Die Serie „Vermischtes“ stellt eine Ansammlung von Fundstücken aus dem Netz dar, die ich subjektiv für interessant befunden habe. Die "Fundstücke" werden mit einem Zitat aus dem Text angeteasert, das ich für meine folgenden Bemerkungen dazu für repräsentativ halte. Um meine Kommentare nachvollziehen zu können, ist meist die vorherige Lektüre des verlinkten Artikels erforderlich; ich fasse die Quelltexte nicht noch einmal zusammen. Für den Bezug in den Kommentaren sind die einzelnen Teile durchnummeriert; bitte zwecks der Übersichtlichkeit daran halten. Dazu gibt es die "Resterampe", in der ich nur kurz auf etwas verweise, das ich zwar bemerkenswert fand, aber zu dem ich keinen größeren Kommentar abgeben kann oder will. Auch diese ist geordnet (mit Buchstaben), so dass man sie gegebenenfalls in den Kommentaren referieren kann.

Fundstücke

1) Die Kosten des Sich-Zeit-Nehmens

Was damit unsichtbar gemacht wird, ist die radikale und existenzielle Ungleichheit, mit der das Sich-Leisten-Können von Zeit in der Gesellschaft verteilt ist. Wenn sich die vermeintlich gemeinsame Lösung des vermeintlich gemeinsamen Problems immer weiter vertagt und verzögert und verwässert und in die Länge zieht, dann zahlen mitnichten dafür alle den gleichen Preis. Für mich reichen 50-Jährigen heißt Abwarten, Aushandeln, Vorsichtig-und-Moderat-Bleiben radikal und existenziell geringere Kosten als für eine prekäre 20-Jährige. Die Kosten des Sich-Zeit-Nehmens sind radikal und existenziell ungleich verteilt, und diese Ungleichheit lässt sich weder ohne Weiteres demokratisch prozessieren noch progressiv und wachstumsfroh der Zukunft überantworten noch ausgrenzen und an bzw. über den Rand der Gesellschaft schieben. Sie ist da, und je größer die Anstrengungen, sie unsichtbar zu machen, desto lauter wird sie sich Gehör verschaffen. (Maximilian Steinbeis, Verfassungsblog)

Ich halte das Thema Opportunitätskosten in der Klimadebatte ohnehin für unterrepräsentiert. Es ist natürlich anders als die realen Kosten immer mit einer gewissen Unsicherheit behaftet; schließlich weiß niemand genau, welche Kosten anfallen werden. Aber die Folgekosten bisheriger Klimaschäden lassen zumindest die sehr generelle Aussage zu, dass Nichthandeln teurer ist als Handeln. Aber wie immer zeigen sich hier die kommunikativen Grundprobleme beim Klimaschutz: es geht um lange Zeiträume und um spätere Generationen. Und genauso wie das Argument langfristiger Folgekosten und dem Schicksal der nachfolgenden Generation noch niemand von der Aufnahme neuer Staatsschulden abgehalten hat, so wenig scheint es mir Leute davon abzuhalten, doch noch mal Ausnahmeregelungen für Verbrenner, für Gasheizungen oder was auch immer die Veränderung du jour ist zuzulassen.

2) Niemand braucht die teuren Laber-Podcasts der Ministerien

Es klingt wie ein schlechter Witz: 223.751 Euro hat das Bundesarbeitsministerium für elf Folgen eines eigenen Podcasts mit dem einschläfernden Titel „Das Arbeitsgespräch“ bezahlt. Die letzte Folge hatte laut „Spiegel“ gerade einmal 1.326 Hörer*innen. Einer davon war ich. Rund 300.000 Euro gab das Justizministerium für fünfzehn Folgen des Podcasts „Recht so?!“ aus – mit im Durchschnitt 4.000 Abrufen pro Folge, wie „Spiegel“-Journalist Anton Rainer bei einer Umfrage unter den Bundesministerien ermittelt hat. [...] Eine Produktionsfirma war beim Podcast laut Arbeitsministerium zuständig für „Umsetzung und Produktion der Podcastreihe, Aufnahme vor Ort inkl. Remote-Einbindung, Postproduktion, Erstellung Audiosnippets, Transkription inkl. Sound- und Technikcheck“. Ganz schön hochtrabend für einen Gesprächspodcast. Andere (Hobby-)Podcaster*innen würden das einfach „podcasten“ nennen. Sie schaffen das zu deutlich geringeren Kosten. [...] „Wir können jedoch bestätigen, dass von den 223.751 Euro 65.000 auf Werbung entfallen sind“. Klar, so ein Podcast soll ja seine Hörer*innen finden. Hat in diesem Fall nur nicht funktioniert. Auch nicht mit viel Werbegeld. Stattdessen wurden hundertausende Euro für gerade ein paar Tausend Hörer*innen ausgegeben. Zwei Dienstleister für einen relativ einfachen Gesprächspodcast engagiert. (Sandro Schröder, Übermedien)

