Die Musik ist die Mysteriöse unter den Künsten. Sie scheint der Traumwelt des Unterbewussten, der dunklen Tiefe der vegetativen Empfindung entsprungen. Während Malerei und Literatur die Wirklichkeit abbilden, und ein Spiegel der realen Welt in all ihrer Vielfalt und all ihren Erscheinungen sind, bleibt die Musik ein vages Kontinuum flüchtiger Erinnerungen.
Doch was bildet die Musik eigentlich ab? Das Tonsystem hat ihre Wurzeln in der physikalischen Realität der akustischen Welt. Je kleiner die Wellenlängen desto höher ein Ton, und je proportionaler das Verhältnis der Wellenlängen, als desto ähnlicher werden die Zusammenklänge empfunden. Die Oktave klingt noch weitgehenden „identisch“, und auch die Quinte hat noch etwas von naturhafter Urgründigkeit (Wagners „Rheingold“ und Debussys „La Mer“ beginnen nicht umsonst mit einer Quinte).
Mit den Terzen, die die Tongeschlechter Dur und Moll bestimmen, dringt gewissermaßen die Dualität des Lebens in allen seinen Empfindungsfacetten in die Welt der Klänge. An den Tongeschlechtern (von „durus“ hart und „mollus“ weich) lässt sich ohne weiteres eine Yin-und-Yang-hafte komplementäre Geschlechterdualität ablesen. Im Gegensatz zur komplementären Abweichung der Terzen hat wiederum die Abweichung der Quinte, jene verminderte Quinte, die schon früh als „diabolus in musica“ bezeichnet wurde, eine disruptive Qualität.
Das tonale System der abendländischen Musik ist wie ein Gewächs, das sich allmählich an diesen Feldlinien entlang immer weiter entwickelt, immer weiter verästelt und zuletzt schließlich ausgewuchert hat. Mit Wagners „Tristan und Isolde“, dessen „Tristan-Akkord“ sinniger Weise eben aus einer unheilvollen Kombination aus reiner und verminderter Quinte besteht, war musikhistorisch gewissermaßen ein kritischer Punkt erreicht, dem nur ein Kollaps in die Negativität eines Non-tonalen Systems folgen konnte.
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Diesem so naturgesetzhaften System wohnte jedoch von Beginn an ein Makel inne. Schon in vorsokratischer Zeit vor ca. 2500 Jahren hatten griechische Gelehrte festgestellt, dass dieses System trotz seiner physikalischen Voraussetzungen eine Unschärfe enthält, die dazu führt, dass sich Oktaven und Quinten mit zunehmenden Schichtungen allmählich voneinander entfernen (auch als „pythagoreisches Komma“ bezeichnet und erstmals von Philolaos schriftlich formuliert).
Mit dem heutigen naturwissenschaftlichen Hintergrund wird einem immer deutlicher, dass diese Unschärfe nicht nur eine Grille der Natur ist, sondern kosmisches Gesetz. War Isaac Newton noch felsenfest davon überzeugt mit seinen Entdeckungen in der Welt der Physik die letztgültigen Naturgesetze gefunden zu haben, stellte man im Laufe der Zeit fest, dass es selbst in diesen Gesetzen Schwellen gibt, an denen sich allmähliche Unschärfen offenbaren.
Albert Einstein gelang es schließlich mit seiner Allgemeinen Relativitätstheorie, diese Unschärfen zu erklären, und für ein weiteres Jahrhundert schien damit die Welt wieder weitgehend in Ordnung. Doch je weiter wir in die Fernen des Alls blicken und die kleinsten Teile detektieren, desto mehr dämmert uns, dass wir erneut nur eine weitere Schwelle der Unschärfe erreicht haben.
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Lange Zeit war das pythagoreische Komma ein rein theoretisches Problem. Nicht nur zu Beginn der abendländischen Musikkultur mit seinen Kirchentonarten, sondern auch noch als sich im 16. Und 17. Jahrhundert allmählich ein vereinheitlichtes Dur-Moll Tonartensystem herauskristallisierte, bewegte man sich weitgehend in den Bereichen der tonalen Tonleiter, in denen das Problem der Verstimmung noch nicht akut war.
