetzt neu gekauft und am Verschlingen: Joseph Listers Weg in London fünfzig Jahre vor „The Knick“ ist noch blutrünstiger und verdreckter, weil Jahrzehnte davor. Mal sehen, was dann noch kommt. Konsequent wäre, „Charité“ zu schauen, spielt das nicht noch später?
(vor dem 23.2. geschrieben)
So, nun die zweite Hälfte dieses Postings schreiben, ein stiller Verdacht macht sich breit, ob die gefühlte Lethargie tatsächlich etwas von Post-Covid-Brainfog zu tun hat. Das möchte ich mir gar nicht ausmalen. Vielleicht ist es aber auch der allgemeine Zeitgeist, der die Sozialen Medien durchweht, und auch vor den klassischen Nachrichtenseiten keinen Halt macht. Putin hat die Ukraine überfallen, die Pandemie wird medial so sehr in den Hintergrund gedrängt, dass man das Gefühl bekommen könnte, sie war nur eine Nachrichtenepisode, wie jede andere auch, die durch eine noch spannendere abgelöst wird. Wie die Schlussszene aus der „Truman Show“, in der sich der Protagonist durch die Tapetentür verabschiedet, die Zuschauer noch schnell eine Träne vergießen, um dann zum nächsten Sender umzuschalten.
Twitter verschwimmt in Nachrichten, Entrüstungen und Trauerbekundungen über Putins Krieg, niemand traut sich, einen Scherz zu machen, Humor wird als geschmacklos abgetan, ich vermisse die Kalauer – gerne zu anderen Themen. Ich plane planlos Urlaube über die Osterferien, träume vom Urlaub im Sommer, trotzdem schleicht sich der Spielverderber durch meine Gedanken, dass nach der Pandemie nun Reiseeinschränkungen, seien sie praktisch oder moralisch, wegen eines Krieges in Europa kommen werden. Wer weiß denn schon, was wir im Sommer machen? Ist es diese Unvorhersehbarkeit, die alle so lähmt?
Am Montag geht es wieder in die Praxis. Ich habe Angst vor den Alltäglichkeiten, die verständlicherweise für die einzelnen Familien so wichtig sind, und für die sie meinen Rat als Kinderarzt brauchen, und der gleichzeitigen Weltpolitik, die über uns hereinbricht. Flüchtlinge aus der Ukraine, vertriebene Familien mit kleinen Kindern, die auch Untersuchungen brauchen, Impfungen, psychologische Hilfe, wieviele werden bei uns ankommen, in unseren Praxen, wir haben zwei große Flüchtlingseinrichtungen vor Ort?Devise an das Team ausgeben, alles unbürokratisch zu erledigen, pfeif auf Versicherungsnachweise, auf korrekte Impfdokumente, auf sonstwede Voraussetzungen für Kindergarten- oder Schulbesuche. Arbeitsalltag 1000 Kilometer vom Krieg entfernt.
(nach dem 23.2. geschrieben)
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