Wie kam ich auf Arno Gruen?

Auf der Suche nach ERKLÄRLITERATUR habe ich als Mehrfachkultaussteigerin zuerst Arno Gruens Buch “Falsche Götter” (1991) entdeckt und verschlungen. Die Ahas häuften sich, als ich danach Gruens zuvor erschienene Bücher Der Wahnsinn der Normalität (1987) und Der Verrat am Selbst (1984) las.
Zur damaligen Zeit praktizierte Gruen noch als Psychotherapeut in seiner Wahlheimatstadt Zürich. Kurzentschlossen rief ich ihn an. Voilà, er ging prompt ans Telefon. Nein, ich hatte nicht vor, seine Klientin zu werden (er ließ mich ungefragt wissen, dass er Aufnahmestopp habe). Mir war daran gelegen, seinem geschulten Ohr meine Sektenlaufbahn in kurzen Zügen vorzustellen.
Gruen antwortete: “Amazing!”, gefolgt von der Frage, ob ich wisse, was “Amazing” [Deutsch: “Erstaunlich”] im übertragenen Sinn bedeutet. Ich verneinte.
Er erklärte mir, “Ahh” ist ein Laut der beseelten Einsicht. Der Kammerton A, der aus dem Herzen entspringt, lässt das Herz aufgehen. Das A ebnet den Weg zur inneren Mitte, es erschließt den echten unversehrten Kern. Herz (coeur auf Französisch) bedeutet Mut (courage), die innere Freiheit, die tabuisierte Wahrheit zu sagen. Auf Schwäbisch heißt Mut Schneid, die Bereitschaft, das Ungesunde, Krankmachende auf- und abzuschneiden.
Das englische Wort Maze bedeutet Irrgarten, das Dickicht, die Dornenhecke, in die sich das “Falsche Selbst” verfangen hat.
Wenn man, wie ich, mehrfach den Ausweg aus dem Irrgarten (Sekteneinstieg, -alltag und -ausstieg) gefunden hat, ist in der Mitte – im Herzen und in seinem “right mind” [gesunden Menschenverstand] angekommen.

Jahre später ergab es sich, dass ich Arno Grün in Person bei zwei öffentlichen Veranstaltungen in Süddeutschland (Narzissmus-Kongress in Ravensburg, Abendvortrag bei München) traf. Auf meine öffentlich gestellten Fragen zum Thema Narzissmus ist Arno Grün beidesmal nicht direkt eingegangen. Er hatte nachgerade eine Scheu, jemanden als Narzissten abzustempeln oder etwas als Narzissmus zu schubladisieren. Er hat stets indirekt geantwortet – mit jeweils derselben Geschichte:

  • Ein Eipo-Junge aus West-Neuguinea verspeist genüsslich ein großes Stück “Schokolade” aus den Früchten des Johannisbeerbaums. Seine jüngere Schwester möchte auch ein Stück davon abhaben. Sie quengelt, während er sich hartnäckig weigert, ihr etwas abzugeben. Sie fängt an zu weinen, ihr Bruder brüllt. Aufgrund des Lärms kommt die Mutter herbeigeeilt. Sie erkennt die Geschwisterdynamik und die Lernchance. Schweigend nimmt sie dem Jungen die Süßigkeit aus der Hand und dem Mund und bricht sie in zwei Hälften.

    Frage: Was tut ein westlicher Mensch – an Stelle der Mutter – als Nächstes?
    Verhalten im Westen: Hierzulande schlichtet der Ranghöhere das Dilemma, indem er für das Kind entscheidet, statt es selbst entscheiden zu lassen. Traditionell geprägte Eltern stecken das geteilte Süßbrot jeweils beiden beteiligten Kindern zu.
    Verhalten in der Südsee: Die Eipo-Mutter gibt ihrem Sohn die beiden Stücke “Schokolade” zurück, ohne ihn weiter zu instruieren. Nun hat der Junge in jeder Hand einen Brocken. Er steht vor der Wahl, was er mit den beiden Leckerbissen machen wird. Eine Hand füttert ihn, die andere kann (ab)geben.
    Nach der mütterlichen Intervention und angesichts der neuen Gegebenheit entscheidet der Junge nach kurzer Bedenkzeit, seiner Schwester freiwillig ein Stück Carobbrot zu geben. Sie nimmt es und isst davon. Ihre Tränen sind schnell getrocknet.

Gruen erklärt diese Geschichte im untenstehenden Videovortrag (Minute 22ff).

