Dass sich die Jubiläen von Dante Alighieri und Fjodor Dostojewski in diesem Jahr kreuzen, ist eine höchst merkwürdige Koinzidenz. Denn wenn es in den 700 Jahren nach Dantes Tod in der abendländischen Kultur einen mythischen Doppelgänger Dantes gibt, dann ist es niemand anderer als Fjodor Michailowitsch Dostojewski.

Es ist naheliegend, diese Verwandtschaft zuallererst auf die offensichtliche biographische Parallele zurückzuführen. Beide wurden in der „Mitte des Lebens“ von einem Ereignis heimgesucht, das wie eine hereinbrechende Naturkatastrophe ihr Leben zerstörte. Wie Dante in Abwesenheit zum Tode verurteilt, allen Hab und Guts beraubt und aus seiner Heimatstadt Florenz verbannt wurde, so wurde Dostojewski 27jährig als politisch Verdächtiger festgenommen, einer Scheinhinrichtung ausgesetzt und schließlich für vier Jahre in ein sibirisches Gefängnis gesteckt, denen noch weitere Jahre der Verbannung folgten.

Der Rest ihres Lebens war nicht nur davon geprägt, sich ins Leben und in die Gesellschaft zurück zu kämpfen. Mehr noch bemächtigte sich ihrer eine Obsession, sich einen Reim auf ihr Schicksal zu machen, der erfahrenen Katastrophe im Nachhinein einen Sinn zu verleihen. Dabei unterwarfen sie nicht nur ihr eigenes Leben einer gnadenlosen Evaluation, sondern stellten buchstäblich alles, die Gesellschaft, den Glauben und die menschliche Existenz auf den Prüfstand.

Wie ein allmähliches manisches Crescendo verdichten sich dabei die existenziellen Fragen bis zum Ende ihres Lebens. Wie die „Commedia“ eine Essenz und Zuspitzung der vorausgehenden Versuche im „Convivio“ und der „Monarchia“ ist, so läuft auch Dostojewskis Werk in stetiger Verdichtung von Fragen und Motiven auf seinen letzten Roman „Die Brüder Karamasow“ zu.

Dabei ist vollkommen klar, dass sie nicht zu den gleichen Schlüssen kommen konnten. Während Dante am Ende des Mittelalters den letzten Höhepunkt christlicher Selbstvergewisserung im Schutze einer als göttlich empfundenen Ordnung markiert, wirken Dostojewski späte Romane wie letzte, verzweifelte Schlachten gegen die höllischen Winde des Nihilismus.

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Es ist durchaus auffällig, dass die Schar der Bewunderer von Dostojewski so breit und heterogen ist wie bei kaum einem anderen Schriftsteller. In theologischen Kreisen wird er genauso diskutiert und bewundert wie in philosophischen, bevorzugt existentialistischen, Seminaren. Die Hedonisten und Zertrümmerer haben für ihn ebenso ein Faible wie die ultraklugen Rationalisten, Psychoanalytiker und Zyniker. Linke Sozialutopisten können mit ihm ebenso etwas anfangen wie die Erniedrigten und Beleidigten am Rande der Gesellschaft.

Man braucht nicht viel Fantasie, um in den vier Brüdern aus „Die Brüder Karamasow“ Ausprägungen eben dieser verschiedenen Richtungen zu erkennen, die in diversen Mischungen und Zuspitzungen bereits die vorausgegangenen Romane geprägt hatten, und die in ihrer heftigen Widersprüchlichkeit für das hysterische Flackern und brodelnde Rumoren verantwortlich sind, die Dostojewskis enorme künstlerische Ausstrahlung ausmachen.

Auch das früh geprägte Bild vom „Heiligen und Verbrecher“ verweist auf die Bipolarität von Dostojewskis Charakter und dessen Werk, das so radikal autobiographisch und gewissermaßen dem eigenen Herzen gewaltsam entrissen ist wie bei kaum einem anderen Schriftsteller. Dabei sah sich Dowstojewski, eben genauso wie Dante, als Medium und Gefäß, als einen Auserwählten, durch dessen exzeptionelles Schicksal über das eigene Leben hinaus sich die Befindlichkeiten und Obsessionen einer gesamten Epoche der Menschheit spiegeln.