Selbstverständlich könnten diese Podcasts vermutlich auch von irgendwelchen Praktikant*innen im Ministerium erstellt werden. Man gebe mir ein Budget von 5000 Euro, und ich bin ziemlich sicher, die qualitativ nötige Ausrüstung beschaffen zu können. Aber das ist ja nicht das Thema. Ich verstehe durchaus, dass die Ministerien diese teuren Agenturen beschäftigen, und dass sie nicht nur eine, sondern gleich zwei holen. Es ist die gleiche Dynamik, die Unternehmen dazu bringt, teure Unternehmensberatungen zu engagieren, um zu dem gleichen Schluss zu kommen, den das Managment eh schon längst gefasst hatte: es ist ein Sichern des eigenen Hinterns.

Denn wenn irgendwelche Kritik aufkommt, kann man auf Externe verweisen. Klappt irgendwas an diesen Podcasts nicht, hat man alles menschenmögliche getan, um sie so professionell wie möglich aufzuziehen (genauso wie das genannte Managment sich gegenüber änderungsaversen Mitarbeitenden mit Verweis auf McKinsey herausreden kann). So könnte der Laberpodcast von Hubertus Heil sicher auch inhouse erstellt werden. Nur wäre dann gegebenenfalls ein übler Shitstorm programmiert. Dem kann man so aus dem Weg gehen.

Dass diese Podcasts komplett für den Popo sind, ist allerdings die andere Seite der Medaille. Wer zur Hölle soll denn die Zielgruppe dafür sein? Eigentlich nur Journalist*innen, denn die werden dafür bezahlt, die Soße anzuhören. Ich empfinde ja schon unter normalen Umständen Interviews mit Politiker*innen als reine Zeitverschwendung; das dann auch noch im safe space Corporate Podcast ertragen zu müssen, kann man ja niemandem vermitteln. Hört lieber die Bohrleute.

3) Alte Abi-Prüfungen gegen Geld

Die zur Prüfungsvorbereitung wertvollen Aufgaben wurden schließlich mit Steuergeldern erstellt, lautet ein Argument. Dabei geht es den Kritikern vor allem um Bildungsgerechtigkeit. "Wer es sich nicht leisten kann, alte Prüfungen von einem privaten Anbieter zu kaufen, zieht bei der Vorbereitung den Kürzeren", schreibt Max Kronmüller von "Frag den Staat". Die anklagende Überschrift des Beitrags lautet: "Staat verscherbelt Prüfungen, Verlag verdient Millionen." [...] Diese Rechte würden in Abi-Klausuren in Form von Texten oder Fotos häufig tangiert, heißt es aus dem Ministerium. Ein weiterer Grund, den die Landesregierung gegen eine Gratis-Online-Veröffentlichung anführt. (Wolfgang Türk, Hessenschau)

Erst einmal kurz zur Sache: alle Sorge um soziale Ungleichheit in Ehren, aber ein Stark-Heft ist dann doch bezahlbar. Es gibt drei bis vier schriftliche Abifächer. Und man kann die Dinger sogar untereinander teilen. Das sehe ich jetzt echt nicht als das Mörderhindernis. Viel problematischer sind die Musterlösungen in den Stark-Heften, die völlig wirklichkeitsfern sind und weswegen ich die Dinger nur sehr eingeschränkt empfehlen kann; ich stelle meinen Schüler*innen eigenes Material zur Verfügung. Aber dass für die Prüfungsvorbereitung weitere Bände praktisch sind - big whoop. Und die etwas älteren, die meist immer noch problemlos nutzbar sind, finden sich in Bibliotheken.

