Da sitzt man da, denkt nach und man stellt fest, es war eine verlorene, eine vergeudete Stunde. Eine Stunde Lebenszeit sich vom Munde abgespart und im Ergebnis ein deprimierendes leeres weißes Blatt. Ein Grund, alles hinzuschmeißen, wäre das Blatt nicht im Laptop. Das hat zwar den Vorteil, man kann jeden Unsinn schreiben und es dann einfach wieder löschen. Doch, um irgendwelchen Blödsinn zu löschen, muss einem erst einmal etwas Blödsinniges einfallen. Ich befinde mich derzeit in einem tiefen dunklen schwarzen Loch. Nicht die geringste schwachsinnige Idee kommt mir in den Sinn. Ich bin am Tiefpunkt meiner kreativen Leistungsfähigkeit angelangt.
Es kommt einer literarischen Kapitulation gleich. Ich möchte ja nicht zu harsch mit mir ins Gericht gehen, aber ich versage gerade auf ganzer Linie. Ich befinde mich in der schizophrenen Situation, dass ich nur darüber schreiben kann, dass ich gerade nicht schreiben kann. Hätte ich eine zündende Idee, müsste ich dies nicht tun und könnte mich an dem erfreuen, was mir gerade in den Sinn kommt. Ich würde an Sätzen drechseln, Pointen entwickeln und satirische Spitzen setzen können. All dies mit Verve und Enthusiasmus. Es ist mein Lebenselixier. Meine Berufung. Meine Profession. Wäre es jedenfalls, wenn mir etwas einfallen würde. Doch das tut es nicht. Und ich prophezeie einmal, es wird sich in absehbarer Zeit nicht ändern, eher noch verschärfen. Das wirkt sich auch unmittelbar auf meine Psyche aus. Sie ist nachhaltig gestört. Ich seh nur noch dunkle Wolken, die sich über mir versammelt haben und als Damoklesschwert bedrohlich sich meiner annehmen. Die Gedanken, die mich erreichen, sind von unschöner Natur. Finster und von endgültiger Grausamkeit sind ihre, gegen mich gerichteten Inhalte.
Sie drängen mich zu einer Entscheidung, die mir nicht gut bekommen wird, wenn ich auf ihre gut gemeinten Ratschläge höre. Am meisten jedoch stört mich die Tatsache, diese Ratschläge werden mir ungefragt erteilt. Ich habe nicht darum gebeten. Und eigentlich verbitte ich mir auch dieses Eingreifen in mein Leben, was auch so schon, eines meiner bisher Schwersten ist. Und das ausgerechnet jetzt, da ich so labil bin. Ich finde es nicht fair, dass dies so schamlos ausgenutzt wird. Eine kleine unbedeutende Blockade, ein literarischer Rückschlag, wird nun gegen mich ins Feld geführt. Menschlich empfinde ich nur Abscheu dagegen, wie mit mir umgegangen wird. Als hätte ich nicht ohnehin schon mehr als genug Probleme, die es nicht zulassen, dass ich einen klaren Gedanken finden oder entstehen lassen könnte.
Wenn sich wenigstens am Horizont eine kleine Idee zeigen würde, die Hoffnung mit sich bringt. Doch so sehr ich mein müdes Auge auch bemühe, erkenne ich kein Licht am Horizont des Tunnels, indem ich mich befinde. Aber was mich zu all dem Unglück, was mich gnadenlos in seinem Schwitzkasten hat, ist die Ungeheuerlichkeit der Worte, die mir durch die Finger strömen und nun das leere weiße Laptopblatt bevölkern. Wie diese elektronisch entstehenden wortreichen Sätze, Absatz für Absatz, sich zu mir äußern, kann ich nur in aller Mostrichschärfe verurteilen und halbherzig zurückweisen, sowie dementieren. Ob ich jedoch damit mein Seelenheil zurückgewinne, scheint mir zweifelhaft. Ich wanke noch durch die Wankelmütigkeit meines desolaten Lebens. Andere, die sich in ähnlicher oder ganz anderer Situation wie ich sich befinden, befanden oder dem nachstreben wollen, wissen, wovon ich schreibe, falls sie es denn lesen.
Viele davon haben jedoch längst einen Schlussstrich gezogen und sich vom Acker gemacht und liegen nun in dem morastigen Boden, wo sich sonst nur Maden und Würmer hin verirren. Ihre Perspektive ist es Humus zu werden.
Oder sie haben sich dem Feuer der Vergänglichkeit übergeben. Es ist die letzte selbstbestimmte Entscheidung, wie man von dieser Welt abtreten möchte. Noch ist meine Stimmung nicht genügend ausgeprägt, um mich ihnen anzuschließen.
Noch bin ich willens, mich dagegenzustemmen. Aber wenn nicht bald ein zündender Einfall über mich kommt, dann garantiere ich für nichts mehr.
„Wegen mangelnder Kreativität zu Grabe getragen“, möchte ich auf meinem Seligen nicht lesen möchten.
Dies ist natürlich ein unsinniger Gedanke. Wie soll man auch eine Steininschrift lesen, wenn man A tot ist und B darunter liegt. Ich werde mich jetzt einfach so lange konzentrieren, bis mir ein kluger und wirkungsvoller Gedanke kommt, den ich zu einer tollen Geschichte ausweite. Es muss natürlich ein Spitzengedanke sein. Ein Revolutionärer. Ein nie zuvor da Gewesener.
Ich werde sie hinwegfegen, diese Dichter und Denker und alle diese pseudointellektuellen allwissenden Philosophen. Nur noch ein Gedanke bin ich davon entfernt sie niederzuschreiben. Jetzt bleibe ich hier ganz ruhig sitzen, völlig entspannt und harre dem Geistesblitz, der mich alsbald erfassen wird. Es wird nicht einfach ein simpler Einfall sein. Ich erwarte eine Erleuchtung von imposanter weltgeschichtlicher Bedeutung.
Zwei Tage später ...
Leider muss ich zu meinem Bedauern eine höchst betrübliche Feststellung machen. Noch immer sitze ich vor meinem leeren weißen elektronischen Blatt Papier. In den letzten achtundvierzig Stunden, ohne Schlaf, habe ic mir mein Hirn geradezu verrenkt, doch die darin befindliche Leere hat sich nicht gefüllt mit ausbaufähigen Weisheiten.
Nun sehe ich nur noch einen Ausweg, aus der Misere herauszukommen, und muss mich an fernöstlichen Weisheiten bedienen. Hierzu werde ich beim Chinesen meines Vertrauens aufschlagen und eine Investition in einen Glückskeks tätigen. Sobald dieser dann erbrochen ist und sich mir ein kleines Zettelchen offenbart, werde ich den weisen Spruch leicht abwandeln und als den meinen ausgeben.
***
Komme soeben vom Chinesen zurück. Glückskekse waren aus. Ich bin verzweifelt. Falls jemand von Ihnen, werte Leserschaft, noch irgendwo einen Glückskeks herumliegen hat, würde ich mich über eine Zusendung freuen. Nehme auch welche, deren Verfallsdatum bereits abgelaufen ist.
Helfen Sie bitte einem, auch vor Suizid nicht zurückschreckenden, Gedankenlosem.
Sonst ist dies das unumgängliche Ende.
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