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Wenn ich an meine erste Lektüre der Brüder Karamasow zurückdenke, erinnere ich mich vor allem an zwei Dinge. Wie traurig ich über den Tod des weisen alten Einsiedlermönchs Starez Sosima war, der in der Folge eine schmerzliche Lücke hinterlässt. Und wie völlig anders sich der zweite Teil des Romans mit der Gerichtsverhandlung gegenüber dem ersten anfühlte.

Rückblickend erweisen sich beide Eindrücke als durchaus signifikant, auch wenn ich heute mit gänzlich anderen Augen darauf blicke. Mit dem Starez Sosima geht es mir ähnlich wie vor einigen Jahren mit der durchaus ähnlichen Figur des Peter Knecht aus Hermann Hesses „Glasperlenspiel“. Während ich diese Figuren als junger Mensch idealisiert hatte, wurde mir bei der erneuten Lektüre bewusst, dass es sich in Wahrheit um tragische und scheiternde Figuren handelt. Oder, genauer gesagt, dass im Scheitern das tiefere Schicksal dieser Figuren liegt.

Denn in der Dramaturgie der „Brüder Karamasow“ markiert der Tod des Starez Sosima symbolisch das Ende von christlichem Glauben und christlicher Moral. Mit seinem Tod macht er den Weg frei für den Vatermord der Brüder, der sich daraufhin ungehemmt vollziehen kann. Dass sich nach dem Ableben des Starez Sosima rasch ein starker und unangenehmer Verwesungsgeruch breit macht, der viele naiv Gläubige an dessen Heiligkeit zweifeln lässt und auch seinen Schüler Aljoscha erschüttert, ist eine allegorische Allusion darauf, dass der christliche Glauben welk und überständig geworden ist.

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Was den Mord und den Gerichtsprozess angeht, wird im populären Literaturfeuilleton gerne so getan, mit der Kriminalgeschichte sei Dostojewski seiner Pflicht nachgekommen, dem Publikum etwas zur Unterhaltung zu bieten. Was natürlich Quatsch ist. Mit dem trivial schaustellerischen Mechanismus eines Krimiplots hat Dostojewskis Roman nichts gemein. Die Gerichtsverhandlung ist vielmehr essenzieller und vitaler Teil der Romankonzeption. Ähnlich wie Dante bewegt sich Dostojewski durch die verschiedenen Höllenkreise. Der Roman beginnt mit der Schilderung der Familiengeschichte der Karamasows, rückt dann in den Bereich des sozialen Umfelds vor, um dann in diesen dritten Kosmos der Öffentlichkeit vorzustoßen.

Geschworenengerichte waren in Russland noch relativ neu. Und genauso wie Leo Tolstoi, der in „Die Auferstehung“ auch eine solche Gerichtsszene schildert, war auch Dostojewski bewusst, dass, wenn die Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit groß ist, in solchen Prozessen nicht nur der Einzelfall verhandelt wird, sondern gleichzeitig eine übergeordnete Kommunikation über moralische Maßstäbe und ideologische Paradigmen stattfindet.

Es ist daher keine Überraschung, dass vieles an Dostojewskis Beschreibung merkwürdig an den berühmten Gerichtsprozess von O.J. Simpson erinnert. Schon gewisse Äußerlichkeiten ähneln sich verblüffend. Die ehrgeizige, moralisch engagierte Staatsanwaltschaft auf der einen und der hochbezahlte, aus der Hauptstadt angereiste Verteidiger auf der anderen Seite. Ebenso die Strategien, sich weniger auf Fakten zu stützen als vielmehr die Glaubwürdigkeit der Zeugen zu sabotieren und dem Geschworenenpublikum ein Narrativ anzubieten, das ihren Wünschen entspricht.

Eine schwarze Geschworene im O.J. Simpson Fall gab Jahre später zu Protokoll, dass sie sehr wohl wusste, dass er am Mord seiner Frau schuldig war, doch sei der Freispruch „payback for Rodney King“ (einem Opfer rassistischer Polizeigewalt) gewesen. Wie im O.J. Simpson Fall gleichermaßen der Rassismus des weißen Amerika mitverhandelt wurde, so gilt das auch für Dostojewskis Prozess um den Vatermord der Brüder Karamasow.

