Die Serie „Vermischtes“ stellt eine Ansammlung von Fundstücken aus dem Netz dar, die ich subjektiv für interessant befunden habe. Die "Fundstücke" werden mit einem Abschnitt des Textes, der paraphrasiert wurde, angeteasert. Um meine Kommentare nachvollziehen zu können, ist meist die vorherige Lektüre des verlinkten Artikels erforderlich; ich fasse die Quelltexte nicht noch einmal komplett zusammen. Für den Bezug in den Kommentaren sind die einzelnen Teile durchnummeriert; bitte zwecks der Übersichtlichkeit daran halten. Dazu gibt es die "Resterampe", in der ich nur kurz auf etwas verweise, das ich zwar bemerkenswert fand, aber zu dem ich keinen größeren Kommentar abgeben kann oder will. Auch diese ist geordnet (mit Buchstaben), so dass man sie gegebenenfalls in den Kommentaren referieren kann. Alle Beiträge sind üblicherweise in der Reihenfolge aufgenommen, in der ich auf sie aufmerksam wurde.
Fundstücke
1) Aigentor?
In der Kolumne "Das Altpapier" wird die Berichterstattung der "Süddeutschen Zeitung" (SZ) über Hubert Aiwanger und deren möglichen Einfluss auf die Wahlen kritisch beleuchtet. Die Autoren diskutieren, ob die Zeitung mit ihrer Enthüllung eine politische Agenda verfolgt hat und ob dies zu einer Beeinflussung der Wahlen geführt hat. Dabei wird auf die Reaktion der Chefredakteure der SZ eingegangen, die betonen, dass sie Journalisten und keine Aktivisten seien. Es wird auch auf die mögliche Vorwurf einer Kampagne gegen Aiwanger eingegangen. Der Text stellt die Frage, ob die Veröffentlichung in dieser Form ein Fehler war und ob die SZ möglicherweise anfällig für politische Einflussnahme ist. Ein weiterer Aspekt behandelt die Medienlandschaft im Allgemeinen und weist darauf hin, dass einige Medien möglicherweise tendenziös arbeiten. Als Beispiel wird ein Beitrag des rechten Hetzportals "Nius" zitiert, der die Grünen in einem stark negativen Licht darstellt. Es wird darauf hingewiesen, dass solche unethischen Praktiken die Glaubwürdigkeit der Medien untergraben können. Die Kolumne schließt mit der Betonung, dass seriöse Medien sich der Kritik stellen, Fehler eingestehen und korrigieren sollten. Dies werde als Unterscheidungsmerkmal gegenüber unseriösen Medien hervorgehoben. Der Vergleich zwischen der SZ und anderen Medien wie "Nius" verdeutlicht die Bedeutung von ethischer Berichterstattung und Transparenz in den Medien. (Ralf Heimann, MDR)
Wie Ariane und ich im Podcast ja besprochen haben, glaube ich nicht, dass rechtspopulistische Bewegungen für Skandale empfänglich sind. Natürlich muss Berichterstattung sauber sein, möglichst wenig Angriffsfläche bieten etc., weswegen die Vermengung der SZ eines geplanten Aiwanger-Porträts mit den Recherchen über den Skandal sicherlich ein Fehler war. Aber die Unterschiede zwischen einem grundsätzlich seriös arbeitenden Medium wie der SZ und einer Propagandaschleuder wie Reichelts "Nius", die Heimann hier betont und über die ich im letzten Vermischten auch sprach, sind bedeutsam. Handwerkliche Fehler sind das eine, aber die SZ arbeitet grundsätzlich sauber. Auch das Neutralitätsverständnis, von dem Heimann spricht, ist bedeutsam; ich empfehle den Artikel zur gänzlichen Lektüre.
