22. Januar 2022, bundesweiter Aktionstag für #SicherBildung - hier: Bonn

Mein Redebeitrag auf dem bundesweiten Aktionstag für #SichereBildung in Bonn ist eine Ansprache an Karin Prien, die amtierende Vorsitzende der Kultusministerkonferenz. Sie fällt immer wieder durch kommentierungsbedürftige Tweets und Interviews auf. Zwei ihrer Äußerungen aus dem letzten Jahr wurden Aufhänger meines Redebeitrags, dieser Tweet vom 07. Februar 2021

und ein Bericht aus dem NDR vom 01. Januar 2022, in dem der Satz "Offene Schulen seien die beste Therapie, findet sie." abgedruckt ist.

Neue KMK-Präsidentin Prien sieht bei digitalem Lernen noch viel Potenzial
Sie verspricht frischen Wind aus dem hohen Norden für die Kultusministerkonferenz (KMK): Die schleswig-holsteinische Bildungsministerin Karin Prien hat am Sonnabend den Vorsitz der KMK übernommen und möchte die Zusammenarbeit der Länder weiter vorantreiben.

Der Redebeitrag:

Frau Prien, aktuell Vorsitzende der Kultusministerkonferenz, Sie twitterten vor knapp einem Jahr einen bedeutungsvollen Satz, der brandaktuell ist und den ich heute kommentieren möchte. Sie schrieben: „ ‚Gesundheit steht ganz klar vor Bildung‘ ist zu Ende gedacht ein rigider Satz, den ich nicht teile.“ (Tweet vom 07.02.2021). Mit anderen Worten – Gesundheit hat keinen Vorrang vor Bildung.

Frau Prien, was wollen sie uns damit sagen? Was wollen sie Risikokindern damit sagen oder Kindern, die mit einem Elternteil, das zur Risikogruppe gehört, in einem Haushalt leben? Was bedeutet der Satz heute angesichts der rasant steigenden Infektionszahlen unter Kindern und Jugendlichen?

Jeden Tag sind Klassentests positiv, jeden Tag werden Kinder und LuL aus dem Schulgeschehen herausgezogen, jeden Tag Anspannung – ist heute auch jemand positiv? Für alle Kinder ist dies eine belastende Situation, die innerhalb von Minuten die ganze Klasse und die Familien durcheinanderbringen kann. Wir sehen überforderte Schulen, überforderte Gesundheitsämter, überforderte Familien – und wir sehen Politiker, die sich auf ein „Präsenz um jeden Preis“ eingeschossen haben unter Ihrem "Prien‘schen Mantra", dass Gesundheit NICHT vor Bildung kommt.

Wer bitte zahlt den Preis, den Sie, Frau Prien und alle Kultusminister:innen einfordern? Den Preis für ihre Unerbittlichkeit zahlen jeden Tag aufs Neue Kinder, Jugendliche und ihre Familien.

Sie muten ihnen eine chaotische, belastende Situation zu, die nicht wenige Kinder nachhaltig beschädigen wird, nicht nur aufgrund des Zufalls, zu den schwereren oder LongCovidfällen zu gehören oder an PIMS zu erkranken.

Nein, die Kinder werden beschädigt, weil sie erleben müssen, dass ihre Gesundheit zu wenig wert ist – weder die der gesunden Kinder, noch die der vorerkrankten Kinder. Sie werden beschädigt, weil ihr Recht auf Bildung genauso mit Füßen getreten wird wie ihr Recht auf Gesundheit. Sie werden beschädigt, weil nur ÜBER sie und nicht MIT ihnen gesprochen wird, sie werden beschädigt, weil ihre Bedürfnisse und ihre Sorgen einer Politik geopfert werden, die nicht das Wohl des Kindes im Blick hat, sondern die Bedürfnisse von Unternehmen und Wirtschaft.

Kinder leiden in dieser Pandemie – vielfältig. Kinder leiden unter der Erkrankung, unter der Uneinigkeit der Politik, unter der Unerbittlichkeit, unter Quarantänen und schwierigen Verhältnissen im Elternhaus. Sie leiden unter verzweifelten Eltern, unter erkrankten Eltern, sie leiden unter der drastischen Veränderung ihres Lebens, sie leiden natürlich unter der Pandemie ganzheitlich. Das alles ist „Gesundheit“, Frau Prien – und das alles ist wichtiger als „Bildung“. Und dafür ist Präsenzunterricht nicht die beste Therapie, wie Sie ebenfalls vor Kurzem twitterten, schon gar nicht ein Präsenzunterricht, der so tun soll, als gäbe es keine Pandemie, als wäre alles „normal“. Dass das nicht funktioniert, sehen wir gerade jeden Tag.

