Vor 76 Jahren kapitulierte die faschistische Wehrmacht bedingungslos am 8. Mai. Das bürgerliche Narrativ, wonach just an diesem Tag der deutsche Faschismus ein Ende nahm und die Gesellschaft frei von Nationalsozialist*innen sei, prägt bis heute größtenteils das Gedenken. Der Tag markiert dabei keinen mechanischen Schlussstrich oder ein Moment, das eine neue historische Epoche einleitet, sondern beschreibt primär die Niederlage des faschistischen Deutschlands. Wie der Tag definiert wird, ist dabei nicht unerheblich, sondern drückt einen bestimmten politischen Standpunkt aus, der in der Auseinandersetzung mit dem Tag und der Ideologie unabdingbar ist. Dass der deutsche Faschismus keine subjektunabhängige Ideologie darstellt, die aus dem Nichts entstand, sondern anhand ökonomischer, gesellschaftlicher und teils psychologischer Faktoren als Entwicklung eines sich radikalisierenden Kleinbürgertums entsprang, respektive eine imperialistische Herrschaft des Kapitals war, wird von der herrschenden Geschichtsschreibung freilich nur ungern zugegeben. Stattdessen interpretiert man den deutschen Faschismus anhand der Namensgebung entweder als Spielart sozialistischer Theorien oder anerkennt mindestens den radikalnationalistischen Charakter, wenngleich eine tiefergehende politologische Auseinandersetzung gemieden wird, das heißt der dialektische Charakter und auch die materialistischen, objektiven Bedingungen ignoriert als auch widersprochen werden.
Doch um den 8. Mai zu verstehen, ist es notwendig, die Ursachen zu ergründen, die die Bedeutung des Tages erst ermöglichen. Die Komplexität und eigenständigen Faktoren sowie teils sehr konkreten Erscheinungsformen erschweren eine Faschismustheorie dadurch, weil sie größtenteils interessengeleitet sind, besonders dann, wenn sie von einem Standpunkt eruiert werden, deren Bestandsteile die Grundlage für den Aufstieg des deutschen Faschismus ermöglichten. Seit der bedingungslosen Kapitulation der faschistischen Wehrmacht und dem Aufstieg des Antikommunismus während des sogenannten „Kalten Krieges“, entfremdete sich die Theorie mehr von ihrem Kern und unterwarf sich eines Konsenses, der sich nicht nur der radikalen Aufarbeitung verweigerte, sondern den Begriff dahingehend instrumentalisierte, als dass er zur Niederschlagung und -haltung kritischer Meinungen herhalten muss. Diese Entwicklung ist im 21. Jahrhundert besonders deutlich geworden. Geprägt durch die bürgerliche „Totalitarismustheorie“, wonach ein vermeintliches Grundelement des deutschen Faschismus mit dem Stalinismus parallelisiert wird – das der Staat ein totalitärer Apparat sei – vermochte es besonders die Bundesrepublik Deutschland sich nicht nur von der faschistischen Vergangenheit reinzuwaschen, sondern es gelang und gelingt ihr auch dadurch, Kritik an dieser Herangehensweise eben mit dieser zu konterkarieren.
Die Variationen kennen dabei keine Grenzen. Faschismus ist nach herrschender Meinung und auch in Teilen der Wissenschaft all das, was Eigenschaften der selbsternannten „Totalitarismustheorie“ sind. So findet sich heute nahezu alles, was sich der bürgerlichen Gesellschaft entgegenstellt, gleich, unter welcher Prämisse, mit dem Vorwurf konfrontiert, Eigenschaften zu erfüllen, die eben dieser Theorie entspringen. Die Gefahr, die sich dahinter verbirgt, ist offenkundig: durch die faktische Entpolitisierung des Faschismusbegriffs wird nicht nur eine tatsächliche faschistische Gefahr relativiert, sondern es verunmöglicht auch eine Kritik an bestehenden Verhältnissen. Doch wie ist der deutsche Faschismus nun zu definieren und zu verstehen? Ist er als „Ausnahme“ der Geschichte der Menschheit zu werten oder doch deterministisch zu lesen, das heißt unausweichlich gewesen? Für die Geschichtswissenschaft, die sich zu verpflichten fühlen hat, völlig wertfrei und objektiv dieser Frage nachzugehen, offenbaren sich dabei mehrere Problemfelder: Welche Methodik soll angewandt werden und an welchem Punkt muss angesetzt werden, um den Beginn zu verstehen? Zentral in der Frage ist dabei auch, ob der deutsche Faschismus als Produkt einzelner Menschen verstanden werden kann oder in eine Reihe von Entwicklungen eingeordnet werden muss, die sich in kumulativen Radikalisierungen widerspiegeln.