Es ist und bleibt aber ein Problem, dass die Urheberrechtsgesetzgebung ständig das Bildungssystem zerhagelt. Wir Lehrkräfte begehen schon aus reiner Unkenntnis der Gesetzeslage ständig Gesetzesbrüche; wer da sichergehen will, verbietet sich so viele Dinge selbst, dass der Unterricht massiv darunter leidet. Ich bin schon lange dafür, dass das Bildungssystem eine eigene Urheberrechtsregelung bekommt, ungefähr analog zur Bibliothekenregelung von Verlagen. Die Länder bezahlen den Urhebern einen fixen Betrag, und dafür sind alle Ansprüche abgegolten, sofern der Kram im Bildungssystem verbleibt. Das ist ja nicht gewerblich. Die Flurschäden hier sind viel größer als im Anschaffungspreis der Stark-Hefte.

4) Dieses Buch hat mir gezeigt, dass mehr Bildung kaum ein Problem löst

Beim Lesen habe ich das erste Mal wirklich realisiert, wie radikal sich das Bildungssystem in den vergangenen Jahrzehnten verändert hat. Nicht die Art und Weise, wie oder was unterrichtet wird, sondern das Ausmaß der sogenannten Bildungsexpansion. [...] Die Bildungsexpansion zusammengefasst: Immer mehr Menschen verbringen immer mehr Zeit im Bildungssystem, erreichen dort immer bessere Abschlüsse, wodurch sich das durchschnittliche Bildungsniveau in der Bevölkerung erhöht. Win-win-win, oder? Nicht nur. [...] „Wir werden alle schlauer, aber niemand bekommt es mit.“ Das ist nur eine von drei paradoxen Folgen der Bildungsexpansion. Die anderen beiden fasst er so zusammen: Soziale Benachteiligung kann zunehmen, weil die Bildungschancen steigen, und Bildungsabschlüsse verlieren an Wert, weil sie immer wichtiger werden. [...] Das Bildungssystem ist nur ein Teil der Gesellschaft. Ein wichtiger Teil, ja. Bildung kann viel verändern, bei jedem persönlich, in der Gemeinschaft. Es geht im Buch auch nicht darum, Bildung jegliche Wirkung abzusprechen. Sondern zu verstehen: Mehr Bildung allein löst die Probleme nicht, wenn sie gesellschaftlich gewachsen sind. Die Forderung nach mehr Bildung, um die großen Probleme zu lösen, lenkt sogar ab und verhindert notwendige gesellschaftliche Veränderungen. (Brent Freiwald, Krautreporter)

Der Text ist deutlich länger als der Ausschnitt hier und in seiner Gänze lesenswert, schon alleine um die Argumente zu verstehen. Aber seit mindestens 20 Jahren ist "mehr Bildung" eine solch ubiquitäre Forderung, wann immer es um die Beseitigung von Ungleichheit geht, dass diese kalte Dusche mehr als angebracht ist. Klar ist mehr Bildung super, aber sie ist eben nur sehr eingeschränkt geeignet, das grundsätzliche Problem zu lösen. Zur Lösung der Ungleichheit braucht es viel mehr als nur einen solchen Ansatz; wie immer sollte man gegenüber monokausalen Lösungs- und Erklärungsversuchen sehr skeptisch sein. Im Übrigen hatte ich mal einen Diskussionsartikel zum Thema "Lösung der Ungleichheit geschrieben gehabt - falls sich jemand daran erinnert.