Das BVerfG hat in seinem Urteil zur „Bundesnotbremse“ und dem damit einhergehenden Verbotes von Präsenzunterricht das Recht der Kinder auf Bildung festgestellt UND die Pflicht der Bundesländer, Distanzunterricht zur Verfügung zu stellen. Haben Sie Ihre Hausaufgaben gemacht, Frau Prien? Haben Sie inzwischen mit Nachdruck alles vorbereitet, um Gesundheitsschutz und Bildungsrecht in Einklang zu bringen, anstatt sie gegeneinander auszuspielen? Ihre Rechnung geht nicht auf. Gesundheit nicht vor Bildung zu stellen, ist zum Scheitern verurteilt. Das Virus verhandelt nicht mit Ihnen, sondern nimmt gierig, was es vorfindet: die Gesundheit der Kinder, auch ihre psychische und in der Konsequenz auch ihre Bildung.

Die Situation in den Schulen ist seit der furchtbaren Kriegs- und Nachkriegszeit nicht so chaotisch und unzuverlässig gewesen wie in der Pandemie, über 70 Jahre später, in einem reichen Land mit digitalen Möglichkeiten jeglicher Art – und leider aber Schulen, die in einem exorbitanten Entwicklungsstau stecken geblieben sind. Kinder in Winterjacken und Decken gehüllt, einen Schirm gegen das geöffnete Fenster aufgespannt, damit wenigstens ein Teil der Bücher nicht nass regnet, Mütze, Handschuhe oder kalte Finger – zum Schreibenlernen eine Katastrophe – frieren, testen, sich nicht konzentrieren können, krank werden. Das ist momentan Schule in Deutschland im Jahr 2022. Unvorstellbar.

Unsere Kritik gilt nicht den Schulen selbst – wie erleben Lehrerinnen und Lehrer, die weit über ihr Pensum arbeiten, alles zum Schutz und Wohlbefinden der Kinder tun, alles für ihre Bildung und ihr soziales Miteinander UND sich selbst den steigenden Inzidenzen und der Infektionsgefahr aussetzen. Den Schulen wird jede neue Maßnahme aufgebürdet, sie sollen verantworten, was die Verantwortung der Kultusminister ist und sie sollen einen Teil des Preises zahlen, den Sie, Frau Prien, für Ihre geöffneten Schulen einfordern.

Wie geht es Risikokindern in dieser Situation? Manche sagen, dass sind doch nur „wenige“, manche sagen, da muss man Einzellösungen finden, manche sagen, die können sich doch isolieren, die können Masken tragen, die können sich impfen lassen, warum sollen denn alle darauf Rücksicht nehmen. Abgesehen davon, ob es für eine Gesellschaft richtig ist, in dieser Weise mit gesundheitlich eingeschränkten Kindern und Familien umzugehen… ganz so einfach ist das nicht, vor allem dann nicht, wenn die Präsenzpflicht betonhart nicht ausgesetzt ist, es keine guten Alternativangebote online gibt, der Einsatz von bspw. Telepräsenzrobotern in den Kinderschuhen steckt und Risikokinder entweder gar nicht mehr oder nur mit sehr hohen Hürden von der Schulpflicht befreit werden.

Aber – wie viele sind das denn eigentlich? Frau Prien, wissen Sie, wie viele Risikokinder in Deutschland leben? Weiß Frau Gebauer, wie viele es in NRW sind?

Der WDR hat neulich in Düsseldorf angefragt – leider bekam die Redakteurin die Antwort, es würde NICHT erhoben, wie viele Kinder in NRW vorerkrankt und ggf. von der Schulpflicht befreit wären, aber das könnten ja nicht so viele sein. Es wird nicht erhoben. Man weiß es nicht. Nun, ein kleiner Blick in die statistischen Erhebungen außerhalb des zuständigen Ministeriums hilft da ungemein weiter und ich will Frau Gebauer und auch Ihnen, Frau Prien, heute gerne die fehlenden Zahlen liefern:

In NRW leben fast 95.000 Kinder zwischen 12 und 17 Jahren, die eine Vorerkrankung aufweisen, die laut STIKO covid-19-relevant ist. 95.000 Kinder, für die eine Infektion lebensgefährlich werden kann. In ganz Deutschland sind es 450.000 12-17 Jährige. Dazu kommen die unter 12-jährigen Risikokinder, dazu kommen diejenigen Kinder, deren Eltern vorerkrankt sind… mit leichter Grundschulmathematik kann man das ausrechnen: in NRW über 100.000 Menschen, in ganz Deutschland an die 7 Millionen. Ich nenne Ihnen gerne die Quellen.