Dass der deutsche Faschismus auch als „Nationalsozialismus“ bekannt ist, eröffnet die Gefahr, die sich in der „Totalitarismustheorie“ wiederfindet: eine Gleichsetzung diametraler Ideologien und Theorien. Ist der „Nationalsozialismus“ hernach ein Synonym für den Faschismus oder eine Spielart? Denn Deutschland war nicht der Ursprung faschistischer Bewegungen, sondern Italien. Unterschiede zwischen dem italienischen und deutschen Faschismus sind zwar vorhanden, doch Grundelemente bleiben durchaus bestehen. So spielte beispielsweise beim italienischen Faschismus der Vernichtungsantisemitismus keine tragende Rolle, derweil er im deutschen Faschismus eine wichtige spielte. Imperialistische Ambitionen, die Zerstörung der Arbeiter*innenbewegung und Gewerkschaften sowie ein radikaler Nationalismus einte sie jedoch unter anderem. Da der eigentliche Begriff „Faschismus“ keinen Inhalt hat, sondern de facto durch konkrete und strategische Politik „gefüllt“ wurde, ist eine rein begriffliche Herangehensweise der falsche Weg. Um also besonders den deutschen Faschismus einordnen zu können, muss sowohl der soziale als auch der ökonomische Faktor beachtet werden.
Dass der Faschismus im Zuge revolutionärer Erhebungen beziehungsweise nach deren Nachwehen und Niederschlagungen erstarkte ist nicht zu unterschätzen. Nach dem Ersten Weltkrieg erhebten sich nicht nur die Massen im zaristischen Russland, sondern auch im Deutschen Reich wurde die Systemfrage gestellt. Es entstanden Rätebewegungen und der Ruf nach radikaler Demokratisierung der Wirtschaft und Gesellschaft wurde laut. Das bedeutete zwangsläufig eine ökonomische Umwälzung, die den Vorstellungen der bürgerlichen und monarchistischen Kräften diametral gegenüberstanden. In dieser Zeit entstanden erste Kampftruppen, die eine protofaschistische Ausrichtung hatten, das heißt besonders auf Werktätige und deren Vertreter*innen angesetzt wurden, um die Entwicklungen brutal niederzuschlagen. Dass dabei die Sozialdemokratie die Seite der Reaktion einnahm, war zu diesem Zeitpunkt keine Verwunderung mehr, nachdem sie 1914 den Kriegskrediten zustimmte und für die „Vaterlandsverteidigung“ einstand. Die Niederschlagung revolutionärer Erhebungen stand hernach im Interesse der Kapitalist*innenklasse, die ihre politische und ökonomische Macht mit dem Einsatz des individuellen Terrors zu verteidigen versuchte. Doch die Macht und Stärke der Herrschenden war stark genug, als dass der Faschismus selbst zur Herrschaft greifen konnte. Es sollte allerdings nur ein Jahrzehnt dauern, bis sich das radikal ändern und der deutsche Faschismus zur Macht gelangen sollte.