Erst gegen Ende des 17. Jahrhunderts, gewiss auch maßgeblich befördert durch den Aufschwung der Naturwissenschaften mit Figuren wie Leibnitz und Newton, begann man allmählich, die bisher gemiedenen Bereiche der chromatischen Skala und die weiter entfernten Tonarten mehr und mehr zu erkunden. Und je weiter man in diese Bereiche vorstieß, desto klarer wurde das damit verbundene Dilemma. Dass nämlich nicht nur die Unschärfen immer deutlicher hörbar wurden, sondern auch, dass es zur Lösung nur Kompromisse geben kann.
Die ersten Lösungen versuchten noch, reine große Terzen und Quinten nach Möglichkeit zumindest für die gebräuchlichsten Tonarten zu erhalten, wobei die „mitteltönige“ Stimmung auf reine Terzen setzt während die verschiedenen „Werckmeister“ Stimmungen versuchen noch teilweise reine Quinten zu bewahren. Die Bezeichnung „wohltemperiert“ stammt von Andreas Werckmeister und auch Bach verwendete höchstwahrscheinlich bei Instrumenten, die er selber stimmte, eine an Werckmeisters Vorschlägen orientierte Stimmung (Orgeln waren in der Regel mitteltönig gestimmt).
Der alternative Kompromiss ist die „gleichstufige Stimmung“, wobei die Oktave vollkommen gleichmäßig in die 12 Töne der chromatischen Tonleiter aufgeteilt wird. In dieser Stimmung sind alle Tonarten gleichmäßig unrein. Diese Methode setzte sich im 19. Jahrhundert allmählich durch und ist auch noch heute gebräuchlich, wobei, wer mit Klavierstimmern über dieses Thema spricht, feststellt, dass es durchaus immer noch Nuancierung gibt. Anders als heute oft suggeriert, ist das jedoch wohl nicht, was Bach mit „wohltemperiert“ meinte.
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Die Frage, die hinter der Stimmungsproblematik steht, ist, ob Tonarten einen Charakter haben. Diese Frage ist nicht so einfach zu beantworten. Allein die Tatsache, dass es damals keinen einheitlichen Stimmton gab, was an einem Ort wie C-Dur klar war an einem anderen Cis-Dur, spricht eigentlich dagegen.
Wie bereits angedeutet, gab es ebenso wenig eine einheitliche Stimmung. Da die Orgeln in Leipzig mitteltönig gestimmt waren, orientierte Bach sich wahrscheinlich bei den Kantaten- und Oratorien-Aufführungen eher an dieser Stimmung, während bei Aufführungen der Cembalo-Konzerte etwa im Café Zimmermann eine reine (abgestimmt auf die zu spielende Komposition) oder wohltemperierte Werckmeister Stimmung gewählt werden konnte.
Hinzu kommt, dass es ein paar prominente Beispiele von Bach selbst gibt, in denen Fassungen in verschiedenen Tonarten existieren. Der Chor „O Mensch bewein dein Sünde groß“ steht als Eingangschor der 2. Fassung der Johannes-Passion ist Es-Dur während er in der Matthäus-Passion in E-Dur steht. Das Magnificat gibt es in einer D-Dur und einer Es-Dur Fassung und die Französische Ouverture in h-moll aus dem 2. Teil der Clavier-Übung stand in einer früheren Fassung in c-moll. Für alle diese Transponierungen gibt es gute Gründe, die meist mit dem Tonartenkontext zu tun haben. Dabei hatte Bach durchaus auch eine kontextuelle „Umfärbung“ im Auge.
Denn Bach selbst hätte ganz gewiss nicht daran gezweifelt, dass es so etwas wie eine Tonartencharakteristik gibt. Nicht nur die beiden Teile des Wohltemperierten Klaviers exemplifizieren das, auch sein sich mit voranschreitender Lebenszeit immer gewaltiger und immer systematischer auftürmendes Werk in allen Gattungen ist von einer äußerst planvollen und bewussten Wahl der Tonarten bestimmt. Allerdings beruht diese Charakteristik weniger auf physikalischen Gegebenheiten als vielmehr auf kulturellen Prägungen, die sich im Laufe der Musikgeschichte entwickelt haben.