Denn die Vatergeneration Dostojewskis war die letzte Generation, die noch vom Sklaven-System der Leibeigenschaft profitiert hatte, die 1861 auch in Russland abgeschafft worden war. Dostojewskis Vater Michail Andrejewitsch Dostojewski, der von Leibeigenen ermordet wurde, repräsentiert diese Vätergeneration genauso wie Fjodor Pawlowitsch Karamasow. Auch der Teufel, der Iwan im Delirium erscheint ist ein älterer abgetakelter Herr und ein Relikt aus der Epoche der Leibeigenschaft.

Auch für Leo Tolstoi war das Thema der Leibeigenschaft ein großes moralisches Dilemma, das ihn tief beschäftigte und in allen Romanen eine Rolle spielt, da er sehr wohl wusste, dass sein Reichtum als Adeliger wesentlich aus diesem System herrührte. Bei Dostojewski wächst sich das zu einer Obsession aus, in der sich individuelle Erfahrung und epochale Paradigmen zu einem schicksalhaften Weltgericht verdichten.

Man liest in Inhaltsangaben eigentlich immer, dass der uneheliche Sohn Smerdjakow den Vater ermordet hat, doch nachdem ich bei der aktuellen Lektüre detektivisch die Passagen um den Mord mehrfach nachgelesen habe, denke ich, dass es eigentlich unklar bleibt, ob es Dimitri oder, von Iwan angestiftet (wie er im Prozess bekennt) Smerdjakow gewesen ist, ja von Dostojewski ganz bewusst im Unklaren belassen wird, da insgeheim eigentlich alle den Tod des Vaters wünschten, über dessen moralische Verworfenheit sich selbst der Staatsanwalt und der Verteidiger einig sind.

Und so ist auch die Verurteilung Dimitris unabhängig von der Faktenlage dahingehend folgerichtig, weil er seinem Vater am ähnlichsten ist, und mit ihm symbolisch eben jenes Paradigma des von der Leibeigenschaft profitierenden Lebemanns, vom dem sich die Öffentlichkeit distanziert, sanktioniert wird. Auch in aktuellen Fällen, in denen es um Rassismus, männliche sexuelle Übergriffe oder Diskriminierung von Minderheiten geht, kann man beobachten, wie sich historische Schuld in Vergeltungs- und Sühnemechanismen Bahn bricht, die dann oft rein sachliche, rationale und legale Konstellationen überwuchern und übertönen.

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Dostojewskis epochale Bedeutung hat auch damit zu tun, dass er als sybillinischer Seher die Katastrophen des 20. Jahrhunderts vorausgeahnt und, in eben dieser chthonischen Seherdunkelheit, diese panisch gefürchtet und gleichzeitig herbeigesehnt hat. Wie Dantes „Commedia“ ist auch Dostojewskis Werk ein Symbol der Katalyse und Katharsis in der abendländischen Kultur.

Hermann Hesse, seinerseits ein Schriftsteller mit prophetischen Gaben, sah in einem Rundschau Artikel von 1920 bereits vollkommen klar das Chaos voraus, in das sich Russland stürzte, und sah in Dostojewski einer der Schlüsselfiguren als Bringer des Chaos und dunkel asiatischen Russentums.

„Die Brüder Karamasow“ sind denn auch tatsächlich die Geschichte einer orgiastischen ödipalen Entfesselung. Der älteste Sohn Dimitri, der den Vater tötet (einerlei ob de facto oder nicht), dessen Geld raubt, um mit dessen Geliebten Gruschenka eine Orgie zu feiern, die alle Höllen des Hedonismus vereint, Glücksspiel, Alkohol, Völlerei, Musik und Sex. Der zweite Sohn Iwan, der mit seinen Nietzscheanischen nihilistischen Entfesselungen alle Werte und Gewissheiten der Vätergeneration wie in einem Säurebad auflöst.