2) How criminalisation is being used to silence climate activists across the world
Die Guardian-Untersuchung zeigt, dass weltweit eine wachsende Anzahl von Ländern Anti-Protest-Gesetze erlässt, um Klimaaktivisten zum Schweigen zu bringen. Klimaexperten und UN-Vertreter warnen vor einem drastischen Vorgehen einiger Regierungen gegen Menschen, die friedlich Alarm schlagen. Um Umweltschützer zu kriminalisieren, werden oft vage Anklagen wie Subversion, illegale Vereinigung, Terrorismus und Steuerhinterziehung verwendet. Der Artikel betont, dass dies eine globale Entwicklung sei und auf ähnliche Weise in Ländern von Kanada bis Indien, Deutschland bis Chile stattfindet. Besonders alarmierend sind die drakonischen Maßnahmen in Großbritannien, Deutschland, Italien und Frankreich. Dort werden Aktivisten wegen angeblicher Verbrechen wie Denkmalschändung, Sabotage und extremistischer Aktivitäten angeklagt. Der Artikel hebt hervor, dass die Kriminalisierung von Umweltverteidigern Teil einer Taktik ist, die von Regierungen und Unternehmen verwendet wird, um soziale Bewegungen zu schwächen und von drängenden Umweltproblemen abzulenken. Experten warnen vor einer gefährlichen Eskalation und einem weltweiten Trend zur Kriminalisierung von Klimaaktivisten. (Nina Lakhani/Damien Gayle/Matthew Taylor, Guardian)
Mir scheint dies auf Seiten demokratischer Staaten vor allem eine Überreaktion zu sein. Das bestehende Strafrecht würde eigentlich völlig ausreichen, um mit Phänomen wie (in Deutschland) der Letzten Generation fertigzuwerden, aber der Medienhype um die Gruppe und das klare Feindbild macht sie unwiderstehlich für Law&Order-Politik. Und die führt eigentlich immer zu Überreaktionen und Bürgerrechtsverletzungen. Ich will gar keine größeren Motive als das unterstellen; der etwas verschwörerische Sound von einer Art konzertierten Aktion von Unternehmen und Politik gegen Klimaaktivismus scheint mir hier übers Ziel hinauszuschießen. Wir haben dergleichen ja bei Castotransporten, der Waldbesetzung, in Lützerath etc. immer wieder gesehen, das ist nichts Neues. Anders verhält es sich in anderen Teilen der Welt, wo üblicherweise massive staatliche und private Repression (in Tandem) hinzukommt. Mir fielen als Beispiel die Repression gegen Regenwaldschützer*innen in Brasilien ein, vor allem unter Bolsonaro.
3) ‘Mission impossible’? Antony Blinken seeks restraint as Middle East sabres rattle
Es scheint, als stecke Antony Blinken in einer heiklen Situation, in der er Israel vor einem erwarteten Angriff auf den Gazastreifen unterstützen und gleichzeitig zur Zurückhaltung ermahnen muss. Bei seinem Besuch in Tel Aviv betonte er Israels Recht zur Selbstverteidigung, warnte jedoch auch vor Schritten, die den Kriegsgesetzen widersprechen. Die humanitäre Lage im Gazastreifen verschärft sich, und Bemühungen, eine humanitäre Korridor durch Israel und Ägypten zu schaffen, stoßen auf Widerstand. Blinkens Mission wird noch schwieriger, wenn er arabische Verbündete wie Jordanien, Katar und Saudi-Arabien besucht. Die USA versuchen, einen regionalen Konflikt zu verhindern, aber die Spannungen sind hoch. Die Herausforderung besteht darin, Israels Aktionen zu unterstützen, während man gleichzeitig auf eine Deeskalation drängt und arabische Partner zur Zurückhaltung bewegt. (Felicia Schwartz, Financial Times)
An diesem Beispiel kann man mal wieder sehen, wie wichtig es ist, "adults in the room" zu haben. Mit einem Amateurteam wie dem Personal der Trump-Administration passiert so unglaublich viel mehr Unsinn, als es mit den Profis der Biden-Administration der Fall ist. Restraint scheint deren Leitstern gerade zu sein, was angesichts des Irrsinns, der aus republikanischen Kreisen gerade wieder hervorblubbert (Iran angreifen, alle Ukrainehilfen zugunsten Israels stoppen und so weiter), eine wohltuende Abwechslung ist. Wir sollten alle beten, dass Biden 2024 wiedergewählt wird. Davon abgesehen glaube ich aber nicht, dass die USA viel Einfluss auf die Situation im Nahen Osten haben. Auf die arabischen Staaten haben sie ohnehin praktisch keinen Einfluss, und Israel wird tun, was Israel tun will. Deren innenpolitischer Druck ist wesentlich stärker als alles, was die USA aufbieten können und wird neben den ohnehin vorhandenen strategischen Prämissen der IDF entscheidend dafür sein, wie sie auf Gaza reagieren (siehe auch Resterampe l) zu dem Thema).
