„Hurra, die 5. Milliarde ist voll / Und die Bild-Zeitung jubelt: "Ist das nicht toll?" / Neuer Geburten­welt­rekord / Lieb deinen Nächsten und pflanze dich fort / Jetzt wird dem Hunger der Welt vorgebeugt / Jetzt wird die nächste Milliarde gezeugt…“, so sang Udo Jürgens 1988. Damals wurde sein Lied „Gehet hin und vermehret Euch“ von zahlreichen Radiosendern mit einem Sendeverbot belegt, sahen darin viele einen illegitimen Angriff auf die katholische Kirche. Das war vor 34 Jahren. Ein Jahr zuvor, 1987, hatte die Zahl der Menschen auf unserem Planeten erstmals die Fünf-Milliarden-Marke überschritten.

Vor wenigen Tagen, am 15. November, fast schon eine Randnotiz in diesen turbulenten Zeiten, irgend­wo zwischen Inflation, Ukraine-Krieg, Energiepreiskrise und Corona-Pandemie, wurde Be­rech­nungen zu Folge irgendwo auf diesem Planeten Mensch Nummer 8.000.000.000 geboren. In nur 35 Jahren hat sich die Zahl der Menschen von fünf auf acht Milliarden erhöht. Und die Zahl wächst weiter, schwä­cher, aber stetig. Die Vereinten Nationen schätzen, dass es in nur 15 Jahren wieder eine Milliarde mehr sein werden. Für 2058 werden zehn Milliar­den Menschen prognostiziert. Rund die Hälfte des Wachs­tums ent­fällt dabei auf nur fünf Länder: Ägypten, Äthiopien, Indien, Kongo, Nigeria, Pakistan, die Philip­pi­nen und Tansania.

Das wirft Fragen auf: Wie sollen all diese Menschen ernährt werden? Wo und unter welchen Bedin­gun­gen sollen diese Menschen leben? Was, wenn sie alle auch einen Hauch des Anspruchs auf Mobilität, Teilhabe und Wohlstand erheben, wie wir es in den Industrienationen als selbstverständlich gewohnt sind?  Und das vor dem Hintergrund eines fortschreitenden Klimawandels.

Legt man eine Karte der Länder mit dem stärksten Bevölkerungswachstum über eine Karte der Länder, welche am stärksten von den Folgen des Klimawandels betroffen sind, gibt es deutliche Über­schnei­dungen. Letztgenannte sind vor allem in Afrika und im Nahen Osten zu finden – auch wenn sie selbst am wenigsten für den klimatischen Wandel verantwortlich sind. Hier trifft es Afghanistan, Pakistan, Indien, Thailand, die Philippinen und Indonesien am schwersten. In diesen, schon jetzt heißen Re­gio­nen, werden sich die Lebensbedingungen weiter verschärfen, im schlimmsten Fall werden Land­wirtschaft und damit eine Ernährung der Bevölkerung nicht nur zunehmend schwieriger, sondern gar unmöglich. Massive Verwerfungen in den betroffenen Gesellschaftsstrukturen und Regionen sind die unausweichliche Folge.

Wenn wir zur Einhaltung von Klimazielen eine Reduktion des CO2-Ausstoßes erreichen wollen oder vielmehr müssen, dann müssen wir dabei das zu erwartende Bevölkerungswachstum mitdenken. Jeder Mensch hin­ter­lässt einen öko­lo­gischen Fußabdruck, will essen, wohnen, sich kleiden, mobil sein, vielleicht auch reisen. Ein großer Teil der angestrebten Einsparungen wird also allein schon erforderlich sein, um ein Mehr an Bevölkerung auszugleichen. Von einer tatsächlichen Einsparung im Sinne des Klimaschutzes ist hier noch gar nicht die Rede – es geht dabei allein um das Halten des Status Quo.

Anders als bei plötzlichen Katastrophen, wie dem Sumatra-Andamanen-Beben, welches im Dezember 2004 einen verheerenden Tsunami auslöste und an den Küsten des Indischen Ozeans mehr als 200.000 Men­schen das Leben kostete, wird die Bevölkerung bei sich langsam, aber kontinuierlich, ver­schle­ch­tern­den Lebens­be­din­gungen nicht in den betroffenen Regionen verharren. Wenn die Meeresspiegel steigen, die Brunnen versiegen oder Hitzeperioden das Leben ohne künstlich klimatisierte Räume, welche man sich erst einmal leisten können muss, nicht mehr zulassen, wird das diese Menschen zwangsläufig aus ihrer Heimat vertreiben. Es sind Menschen, je nach Szenario mehrere Hundert Mil­lio­nen, die aktuell durch alle Raster fallen. Es handelt sich bei ihnen weder um politisch Verfolgte noch um Wirtschafts­flüchtlinge. Es sind Klimaflüchtlinge, welche schlicht um das Überleben kämpfen. Ihre Herkunft wird dann nicht vor Landesgrenzen Halt machen, sondern es werden ganze Weltregionen betroffen sein. Anders als bei herrschenden Konflikten oder Bürgerkriegen wird Vieles nicht mehr allein durch Binnenmigration oder durch das Aufweichen auf Nachbarländer aufgefangen werden können.