Und Selbst Aljoscha, der sich gegen Ende, inspiriert vom Tod des Knaben Illiuscha, gemeinsam mit den Schuljungen, unter ihnen Koljia, einem Prototypen des bolschewistischen idealistischen Hasardeurs, in eine euphorische Orgie der idealistischen Verschmelzung in der Masse stürzt, agiert darin seinerseits eine Antithese gegenüber dem hedonistischen Individualismus des Vaters aus.

Smerdjakow widerum, der aus einer Vergewaltigung hervorgegangen war, und dem Dostojewski seine Epilepsie mitgegeben hat, ist einerseits passiv unterwürfig gegenüber Fjodor Pawlowitsch, dem er als Koch und Diener dient, und stark beeinflusst von seinen legitimen Brüdern, ist das Gefäß der Beleidigungen und Erniedrigungen sowie des Hasses der Brüder gegenüber dem Vater, das am Ende zum zerstörerischen Sprengstoff wird. Egal ob er wirklich der Mörder ist oder nicht, er ist derjenige, der die Lunte zur Eskalation legt.

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Thomas Mann formuliert in seinem Dosojewski Essay, „Dostojewski – Mit Massen“,  seine Furcht und Zurückhaltung vor dem „verbrecherischen Heiligenantlitz Dowstojewskis“. Auch er spürte das gefährliche chaotische dieser Figur und sah auch vollkommen klar dessen geistige Verwandtschaft mit Friedrich Nietzsche. In der Tat wundert einen kaum, dass sowohl Friedrich Nietzsche als auch Martin Heidegger große Bewunderer von Dostojewski waren. Laut Thomas Mann waren Nietzsche und Dostojewski „Brüder im Geiste“, wobei letzterer als „byzantinischer Christ“ von vornherein „mancher humanistischen Hemmnisse entbehrte“.

Natürlich ist Iwan in den „Brüder Karamasow“ der Repräsentant Nietzscheanischer Ideen. Mehr noch, nicht etwa der Mönchsnovize Aljosha sondern Iwan ist die Christus-Figur Dostojewskis und Bruder von Nietzsches Antichrist. Dostojewski gibt auch immer wieder subtile Hinweise auf Iwans Christus-Ikonographie. Das von Leiden gezeichnete Gesicht, die vom Kreuz niedergedrückte rechte Schulter, die drei Besuche der Verleugnung bei Smerdjakow.

Die Parabel vom Großinquisitor skizziert ähnliche Thesen wie Nietzsche in seiner Religionskritik, nämlich dass das individualistische christliche Paradigma der Nächstenliebe als Gesellschaftsmodell scheitern muss, da zivilisatorische Strukturen ohne Hierarchie und Gewalt nicht auskommen, und Herrschaftsstrukturen unter christlichen Paradigmen eine Perversion sind, die ihr Gegenteil, nämlich Terror gebiert.

Im Teufelsgespräch greift Iwan (oder sein teuflischer Doppelgänger) auch das christliche Paradigma der Agape, das der Starez Sosima auch noch auf seinem Sterbebett gepredigt hat, nämlich alle Menschen, alle Tiere und alle Pflanzen zu lieben, nihilistisch parodistisch in seiner Achillesferse, der inflationären Quantität an, in der Erzählung des Gottesfürchtigen, der die quadrillionste Potenz von Quadrillionen an Werst laufen würde, durch unzählige Iterationen der Erde und des Universums, wenn er dafür ins Reich Gottes kommen könnte.

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Eine weitere Verwandtschaft zwischen Dostojewski und Nietzsche, auf die Thomas Mann verweist ist das Phänomen der Krankheit, dem „Genie als Krankheit und der Krankheit als Genie“. Bei beiden Krankheitsbildern, der Epilepsie sowie der Syphilis, gibt es das bipolare Krankheitsbild von euphorischen Hochphasen und depressiven Abstürzen (wovon auch Dostojewski selbst wiederholt berichtet).

Gewiss ist dieser Aspekt nicht nur für die bereits erwähnte bipolare Spannung in Dostojewskis Physiognomie verantwortlich, sondern insbesondere auch für den hysterischen Zug, den Siegmund Freud in seinem Aufsatz „Dostojewski und die Vatertötung“ analysiert.