Dabei spielen die ursprünglichen Kirchentonarten eine wichtige Rolle. Der erste Modus des Dorischen ist gewissenmaßen die Urtonart der abendländischen Musik. Dass der letzte Teil der Clavier-Übung, besser bekannt als die Kunst der Fuge, in d-moll steht, ist ganz gewiss kein Zufall, zumal das Thema aus Quinte, großer und kleiner Terz ebenso die Urskala der Intervalle ausschreitet. Es ist unverkennbar, dass Bach mit diesem in vieler Hinsicht finalen Werk spekulativ zum Urbeginn zurückkehrt. Auch der zweite Modus des phrygischen ist als Klageton fest in Bachs Werk verankert. Angefangen von der Kantate „Weinen, Zagen, Sorgen, Klagen“ über die Matthäus-Passion bis hin zur großen Bearbeitung von „Aus tiefster Not schrei ich zu Dir“ aus dem Dritten Teil der Clavier-Übung.
Ein anderer Aspekt, der Einfluss auf die Prägung von Tonarten hatte, war die Verwendung von in Naturtönen geblasenen Instrumenten wie Trompeten und Hörner. So steht festliche Musik mit Pauken und Trompeten traditionell in C- Dur oder D-Dur, während sich F-Dur mit Hörnern als bukolische Jagdtonart einbürgerte. Ebenso spielt auch die Höhe des Grundtons eine Rolle, die analog zu den Stimmfächern Sopran und Alt bzw. Tenor und Bass, den Grundton eher in der Tiefe oder der Mitte verorten, und damit gewissermaßen Sonorität und Seniorität bzw. Leichtigkeit und Jugendlichkeit vermitteln.
Und schließlich spielte im frühen 18. Jahrhundert eben auch die Stimmung eine Rolle. Denn gerade bei den damals üblichen Kompromiss-Stimmungen erhielt tatsächlich jede Tonart in ihrer Imperfektion einen eigenen Charakter, da die reinen und unreinen Töne in jeder Tonart anders verteilt waren und nicht nur die Dreiklänge sondern auch Vorhalte und Leittöne unterschiedlich klangen.
Gerade wenn man beide Teile des Wohltemperierten Klavier nebeneinanderstellt, wobei Bach durchaus bemüht war, im 2. Anlauf in derselben Tonart einen Kontrast oder eine Alternative zu bieten, kann man gut erkennen, was in welchen Tonarten gut funktioniert. Wo Bach welche Stufen (Dominante, Subdominante oder Mediante) bevorzugte, wo er eher Dreiklänge oder verstärkt Vorhalte nutzte und wo er tiefer in chromatische Bereiche eindrang.
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Die wohl größte musikhistorische Besonderheit des Wohltemperierten Klavier ist uns eigentlich gar nicht recht bewusst. Präludien und Fugen hatten gerade in Deutschland bereits eine längere Tradition. Vor allem Dietrich Buxtehude, den Bach sehr schätzte, hatte eine ganze Reihe von exemplarischen Stücken in dieser Form geschrieben. Doch handelt es sich dabei ausnahmslos um Kompositionen für Orgel. Auch die „Ariadne Musica“ von Johann Caspar Ferdinand Fischer, die Präludien und Fugen in immerhin 20 Tonarten enthält, und als unmittelbares Vorbild gelten darf ist eine Komposition für Orgel.
Dabei hat die Loslösung dieser Gattung aus dem Raum der Kirche größere Implikationen als oft getan wird, wenn mit dem Hinweis auf das „Clavier“ auf eine neutrale Nutzung auf Tasteninstrumenten verwiesen wird. Nicht nur stellt Bach mit diesem Schritt diese Gattung, gewissermaßen als deutsches Equivalent, der Suite an die Seite, die bis dahin die repräsentative Gattung für Soloinstrumente im privaten Bereich darstellte (auch Buxtehude und Fischer haben Suiten für Cembalo geschrieben).
Mehr noch etablierte Bach mit diesem Werk das ästhetische Ingredienz eines neuen selbstbewussten bürgerlichen Milieus. Der Verweis im Titel, der das Wohltemperierte Klavier ausdrücklich als Lehrwerk bezeichnet, ist dabei keineswegs eine Einschränkung, sondern zielt ins Herz der frühen Aufklärung unter protestantischen Vorzeichen, die das Lernen, Üben und sich Vervollkommnen emphatisch als Lebenszweck idealisierte.
Nicht nur der Titel des anderen großen Instrumentalwerks, der „Clavier-Übung“, weist in eben dieselbe Richtung, auch Bachs gleichermaßen lapidares wie erschütterndes Wort, mit Fleiß könne es jeder so weit bringen wie er, bringt diesen Lebensethos auf den Punkt. Dass dieses Werk ohne Zweifel das einflussreichste Werk Bachs war, und gerade im bürgerlichen 19. Jahrhundert geradezu religiös verehrt wurde, verwundert unter diesen Vorzeichen wenig.