Schon in diesem Jahr rechnet das Flüchtlingshilfswerk der Vereinten Nationen (UNHCR) mit mehr als 100 Millionen Menschen, die weltweit auf der Flucht sind. Das sind 1,25 Prozent der Weltbevölkerung.

Tendenz steigend. Das wird weltweit zu neuen Verteilungsfragen in bisher unbekannter Dimension führen. Dabei wird nicht mehr allein die Verteilung des Wohlstandes Gegenstand der Debatte sein, sondern auch die Frage des Zugangs nach Wasser und die Frage, wo die Geflüchteten leben sollen. Nicht umsonst bitten die Vertreter der pazifischen Inselstaaten inzwischen nicht mehr um Hilfen, sondern stellen konkret die Frage: Wer nimmt unsere Bevölkerung auf, wenn die steigenden Meeres­spiegel ihre Heimat verschlingen.

Trotz dieser absehbaren Entwicklungen tun sich die Verantwortlichen schwer, auf diese Herausfor­derungen zu reagieren. So werden die Ergebnisse der jüngsten Weltklimakonferenz COP27 der Situation schlicht nicht gerecht. Das viel zitierte 1,5-Grad-Ziel steht nur noch auf dem Papier. Wissenschaftler, wie der Klimaforscher Mojib Latif sieht die Welt auf einem Kurs von 2,5 Grad Celsius Erderwärmung im Vergleich zum vorindustriellen Zeitalter – eher sogar von drei Grad. Die Folgen wären verheerend. Vor allem die Industrienationen der G20, welche für vier Fünftel der weltweiten Treibhausgase verantwortlich sind, müssten entschiedener handeln. Der bequeme Verweis, dass das alles nichts brächte, solange China mehr Treibhausgase ausstoße als die anderen Industrienationen in Summe, ist dabei heuchlerisch.

Wenn wir ehrlich wären, müssten wir uns eingestehen, dass diese chinesischen Emissionen eine „Stellvertreterverschmutzung“ für die Wohlstands- und Wegwerfgesellschaften in aller Welt sind. Für eine ehrliche Betrachtung müsste man diese Emissionen den Nationen zurechnen, die die damit erzeugten Produkte konsumieren. Letzten Endes wird eine Wende hier nur vollzogen werden können, wenn es im großen Stil gelingt, das Konsum- und Verbraucherverhalten in weiten Teilen der Welt zu verändern. Und hier können wir uns nicht herausnehmen. Angesichts der Empörung, welche zu­mindest in Deutschland allein die Frage eines Tempolimits auf Autobahnen erzeugt, stimmen die Aussichten hier eher pessimistisch.

Umso wichtiger ist der Vorstoß, bereits jetzt Mittel zu sammeln, um den ärmeren Regionen zu helfen, den Folgen des Klimawandels zumindest ansatzweise begegnen zu können. Auch das stößt im Land auf wenig Gegenliebe. So laufen wir sehenden Auges auf eine Situation zu, welche die Flüchtlings­situation von 2015/2016 oder aktuell den Zuzug aus der Ukraine um ein Vielfaches übertreffen werden. Dabei ist die Stimmung in der Gesellschaft, aufgrund hoher Energiekosten und steigender Inflation, schon jetzt an vielen Stellen gereizt und angespannt. Die Populisten werden sich freuen. Für unsere Demokratie wird das ein gewaltiger Stresstest. Zumal es die Probleme nicht lösen wird und die Flüchtlinge dadurch nicht verschwinden werden. „Dann knallen wir sie eben an der Grenze ab,“ sagte neulich ein Teilnehmer bei einem meiner Vorträge. Und tatsächlich halte ich dieses Szenario für nicht ausgeschlossen: Dass wir an den Grenzen Europas unseren Wohlstand mit Waffengewalt verteidigen werden. Vor diesem Tag, an dem wir mit den Flüchtlingen auch die Werte Europas über den Haufen schießen, graut mir.

Umso wichtiger wäre nun ein entschlossenes Handeln. Die Uhr tickt!

Dir gefällt, was Oliver Jauernig schreibt?

Dann unterstütze Oliver Jauernig jetzt direkt: