Dass gerade ein reichlich scheußliches Neonazi-Pamphlet öffentlich wurde, von dem der stellvertretende bayrische Ministerpräsident Hubert Aiwanger (Freie Wähler) als 17-Jähriger einige Exemplare in seiner Schultasche hatte, schlägt gerade große Wellten. Ich habe mal ein paar m. E. bedenkenswerte Sichtweisen dazu hier zusammengetragen und ziehe auch meine eigenen Schlüsse zu diesem Skandal.

Worum geht es?

Zunächst mal soll ein Blick auf das „Corpus Delicti“ geworfen werden:

Reichlich widerwärtig, oder?

Im Jahr 1987 wurden davon einige Exemplare in Aiwangers Schultasche gefunden, als er in die elfte Klasse ging. Mit diesem Flugblatt sollte der „Schülerwettbewerb Deutsche Geschichte“ verhöhnt werden. Ein Artikel von BR24 trägt die Fragen, die sich dazu stellen, zusammen. Etwas weiter geht ein Artikel vom Volksverpetzer, der die bisher bekannten Fakten darstellt.

Die Chronologie der SZ-Veröffentlichung

Nachdem Hubert Aiwanger im Juni als Redner auf einer Anti-Heizungs-Demo (so einen Schwachsinn gibt es tatsächlich) Reden geschwungen hat, wie man sie sonst vor allem von AfDlern gewohnt ist, setzte es einiges an Kritik, und auch im bayrischen Landtag wurde hitzig debattiert. Teile der Opposition forderten sogar den Rücktritt von Aiwanger, der hingegen bezeichnenderweise gerade auch von AfD-Abegordneten für sein rechtspopulistisches Gepolter (u. a. man solle sich die „Demokratie zurückholen“) Zuspruch bekam.

Aufgrund dieser Äußerungen Aiwangers hat sich dann ein ehemaliger Lehrer von ihm an die Süddeutsche Zeitung gewandt und den Journalisten das Flugblatt ausgehändigt. Daraufhin wurde recherchiert und natürlich auch Aiwanger selbst um Stellungnahme gebeten, was dann insgesamt ein bisschen Zeit in Anspruch nahm, sodass die Story erst jetzt in der Zeitung erschien. Es wurde also keineswegs eine alte Geschichte ausgegraben, um den Freien Wählern im bayrischen Landtagswahlkampf Stöcke zwischen die Speichen zu halten, sondern Aiwanger selbst hat durch sein Rechtsaußengerede den Lehrer dazu gebracht, dass der nun weitergegeben hat, dass Aiwanger eben schon als Jugendlicher durchaus mit rechtsextremen Inhalten aufgefallen ist.

Der Schüler Aiwanger

Bei so einer medial präsenten Geschichte kommen erfahrungsgemäß dann immer Zeugen in die Öffentlichkeit, um Be- oder Widerlegendes auszusagen. Bei Aiwanger sind das nun ehemalige Mitschüler. Einer berichtet beispielsweise gegenüber report München vor laufender Kamera (s. hier), dass Aiwanger öfter dadurch aufgefallen sei, dass er mit dem Hitlergruß den Klassenraum betreten hätte, zudem heischte er auch um Aufmerksamkeit durch das Imitieren von Adolf Hitlers Redestil, gab vor dem Spiegel auswendig gelernte Hitler-Reden wieder und riss gern antisemitische Witze.

Ein anderer Mitschüler hat eine eidesstattliche Erklärung abgegeben und darin Folgendes ausgesagt, als er über den Besuch einer KZ-Gedenkstätte in der ehemaligen DDR berichtet (s. hier):

„An einem Abend ist mir sehr stark aufgestoßen, dass er einen Witz über Juden gemacht hat, der mir als sehr abstoßend in Erinnerung geblieben ist“, erzählt der Schulkamerad BR24. „Auch an einen Witz über Kinder in Afrika mit Hungerbauch kann ich mich gut erinnern. Es erschien mir, dass Hubert diese Art von Humor sehr köstlich fand.“

Da finde ich es schon nicht so ganz abwegig, den Inhalt des widerwärtigen Flugblattes mit diesen Schilderungen in Einklang zu bringen. Wenn man sich dann vor allem noch mal ein Klassenfoto aus der damaligen Zeit betrachtet, wie es Philipp Türmer von den Jusos gemacht hat, dann verfestigt sich da schon ein bestimmtes Bild:

Hier scheint es also um einen Jugendlichen (oder von mir aus auch jungen Mann) zu gehen, der nicht nur keine Berührungsängste vor neonazistischem Gedankengut hat, sondern dies offensichtlich auch stark auslebt – bis hier zur äußeren Erscheinung.

Der Bruder war’s – auf einmal zumindest

Nun hat dieses grässliche Pamphlet schon damals zu Aiwangers Schulzeit für Aufsehen gesorgt, sodass Hubert Aiwanger deswegen zum Direktor einbestellt wurde. Dort nahm er dann auch eine Strafe dafür auf sich und erwähnte keinesfalls, dass sein Bruder das Teil verfasst hätte. Was dabei ins Bild passt: Das Flugblatt wurde laut einem Sachverständigengutachten auf derselben Schreibmaschine verfasst, mit der auch Aiwangers Facharbeit getippt wurde.