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Der Legende nach soll Bach das Wohltemperierte Klavier begonnen haben, als er im November 1717 in Weimar im Gefängnis saß. Der Weimarer Fürst hatte ihn aus gekränkter Eitelkeit dazu verurteilt, weil er einen Anstellungsvertrag mit dem Fürsten in Köthen unterzeichnet hatte, ohne vorher um seine Entlassung aus Weimar nachzusuchen. Am 2. Dezember wurde er in Ungnade entlassen und trat kurz darauf seinen Dienst in Köthen an.
Bach mag sich in seiner Zelle durchaus Gedanken über seine Pläne in seiner neuen Anstellungen in Köthen gemacht haben. Sie bedeutete für ihn einen bedeutenden Schritt in seiner Karriere, war nicht nur viel besser bezahlt als seine Weimarer Position sondern auch durch ein persönliches Interesse des jungen Fürsten geadelt. Die Konstellation ähnelt ein wenig der von Goethe in Weimar, der Beethovens zum Erzherzog Rudolph oder der Wagners zu Ludwig II., in der sich das herausragende Talent des Älteren und die institutionelle Macht des Jüngeren zu einer narzisstischen Symbiose zusammenfanden.
Der Schub an Selbstbewusstsein mag denn auch dafür verantwortlich gewesen sein, dass Bach in Köthen tatsächlich seine eigene Bestimmung fand. Bewegten sich die Kompositionen der Weimarer Zeit mit Orgelwerken, Kantaten und Suiten noch ganz im Bereich seines Vorbildes Buxtehude und waren Einzelwerke, wenn auch bereits auf hervorragendem handwerklichem Niveau, so ist das Wohltemperierte Klavier eben deswegen von besonderer Bedeutung für Bachs Entwicklung, weil sich hier erstmals in aller Klarheit jenes Element der systematischen Durchdringung, eines universalen Kontextes und eines höheren Sinnhorizonts abzeichnet, die ihn zu jener Ausnahmeerscheinung machten, als die er in die Geschichte einging. Die Brandenburgischen Konzerte und Sonaten und Partiten für Violine solo werden dann die nächsten Schritte auf diesem Weg sein.
Entstanden ist das Wohltemperierte Klavier denn auch wahrscheinlich nicht im Weimarer Gefängnis sondern von 1720 an in Köthen. Das Klavierbüchlein für Wilhelm Friedemann Bach, das den Vermerk „begonnen den 22. Januar 1720“ trägt, enthält erste Versionen einiger Präludien. Bachs ältester Sohn war gerade mal 10 und hat später auch als Musiker Karriere gemacht. Das Wohltemperierte Klavier ist wahrscheinlich das Ergebnis einer Kombination aus didaktischem Unterricht für den Sohn, dem er exemplarisch die Möglichkeiten des Klavierspiels, die Prinzipien des Komponierens und den Charakter der Tonarten demonstrierte, und einer parallelen systematischen Ausformung zu einem zyklischen Gesamtwerk, unter Hinzufügung der Fugen (für die der 10 jährigen wohl noch nicht reif war).
Auch der circa 20 Jahre später entstandene zweite Teil dürfte in einem ähnlichen Prozess entstanden sein, und wirkt sogar noch deutlich heterogener als der erste Teil, was eben auch Bachs deutlich gewachsenem ästhetischen Horizont entspricht. Überhaupt ist Vielfalt und Varietät die ästhetische Prämisse dieser Zyklen. Bereits der erste Teil steckt mit dem, für Bachsche Verhältnisse eher unterkomplexen, C-Dur Präludium und der zwölftönigen h-moll Fuge die Bandbreite des Spektrums ab.
Die Beiläufigkeit dieses Entstehungsprozesses im prosaischen Alltag des Unterrichtens mag manche überraschen, die eher erwarten, dass sich Bach weihevoll unter Glockenklang über seinen Schreibtisch beugte als er dieses „Alte Testament der Musik“ zu Papier brachte. Doch rührt die immense Wirkung dieses Zyklus, das mittlerweile unzähligen Generationen von Musikstudenten als Leitstern diente, tatsächlich daher, dass Bach in jener Rolle, als hoch überlegener, weiser und souveräner Lehrmeister, vollkommen in seinem Element war.
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