Der deutsch-schweizerische Psychologe, Psychoanalytiker, Zivilisationskritiker, Schriftsteller Arno Gruen (1923-2015) hinterließ folgende Einsichten, die ich mir im Laufe der Jahre notiert habe:

  • “Die Sucht nach Macht zerstört die Seele des Mannes. In seinem blinden Beharren darauf, mindert er sich selbst und die Frau, die er dazu braucht, herab, um sein Image, das – bewusst oder unbewusst – zum Sinn seines Seins geworden ist.”
    Der Verrat am Selbst, 1984, S. 81, 1986
  • “Denn eben, weil es Angst macht, ein eigenes Selbst zu sein, wurde das Selbst ja verraten. Es wiederzugewinnen heißt zunächst, die Gefühle von Hilflosigkeit, Schmerz und Wut zu durchleiden, die einmal so überwältigend waren, dass es ratsam schien, das Selbst zu opfern, um nichts mehr von ihm zu spüren. Anders als jene Reagans, die überall "Fenster der Verwundbarkeit" abzudichten suchen und auf diese Weise den Angstgrund ihres Machtgebarens verraten, findet der zur Autonomie [Echtsein] ermutigte Freiheit im Akzeptieren seiner Verwundbarkeit.
    Artikel Nur der verwundbare Mensch ist stark, Der Spiegel, 5. August 1985
  • “[D]er Wahnsinn, der sich selbst überspielt und sich mit geistiger Gesundheit maskiert, hat es nicht schwer, sich zu verbergen, in einer Welt, in der Täuschung und List realitätsgerecht sind.
    Während jene als verrückt gelten, die den Verlust der menschlichen Werte nicht mehr ertragen, wird denen Normalität bescheinigt, die sich von ihren menschlichen Wurzeln getrennt haben.”
    Der Wahnsinn der Normalität, 1987
  • Wir würden lieber dem überall um uns herum grassierenden Bösen [Narzissmusgesellschaft] verzeihen als der Rebellion dagegen, die wir als das eigentliche Böse missachten.
    Der Verrat am Selbst. Die Angst vor Autonomie bei Mann und Frau, 1984
    Original: We would rather forgive the evil proliferating all around us
    than the rebellion against it, which we mistake for the true evil.
    The Betrayal of the Self. Fear of Autonomy in Men and Women, 1984
  • “Wenn die empathischen Wahrnehmungen eines Kleinkinds nicht den programmierten Wahrnehmungen der Eltern entsprechen, wird die Diskrepanz zwischen den zwei Welten, der des Kindes und der der Eltern, zum »Fehler« des Kindes. Indem das Kind die Diskrepanz zum eigenen Fehler macht, erhält es sich paradoxerweise am Leben. Denn von den Eltern abgelehnt zu sein, sich als nicht geliebt zu erleben, das bedeutet, der Hoffnungslosigkeit ausgeliefert zu sein.”
    Verratene Liebe, falsche Götter, 1991, 2003

Analoges Denken ⇔ außenorientiertes Denken
Alles oder Nichts-Realismus ◊ Mehr-oder-weniger-Symbolik

  • Der Analog-Entscheidungsprozess liegt dem philosophischen Denken zugrunde. Er hat die Qualität einer Mehr-oder-weniger-Entscheidung, nicht die Spaltung unseres Erlebens in ein Alles oder Nichts. Die Analog-Entscheidung widerspricht dem nach außen gelenkten Denken, das zum Erfolg in jenen Gesellschaften führt, die ihre Mitglieder von ihrem Herzen trennen.”
    Verratene Liebe, falsche Götter, S. 64, 1991, 2003

Die vereitelte Sicht auf den größeren Zusammenhang ["big picture"]