Doch als Aiwanger nun nicht mehr mit Abstreiten, Einschüchterungsversuchen und Erinnerungslücken weiterkam, tauchte auf einmal sein etwas älterer Bruder Helmut auf, der damals ebenfalls in der elften Klasse war, und behauptet nun, dass er dieses Pamphlet geschrieben habe. Da stellt sich dann allerdings die Frage, warum Hubert damals seinen Bruder in Schutz genommen und die Strafe kassiert hat. So kommt der oben verlinkte Volksverpetzer-Artikel zum hierbei entscheidenden Punkt:

Entweder hatte Hubert seinen Bruder Helmut 1988 gedeckt (- doch warum?) oder Helmut seinen Bruder 2023. Was davon wahr ist, ist unklar. Es ist jedoch klar und gestanden, dass die Brüder offensichtlich entgegen der Wahrheit bereit sind, die Schuld für den Antisemitismus auf sich zu nehmen. Es geht nur darum, ob wir Helmut 2023 oder Hubert 1988 glauben sollen.

Und da kommen dann m. E. schon ein paar Indizien zusammen, die dafür sprechen, dass der damals offen rechtsextrem auftretende Hubert das Flugblatt verfasst hat. Vor allem wenn man dann noch berücksichtigt, dass im Volksverpetzer-Artikel auch noch erwähnt wird, dass Hubert Aiwanger bereits 2008 versucht hat, die Sache mit diesem Ekelpamphlet zu vertuschen …

Und man darf sich dann auch schon mal überlegen, wem es denn mehr nutzt, jemanden zu decken bzw. wo dieses Beschützen denn größere Auswirkungen hat: damals in der Schule oder heute mitten im Landeswahlkampf. Also nur um mal ein bisschen die Motivationslage der beiden Brüder zur jeweiligen Zeit auszuloten. Zumal ja der Hubert als Politiker seinem Bruder auch immer gern das Wort geredet hat, wenn er laxeres Waffenrecht forderte und die gute Helmut Besitzer eines Waffenladens ist. Da ist es ja ausgesprochen beruhigend, dass jemand, der den ganzen Tag mit Schusswaffen hantiert, offensichtlich eine tiefbraune Vergangenheit haben soll. Nicht. Zumal ja Hubert dann auch über die Neigungen und Gewaltfantasien seines Bruders Bescheid gewusst haben muss – und dennoch eine Liberalisierung des Waffenrechts forderte.

So richtig toll wäre es also auch nicht, wenn die Geschichte von Hubert stimmt, dass Helmut der Flugblattverfasser sein soll.

Die Reaktionen auf den Skandal

Hätte Aiwanger auch nur einen Funken Format und Anstand, dann wäre er nach der Sache schnellstens zurückgetreten. Hat er aber offenbar nicht und ist er deswegen auch nicht. Und es gibt ja auch genug Leute, die ihm beispringen.

Aiwanger selbst posaunt nun etwas von einer „Schmutzkampagne“ gegen ihn in die Gegend. Echt jetzt? Zeichnen sich Schmutzkampagnen nicht dadurch aus, dass dabei Dinge erfunden werden, um jemand anderem zu schaden? Das hat die Süddeutsche Zeitung aber offensichtlich nicht gemacht, denn es wurde eine Originalquelle ausgewertet und dann dazu Zeugen befragt. Und Aiwanger selbst hatte ja auch die Gelegenheit, sich zu äußern. Dass er das nicht in adäquater Form gemacht hat und dann auf einmal gleich einem Deus ex Machina sein Bruder für ihn in die Bresche springen muss, ist in jedem Fall nicht Teil einer Kampagne.

Captain Futura hat in einem Facebook-Posting die Absurdität des Vorwurfs von Verdachtberichtserstattung ziemlich gut aufgezeigt, wie ich finde. Es lohnt sich, diesen etwas längeren Text zu lesen. Und da wird es auch gut auf den Punkt gebracht, wie schwach die Nummer mit dem Bruder als angeblichem Verfasser ist, denn das ist tatsächlich der einzige Punkt, der noch unklar ist, alles andere, worüber die Süddeutsche berichtet hat, hat sich als wahr herausgestellt:

Einziger Unterschied: Angeblich hat Helmut getippt und nicht Hubert. Wobei mir schleierhaft ist, was der gigantische moralische Unterschied ist, wenn weiterhin Hubert die in der Schule im Rucksack hatte. Das ist ungefähr so die Logik aus der Nazizeit, wo dann alle nur unbeteiligte Mitläufer und fast schon im Widerstand waren, die nicht direkt Teil des Erschießungskommandos waren.