Die Weltwirtschaftskrise 1929 markierte einen Wendepunkt und die Vulnerabilität und Schwäche des Kapitalismus. Der Klassenantagonismus spitzte sich radikal zu, wonach besonders das Kleinbürgertum, also die „politische Mitte“, abzusteigen drohte. Und entgegen aller bürgerliche Geschichtsaufarbeitungen und politischer Analysen gilt es zu sagen, dass das Kleinbürgertum als Klasse den deutschen Faschismus erst stärkte. Während die Klasse der Werktätigen mit ihren politischen Vertreter*innen vernichtet und unterdrückt werden, stellt das Kleinbürgertum die soziale Basis für den deutschen Faschismus dar, ohne sich jedoch selbst als kleinbürgerliche Ideologie zu verstehen. Denn das Kapital, das heißt unter anderem das Großbürgertum, spielt weiterhin eine wichtige Rolle, allerdings ohne politische Macht: Diese liegt in den Händen der Faschist*innen beziehungsweise des totalitären Staates, derweil die ökonomische Macht nicht angetastet wurde. Hernach ist also der deutsche Faschismus nicht als sozialistische Ideologie zu verstehen, denn das Privateigentum an den Produktionsmitteln wurde entweder nicht angetastet oder politisch in dem Sinn, um die eigene Macht zu halten. Gesellschaftlich indes spielte der Rassismus und Antisemitismus eine prägende Rolle. Die propagierte „Volksgemeinschaft“ wurde biologistisch respektive sozialdarwinistisch begründet, ohne jedoch den Klassenantagonismus zu überwinden. Das war und ist auch nie der Anspruch des Faschismus, gleich welcher Spielart.
Denn, weil er einerseits die Arbeiter*innenbewegung vernichten will und sich andererseits auf das Kleinbürgertum stützt, ist er eine ebensolche Ideologie, die die Klassengesellschaft weiterhin behält, wenngleich unter despotischer Führung. Doch die Klassengesellschaft definiert sich nicht nach der Regierungsform, sondern den objektiven Bedingungen und Wechselbeziehungen der jeweils Herrschenden. Der Faschismus stellt dabei eine rassistische und imperialistische Diktatur dar, die genau dann greift beziehungsweise droht sich zu entwickeln, wenn dem Kapitalismus droht, die politische und ökonomische Macht zu verlieren. Das Zurückgreifen auf terroristische und diktatorische Mittel ist kein Monopol des Kapitalismus, sondern Ausdruck nahezu jeder Gesellschaft und Epoche, die droht, unterzugehen. Dabei wird allerdings kein mechanischer Spielplan angewandt, sondern die Entwicklung der Menschheit ist vielen, teils widersprüchlichen Faktoren unterworfen. Die Rettung des Kapitalismus nach 1945 ist hierbei nicht als Sieg zu verstehen, sondern Verteidigungs- und Regenerationsmechanismsen der Gesellschaftsform geschuldet, die bis in die 1970er einen relativen Wohlstand besonders in den Industrienationen erlaubte. Doch dass der Faschismus nach 1945 nicht aufhörte zu existieren, ist nicht zu übersehen.
Wenngleich er in der Bundesrepublik seit 1945 keine politische Macht mehr hatte, fanden sich ehemalige NSDAP-Mitglieder in hohen Ämtern der Bundesrepublik. Faschistische Terrorgruppen wie der NSU oder Combat 18 sind dabei nur die Eisspitze faschistischer Tendenz einer Gesellschaft, die erneut seit der Weltwirtschaftskrise 2007/2008 an den eigenen Widersprüchen droht zugrunde zu gehen. Unter diesen Prämissen ist auch der Aufstieg der AfD zu verstehen oder der Rechtsruck in Teilen der Unionsparteien, die mindestens faschistoide Erscheinungsformen an den Tag legen. Dass der 8. Mai also kein Feiertag ist, ist daher wenig verwunderlich. Lippenbekenntnisse zu einer antifaschistischen Grundhaltung wirken hernach unglaubwürdig, wenn im selben Atemzug tatsächlich antifaschistisches Engagement einmal mehr mit Hinweis auf die „Totalitarismustheorie“ kriminalisiert wird. Jede rechte Entwicklung dabei als faschistisch zu bezeichnen ist ebenfalls hinderlich, denn auch das relativiert die eigentliche Ideologie und verunmöglicht eine notwendige Auseinandersetzung mit der Geschichte, auf materialistischer Basis. Der 8. Mai ist also als Tag zu verstehen, der zwar das Ende eines faschistischen, imperialistischen Staates bedeutete, jedoch nicht als Überwindung des Faschismus. Solange es Klassengesellschaften gibt, solange wird es terroristische und barbarische Verteidigungsmechanismen geben, das bestehende System am Leben zu erhalten, selbst wenn es objektiv bereits im Sterben liegt.
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