Der ungeheure immersive Magnetismus, der von Dostojewskis Romanen ausgeht – und der, so auch meine Erfahrung bei der erneuten Lektüre, auch bei mehrmaligem Lesen nicht nachlässt – hat ganz gewiss nicht zuletzt mit dieser euphorischen Hypersensibilisierung zu tun, die einen in seiner ungefilterten Unmittelbarkeit immer wieder elektrisiert. Die aber eben auch ohne Hemmungen alle dunklen Pfade manisch erkunden.

Freud erkundet Dostojewskis Pfade in Iwanscher Hemmungslosigkeit und exploriert nicht nur die offensichtlichen ödipalen Motive in den „Brüder Karamasow“ sondern diagnostiziert auch die Hysterie Kompensation einer verdrängten bisexuellen Veranlagung mit ausgeprägten sadistischen und masochistischen Komponenten. Vor allem in den Parallelen zu Shakespeares Hamlet, hat diese Diagnose einiges für sich.

Dostojewskis Zwang zur Schilderung von Gewalt, besonders gegenüber Kindern und Tieren ist durchaus auffällig. In den „Brüder Karamasow“ etwa die von der mit Aljoscha verlobten höheren Tochter Lisa, die davon träumt Tee zu trinken während ein Kind mit abgetrennten Gliedmaßen vor ihren Augen stirbt. Und sich gleich darauf vor Aljoscha selbst anklagt, solche schlimmen Gedanken zu haben.

Diese Obsession zum Bekenntnis durchwirkt vor allem die späten Romane und tatsächlich besteht gewiss die Hälfte der „Brüder Karamasow“ aus Schuldbekenntnissen. Nicht nur der Starez Sosima legt auf dem Sterbebett nochmal eine ausführliche Lebensbeichte ab. Selbst der abscheuliche Vater Fjodor Pawlowitsch, der in seinem malignen Narzissmus permanent andere Menschen quält, beleidigt und erniedrigt, hat gleichzeitig einen melomanen Hang zum Selbstbekenntnis.

Überhaupt fragt man sich, ob es Zufall ist, dass Dostejewski ausgerechnet jenem Ungeheuer Fjodor Pawlowitsch seinen eigenen Vornamen gegeben hat. Die christliche Obsession, die Schuld der Welt, den bitteren Kelch bis zur Neige auszutrinken, die auch Dantes „Inferno“ prägt, durchdringt auch „Die Brüder Karamasow“ vollkommen.

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Dostojewskis hedonistische, sadistische und nihilistische, doch ebenso die idealistischen Exzesse bilden jedoch die Antithese zu Dantes Bann der „incontinentia“, der mangelnden Beherrschung. Er erkannte (wie Nietzsche) vollkommen klar, dass es aus dieser Dialektik von sich aufschaukelndem Gegensatz von Vitalismus und Idealismus keinen anderen Ausweg gibt als den der Zerstörung.

Während Tolstoi in vergeblichem Heroismus versuchte mit moralischer Kraft gegen diese Unwuchten anzukämpfen, goss Dostojewski Öl in das Autodafé, um den Untergang und damit die Selbsterneuerung zu beschleunigen. Diese unversöhnliche Opposition von Idealisten und Vitalisten, die das späte zaristische Russland prägte, ereignete sich erneut nicht nur in der Weimarer Republik sondern ist auch in der aktuellen US Gesellschaft auszumachen, mit ähnlichen Krisenzeichen am Horizont.

Hatte Dante den Höhepunkt der christlichen Kultur markiert, der ein Prozess der allmählichen, sich jedoch immer weiter beschleunigenden Säkularisierung folgte, steht Dostojewski am Ende dieses Prozesses, dem Tod Gottes. Der Schluss der „Brüder Karamasow“ mit der biblischen Sentenz vom Weizenkorn, das sterben muss, damit es neue Frucht bringen kann, unterstreicht diese ideelle Dynamik unmissverständlich.

Eigentlich sollten den „Bruder Karamasow“, ähnlich wie der dreiteiligen „Commedia“, noch zwei weitere Bände folgen, doch Dostojewskis plötzlicher Tod 1881 verhinderten das. Doch vielleicht war der Schluss in den Tiefen des Inferno bereits der mythisch richtige Schluss, mit dem der Seher Dostojewski sein Schicksal erfüllt hatte.