Wir sollten aber nicht unterscheiden zwischen „Kindern mit und ohne Vorerkrankung“, oder zwischen „den wenigen Kindern“ und „den meisten Kindern“. Inklusion in der Pandemie bedeutet eben nicht, die Familien mit Vorerkrankungen auszugrenzen oder zu gefährden, sondern Bedingungen einer pandemietauglichen Schule zu schaffen, in der alle Kinder – ob vorerkrankt oder nicht – ihren gleichberechtigten Platz finden. Die Corona-Pandemie und ihre Folgen betrifft alle Kinder und Jugendlichen.

Dass nicht vorerkrankte Kinder im Allgemeinen selten schwer akut an Covid-19 erkranken und sterben, ist kein Grund, diese seltenen Fälle wider besseres Wissen einfach zu tolerieren. Prof. Wieler sprach es aus, Frau Prien, als er sagte: „Ich will nicht, dass auch nur ein einziges Kind stirbt.“ Zudem wissen wir noch nichts über mögliche längerfristige Beeinträchtigungen der Gesundheit und der weiteren kindlichen Entwicklung. Kein seriöser Wissenschaftler kann heute sagen, ob das Virus im Kind – egal ob vorerkrankt oder nicht – in einigen Jahren Schäden anrichtet, es gibt Forschung, Hinweise, Studien… einige sind eher besorgniserregend als beruhigend, manche ohne deutliche Aussage. Das Noch-nicht-Wissen darf kein Grund dafür sein, Kinder heute dem Risiko einer ungeschützten Ansteckung bewusst auszusetzen.

Eher beruhigend sind Erkenntnisse, dass eine Impfung auch bei Kindern bspw. vor PIMS als mögliche Folge einer Covid-19-Erkrankung schützt. Gut so – dann schützen sie die Kinder, Frau Prien, bis sie geimpft sind. Der wissenschaftliche Konsens ist, dass eine Durchseuchung riskant ist und keine Option darstellen darf, für kein Kind, weder vorerkrankte noch nicht vorerkrankte.

Frau Prien, ich widerspreche Ihnen: Gesundheit steht ganz klar vor Bildung, sie muss vor Bildung stehen – körperlich und seelisch, sie ist die Grundlage für alles andere. Fragen Sie die #Schattenfamilien, die stehen jeden Tag vor dieser Frage.

Aus der Politik hören wir, dass der Kita- und Schulbetrieb erst wieder eingeschränkt werden soll, wenn in der Gesellschaft alle Möglichkeiten der Eindämmung ausgeschöpft sind. Das Verschleppen dieser in der Tat noch möglichen Maßnahmen in der Gesellschaft liefert Ihnen die Grundlage, immer zu sagen, wir haben noch nicht alles angewendet…

Die verweigerte Veränderung des Präsenzbetriebes übernimmt jetzt das Virus für Sie, es schränkt Schulen und Kitas massiv ein.

Frau Prien, Sie sollten vollen Präsenzunterricht nach altem Muster bei diesen Infektionszahlen unter Kindern erst anbieten, wenn Sie alle Möglichkeiten ausgeschöpft haben, Schulen sicher zu machen. Und da ist noch viel Luft nach oben.

Wir wollen Präsenzschule – natürlich. Wer wollte das nicht. Aber im Gegensatz zu Ihnen wollen wir sie nicht um jeden Preis, schon gar nicht, wenn diesen Preis die Kinder zahlen. Die Gesundheit der Kinder ist das Wichtigste, auf dem alles andere aufbaut, für vorerkrankte und nicht vorerkrankte Kinder. Gesundheit betrifft Körper und Seele. Die aktuelle Situation an den Schulen beschädigt beides.

Und jetzt Frau Prien, bitte ich Sie, über Ihren amoralischen Satz nochmal nachzudenken.

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