Vor allem ist es schon bezeichnend, dass nun von rechts bis rechtsaußen (aber durchaus auch von Stimmen aus der angeblichen Mitte) versucht wird, der Süddeutschen Zeitung den Schwarzen Peter zuzuschustern, was Albrecht Müller in einem Artikel auf den NachDenkSeiten sehr zu Recht moniert. Genau das ist doch die Aufgabe von gutem Journalismus, auf solche Ungeheuerlichkeiten wie dieses Flugblatt aufmerksam zu machen. Das ist ja nun keine Lappalie, wie ich finde – auch wenn das von vielen Seiten so dargestellt wird. Sind wir wirklich schon so abgestumpft als Gesellschaft, dass viele bei so einem widerwärtigen menschenverachtenden Pamphlet meinen, zur Tagesordnung übergehen zu können?

Zumal ja verbale Fehltritte von Politikern aus dem linken oder linkeren Spektrum dann gern mal breitgewalzt und in hohem Maße skandalisiert werden, selbst wenn sich dann herausstellt, das das Ganze auf Fake News basiert – und zwar von den gleichen Leuten, die nun von einer Kampagne gegen Aiwanger schwadronieren.

Jugendsünde?

Aiwanger war damals 17 Jahre alt, und das wird oft entlastend für ihn angeführt. Klar, als Jugendlicher macht jeder mal Mist, aber so ein Flugblatt, was ja schon recht akkurat ausgearbeitet wurde, ist dann doch noch mal was anderes, als wenn ein 16-Jähriger im Übermut des ersten Alkoholrausches mal irgendwo „Sieg heil“ grölt – aber eben ansonsten nichts mit rechtsextremer Gesinnung am Hut hat.

Und das ist eben der Unterschied zu Aiwanger: Der war ein krasser Neonazi, wie nicht nur das Pamphlet zeigt, sondern auch Zeugen berichten. Und heute ist der Typ immer noch reichlich rechtspopulistisch unterwegs – also nehme ich ihm eine Läuterung schon mal nicht so ganz ab. Denn im Prinzip macht er doch noch genau das Gleiche wie damals: Zustimmung heischen und Aufmerksamkeit gewinnen durch provokante Aussagen mit deutlich rechter Schlagseite. Nur weiß er eben mittlerweile, dass er nicht mehr offen neonazistisches Gedankengut äußern darf, da das sonst seiner politischen Karriere schadet.

Was noch hinzukommt: Diejenigen, die das nun als „Jugendsünde“ kleinzureden versuchen, sind genau die Gleichen, die sonst gern mal eine Herabsetzung des Strafmündigkeitsalters fordern. Lustigerweise haben zudem die Freien Wähler selbst eine Herabsetzung des Wahlalters auf 16 Jahre gefordert (s. hier). Und da würde ich mal sagen: Wer wählen darf, der sollte auch zumindest so weit einen politischen Überblick haben, dass ihm klar ist, dass antisemitischer Neonazi-Kack eben nicht anderes ist als antisemitischer Neonazi-Kack. Und dass man damit nicht auf ekelhafte Weise Späße treibt, zumal wenn die Ironie schon allein deswegen nicht klar ersichtlich ist, weil man selbst wie ein kleiner Möchtegern-Adolf durch die Gegend läuft.

Beistand für Aiwanger

Wie schon weiter oben geschrieben: Das Ding wäre eigentlich ein Grund, dass Aiwanger zurücktritt. Doch der denkt eben gar nicht daran – und bekommt auch noch Rückendeckung aus seiner eigenen Partei. Was dann die Freien Wähler für mich endgültig zu einer rechtsoffenen Trümmertruppe macht.

Aber auch aus der CSU als Koalitionspartner in Bayern kommen kaum kritische Stimmen. Man wolle dem zwar nachgehen, aber zunächst mal sieht Ministerpräsident Markus Söder keinen Grund, dass sein Stellvertreter nun den Hut nehmen sollte, eine „Entlassung wäre ein Übermaß“ (s. hier).

Geht’s noch? Wie wenig politischer Anstand ist denn da bitte vorhanden, wenn solche offensichtlich antisemitische Menschenverachtung nicht hinreichend belegt, dass jemand dann für ein politisches Amt wohl eher doch nicht geeignet ist?

Aber das zeigt mal wieder, dass bei der CDU/CSU nach wie vor gilt, was eigentlich schon immer seit Anbeginn der Bundesrepublik dort galt: „Wir haben ein Herz für Nazis!“ Die haben sich dort ja in den 50er-Jahren schnell haufenweise eingenistet, bis hin zur rechten Hand von Bundeskanzler Konrad Adenauer: Hans Globke war immerhin Mitverfasser der Nürnberger Rassengesetze, also mit Sicherheit kein Mitläufer, sondern ein antisemitischer Wortführer im Dritten Reich.

Wer solche „bürgerlichen“ Parteien wie CDU/CSU und Freie Wähler hat, in denen Neonazis Karriere machen und als Koalitionspartner gern gesehen sind, der muss keine Angst davor haben, dass durch die AfD Rechtsextreme an die Regierung kommen. Denn die Rechtsradikalen sitzen bereits auf hohen Regierungsposten!

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