4) Die Fake News der Julia Klöckner: Unehrlichkeit als roter Faden einer Karriere
Die CDU-Bundestagsabgeordnete Julia Klöckner verbreitete auf Twitter falsche Informationen über Zahnarztkosten von Asylbewerbern, basierend auf einer Falschmeldung des "Spiegel". Obwohl der "Spiegel" den Fehler korrigierte, hat Klöckner ihren falschen Tweet nicht gelöscht oder korrigiert. Dies ist nicht das erste Mal, dass Klöckner der Verbreitung von Unwahrheiten beschuldigt wird. In der Vergangenheit wurden ihr Falschaussagen zu verschiedenen Themen vorgeworfen, darunter auch von anderen Politikern und Medien. Klöckner reagierte oft nicht auf Anfragen und bleibt bezüglich ihrer falschen Behauptungen schweigsam. Dieses Verhalten führt zu Kritik an ihrer Ehrlichkeit und Transparenz in der politischen Debatte. (Sebastian Leber, Tagesspiegel)
Ich habe mich in ihrer Zeit als Ministerin nie groß mit Julia Klöckner beschäftigt, aber es ist schon echt krass, was für eine Serie von Lügen und Fake News sie völlig unbeeindruckt von irgendwelchen Reaktionen raushaut. Ich verstehe bei solchen Leuten die dahinterstehenden Dynamiken auch nicht wirklich. Wäre sie ein der AfD, bei den Tories oder eine Republican, würde ich sofort verstehen, was sie tut, weil das da Parteilinie und -strategie ist. Aber bei der CDU? Mich würde total interessieren, ob sie damit innerhalb ihrer Fraktion isoliert ist und quasi so ein Crank ist, den man halt erträgt, oder ob sie eigene Netzwerke hat. Weiß da jemand was dazu?
5) Die Schändung des Safe Space
Die Kolumne thematisiert das Massaker der Hamas an Israelis und die Sympathie, die sie dennoch in Teilen der deutschen Gesellschaft findet. DEr Autor stellt die Frage, warum dies so ist, und identifiziert zwei Hauptgründe. Erstens gelingt es der Hamas, sich als Anwalt der Palästinenser zu inszenieren, obwohl sie in Wirklichkeit gegen die PLO ist und den Gazastreifen in ein Terrorcamp verwandelt hat. Zweitens wird der ideologische Erfolg der Hamas durch den "Postkolonialismus" unterstützt, der Israel als Unterdrücker betrachtet und sich auf einfache antagonistische Dichotomien stützt. Der Autor kritisiert diese Denkweise und ihre Auswirkungen auf das Verständnis für islamistischen Totalitarismus und Antisemitismus in Deutschland. (Bernd Rheinberg, Salonkolumnisten)
Im Umgang mit dem arabischstämmigen Antisemitismus sehen wir gerade die Kulmination von unglaublich aufgeladenen Themen. Es ist völlig richtig, dass das Außenministerium unter Nancy Faeser im Endeffekt angesichts dieser Thematik geschlafen hat; ich bezweifle allerdings, dass der Eindruck unter der vorherigen Administration ein besserer gewesen wäre. In meinen Augen kommt das von einem generellen Unbehagen auf Seiten der Progressiven, das zu thematisieren, weil es gleich ein Einfallstor für antimuslimische Ressentiments darstellt - eine Verbindung, die von rechtspopulistischer Seite ja auch explizit gezogen wird, wie man an der CSU, die Antisemitismus als "importiertes Problem" bezeichnet, gut sehen kann. Und das Blöde ist: das ist ja grundsätzlich für diese Thematik richtig, das ist ein importieres Problem. Nur schwingt da immer gleich der Sound mit, dass es NUR ein importiertes Problem sei, als wäre Antisemitismus in Deutschland darauf angewiesen, auf dem Rücken arabischstämmiger Eingewanderter herzukommen. Das sagt die CSU natürlich nicht, aber das Missverständnis ist quasi angelegt.
Ich glaube, das erklärt das In-Knoten-Drehen von Argumentationenen wie der von Saskia Esken. Die hat ja grundsätzlich auch Recht, aber jede Nuance geht in dieser Debatte schnell unter und wird (wie bei der CSU) gerne absichtlich missverstanden. Die ganze Debatte leidet einfach unter vielen Bad-Faith-Interpretationen, der Aufgeladenheit der Situation und der gleichzeitigen Sensibilität des Themas und nicht zuletzt unter zahlreichen Verletzungen der Diskurse in der Vergangenheit, auf beiden Seiten (Vorwürfe gegen das rechte Spektrum, bei Hinweisen auf migrantische Kriminalität oder Extremismus rassistisch zu sein, Vorwürfe gegen das linke Spektrum, genau davor bewusst die Augen zu verschließen).
Ein letzter Aspekt ist das Problem mit der Politisierung der Gegnerschaft zu Postkolonialismus. Das entwickelt sich gerade zur nächsten rechten Masche, was dem Diskurs nicht eben zuträglich ist. Denn postkoloniale Studien sind wichtig für das Verständnis der Kolonialgeschichte und dem, was später in den Regionen passiert ist, sind aber gleichzeitig eben AUCH ein Hort für Positionen, die nicht gerade unproblematisch sind, milde ausgedrückt (siehe den im Fundstück verlinkten Artikel für Beispiele). In all diesen Debatten gerät man super schnell in parteipolitisch aufgeladene Kampagnen.
Resterampe
a) Umwelthilfe scheitert mit Klage gegen BMW. Völlig zurecht.
b) Chartbook X Unhedged Debating Multipolarity. Superspannende Debatte.
c) Man kann mal was Positives über die Letzte Generation sagen!
d) Wer sich für Max Weber interessiert, wird sicherlich diese Rezension eines Essays in der ZEIT lesen wollen.
e) Alex Clarkson hat was über Ägyptens Situation im Gazakrieg.
f) Ein weiteres Beispiel aus der Serie "Lügen mit Zahlen" in der Migrationsdebatte. Friedrich Merz spricht von 300k Leuten, wo es in Wahrheit etwa 20k sind.
h) Zauberlehrlinge. Ich hab das schon vor Langem gesagt.
i) Habeck schlägt als einziger eine sinnvolle Wirtschaftspolitik vor.
j) Siehe zu i) auch das hier.
k) Für historisch Interessierte ganz cool: Bericht über die Erschaffung des digitalen mittelalterlichen Bagdad für Assassin's Creed.
l) Was, wenn es eine Falle ist? Ich hätte ehrlich gesagt gerne Antworten auf die rhetorischen Fragen.c
m) Absolut lesenswerter Rant in der FAZ gegen Richard David Precht.
n) Die unterschiedliche Einschätzung der potenziellen Gewinne eines Tempolimits je nachdem, welche Regierung an der Macht ist, ist beachtlich.
o) Spannende Deutung von Tusks Wahlsieg.
p) Pax Americana isn’t declining. It never existed. Yes.
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