5) Es führt kein Weg zurück zur Monarchie

Ein wahrhaft national denkender Deutscher kann heute nicht mehr Monarchist sein. Daneben aber erblicken bekanntlich die Kämpen auf der Rechten, deren Vortrupp kürzlich den Staat gefährdete, ihre Hauptaufgabe in der nationalistischen Agitation. Auch da ist es schwer zu verstehen, dass sie überhaupt noch gehört werden. Wenn Deutsche in diesen Jahren des Leidens einen tiefen und unauslöschlichen Abscheu gefasst haben, so ist es doch der gegen die nationalistisch-imperialistische Geistesverfassung, in deren Diensten wehrloser Völke vergewaltigt, blühende Volksteile ihres nationalen Eigenlebens und ihrer primitivsten Menschenrechte beraubt werden, in deren Dienste die Reitpeitsche knallt und sich Gewehre auf Unschuldige richten, der Abscheu gegen die Geistesverfassung, die letzten Endes neben der Vernichtung des fremden zur Isolierung und schließlich zum Sturz des eigenen, herrschsüchtigen Volkes führt. Die ungeheuerliche Grausamkeit und Verworfenheit dieser Geistesverfassung hat sich unauslöschlich eingeprägt. Wenn wir aber in dem gewaltigen Kampfe um unser Lebensrecht nach außen irgend einen Eindruck, wenn wir im Inneren die notwendige moralische Geschlossenheit und Stärke der Abwehr besitzen wollen, so müssen wir konsequent sein: So müssen wir auch im eigenen Land die Geistesverwandten derer energisch abweisen, die uns von außen her demütigen. Die platte Gegenüberstellung von Macht- und Rechtspolitik ist überhaupt falsch. (FAZ)

Dieser FAZ-Artikel vom 11. April 1923 hat mich total fasziniert. Auf der einen Seite ist er unglaublich hellsichtig, wenn er sich gegen die nostalgisch verklärten reaktionären Tendenzen seiner Zeit wendet und darauf hinweist, dass an Vernunftrepublikanismus kein Weg vorbeiführt. Auf der anderen Seite ist er geradezu rührend naiv darin, dass die ausargumentierte Logik - die Veränderungen des globalen Mächtesystems erzwingen eine andere Rolle Deutschlands - in irgendeiner Art und Weise selbstevident sei und deswegen zum Durchbruch kommen müssten. Das galt für Gustav Stresemann; es galt emphatisch nicht für Hugenberg, Hindenburg, von Papen et al. Die Nazis waren ohnehin von etwas ganz anderem überzeugt: sie teilten die Analyse völlig, kamen nur zu einer radikal anderen Schlussfolgerung. Heute ist das ähnlich: der Liberalismus ist und bleibt das bestmögliche System, aber das hält Extremist*innen überhaupt nicht davon ab, die Schlussfolgerung zu ziehen, dass es einen riesigen Kraftakt zu einer gewaltsamen Umstürzung des Status Quo bedürfe, um - dieses Mal aber wirklich! - eine tragfähige Alternative gegen alle Widerstände zu etablieren.

Resterampe

a) Patrick Bahners nimmt in der FAZ Buschmanns bescheuerten Nazivergleich zur Letzten Generation auch historisch auseinander. Nichts hinzuzufügen.

b) Die CDU will das Renteneintrittsalter an die Lebenserwartung koppeln. Grundsätzlich nicht die dümmste Idee, die ich in dem Kontext je gehört habe; der Rest der Maßnahmen aber ist letztlich same old, same old.

c) Die amerikanische Wirtschaft läuft gut, aber so gut auch wieder nicht.

d) Noch eine strahlende Rezension von "Die Moskau-Connection".

e) Guter Vergleich zum Thema Überstunden.

f) Gute Kritik an dem ständigen Vorwurf des "im Dienst des Kreml stehen".

g) Fundstück speziell für Thorsten: in einer Folge "Quoted" geht es um die Aufarbeitung der Kolonialvergangenheit und vor allem die Frage, warum man das überhaupt tun sollte (oder nicht).

h) Die Geschichte der rechtsradikalen ersten Asterix-Übersetzung kannte ich auch noch nicht.

i) Gegen französische Demos ist die Letzte Generation echt ein Witz.

j) Nachtrag zur Debatte um Fehlerkultur.

k) Ok, ich habe den Preisträger für den bisher dümmsten Beitrag zur Letzten Generation.

l) Meine Güte ist Richard David Precht ein Idiot.

m) Das Benehmen der Grünen anlässlich der Wegener-Wahl ist nicht eben lobenswert.

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