  • “Psychopathen und Bürokraten festigen und fördern gemeinsam die Zerstückelung unserer Sicht und Wahrnehmungen, weil ihre eigene persönliche Kohäsion die Gespaltenheit benötigt. […] Zu Beginn des 21. Jahrhunderts sind wir vom Ende der Natur und damit der Welt selbst bedroht, weil sich eine Technik, die scheinbar volle Herrschaft über den Planeten Erde ermöglicht, in der Hand von Psychopathen und Bürokraten befindet.”
    Verratene Liebe, falsche Götter, 1991, 2003
  • “Abspaltung bedeutet eine Absonderung von Teilen der Psyche, die einem Menschen zur Gefahr wurden, so dass sie dann nur in Isolation weiterbestehen können.”
    Verratene Liebe, falsche Götter, 1991, 2003
  • “Diese Angst, wenn sie einen Höhepunkt erreicht, zwingt die Kinder automatisch, sich dem Willen des Angreifers unterzuordnen, jede seiner Wunscherregungen zu erraten und zu befolgen, sich selber ganz zu vergessen, sich mit dem Angreifer voll und ganz zu identifizieren […] Dieser Zustand wird im allgemeinen im Alter zwischen vier und zehn Monaten induziert.”
    Der Verlust des Mitgefühls, 1997
  • “Wer sein Eigenes zugunsten einer Identifikation mit lieblosen Eltern (und damit sind auch verwöhnende Eltern gemeint […]), verwerfen musste, wird oft zeitlebens von einem unbewussten inneren Terror angetrieben, den Unterdrücker zu idealisieren und die Liebe für das Eigene in Hass zu verwandeln.”
    Der Fremde in uns, 2000
  • “Es ist schwer, sich dem eigenen Terror zu stellen, sich die Defizite in der Liebe unserer Eltern einzugestehen und den eigenen Schmerz und die eigenen Verletzungen (wieder) zu durchleben. Aber es ist der einzige Weg zu einer wirklichen Befreiung von der Knechtschaft. Konfuzius sagte: »Wer sein Leiden leidet, wird frei vom Leiden«.
    Der Fremde in uns, 2000
  • “Wir müssen dafür sorgen, dass unsere Kinder so aufwachsen, dass ein inneres Opfersein gar nicht erst entsteht […] und das Wohl unserer Kinder festigen. Es würde soviel weniger kosten, in das Leben zu investieren, anstatt Aufrüstung und Kriege zu finanzieren. Wir haben keinen anderen Weg als den des Lebens.”
    Der Kampf um die Demokratie, 2002
  • “Wenn Schmerz, Kummer, Hilflosigkeit verleugnet werden, […] dann wird die innere Welt ausgeschaltet und vom Getriebe des alltäglichen Lebens abgekapselt. Und so versinkt die innere Welt immer mehr im Unbewussten. Aber sie bleibt der, wenn auch unerkannte, Motor unseres Handelns, Fühlens und Denkens.”
    Der Wahnsinn der Normalität, 1987
  • “Wenn aber Schmerz vom Bewusstsein ausgeschlossen ist, dann wird dieser Schmerz zum Fundament einer Rache am Schmerz selbst, die ihren Ausdruck in der Zerstörung von Mensch und Natur findet. Darin liegt der Urgrund unserer Krankheit, und nicht in den wirtschaftlichen, politischen und religiösen Ideologien, die wir zum Vorwand unserer Zerstörung nehmen.”
    Der Verlust des Mitgefühls, 1997
  • “Der Ursprung von Gewalt und Zerstörerischem liegt in unserem Umgang mit unseren Kindern. Durch die sechstausend Jahre alte Geschichte der Kindheit in den sogenannten Hochkulturen zieht sich wie ein roter Faden die Ablehnung der Lebendigkeit und des Eigenlebens der Kinder.”
    Der Verlust des Mitgefühls, 1997
  • “Die Quelle der Gewalttätigkeit liegt in dem, was selbst erlebt und erlitten wurde.”
    Der Kampf um die Demokratie, 2002
  • “Wenn die großen Religionen gebraucht werden, um Menschen an Regeln zu binden und so abstrakten Prinzipien zu unterwerfen, führt dies stets zu einer Pervertierung der Lehre des Herzens. Das Märtyrertum der Fundamentalisten verkehrt die Liebe zum Leben in eine Liebe zum Tod, wodurch der Tod zum wahren Leben erklärt wird. Solche Menschen und ihre Führer suchen falsche Götter, weil sie in sich selbst keinen Zugang zum Göttlichen [Echten] haben.“
    Artikel Was ist eine gute Religion?, Neue Zürcher Zeitung (NZZ), 4. September 2006
  • Empathie führt zur inneren Stärke.
    Unsere Evolution wurde nicht durch Kampf und Wettbewerb hervorgebracht, sondern durch Kooperation.
    Menschen, die zu den kalten Verbrechen der Nazis fähig sind, haben zu wenig Mitgefühl und Liebe erfahren.
    Achtsamkeit? Das macht Sinn, aber Empathie ist kein kognitiv-rationaler Prozess. Es ist eine natürliche Wahrnehmung, die viel, viel tiefer geht.”
    Artikel Streiter für das Mitgefühl, Die Tageszeitung, 8. August 2013

Bücherliste von Arno Gruen

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