„Mach nicht so ein Gesicht“, heisst es manchmal. Jemanden können Sorgen, Ängste, Depressionen bedrücken, aber „mach nicht so ein Gesicht“. Es ist ein Satz der nicht weiter tiefsinnig scheint, aber in der Postmoderne bekommt er eine ganz andere Bedeutung. Die Postmoderne, wie ich in dem von mir verfassten Boche „Epistemologie der Postmoderne – eine kritische Auseinandersetzung mit dem Zeitgeist der neuen Epoche“ ausgeführt habe, orientiert sich grundsätzlich nach Bildern statt nach Inhalten, d.h. Erscheinung über Realität. Folglich „mach nicht so ein Gesicht“, denn wenn wir nicht das Bild deiner Sorgen haben, dann existieren diese Sorgen auch nicht. Selten wird gefragt, „was bedrückt dich“, denn Antworten, die auf solch eine Frage kommen, werden schnell zum Ursprung für Konflikt, wenn sich herausstellt, dass diese Sorgen im Widerspruch zu einer der akzeptierten, angemessenen Auffassungen der Realität stehen, oder gar auf der Tatsache, dass es diese Auffassungen gibt, beruhen. Diskussionen, die wirklich etwas tiefsinniger sind, die sich tatsächlich mit unserer komplexen Realität auseinandersetzen, sind in der Postmoderne schwierig, da sie schnell zu einer giftigen Auseinandersetzung führen, wenn das enge Korsett der Realitätsinterpretation gesprengt wird.
So lange man ein passendes Bild der Realität aufzeichnen kann, ist es nicht weiter wichtig, ob dieses auch tatsächlich der Realität treu ist, oder in Form eines Simulacrum etwas zeigt, was gar nicht existiert. So erklärt sich das Phänomen, dass während die Realität an sich im öffentlichen Diskurs immer mehr durch Dualismen beschrieben wird, richtig-falsch, gut-böse, positiv-negativ, gleichzeitig in der Fiktion nach und nach die Grautöne überwiegen. In Filmen zum Beispiel, wird es seltener dass einen klaren Helden und einen Bösewicht gibt, und stattdessen werden Geschichten konzipiert, worin die Moralität nicht so klar unterschieden ist, oder worin Archetypen dekonstruiert werden. Die Fiktion wird zum Ersatz für die Realität, welche nicht existieren darf, und bietet uns die Komplexität, die in der Wahrnehmung der Realität verwehrt bleibt.
„Alter ist nur eine Zahl“
Wer kennt sie nicht, diese Sprüche, die dem alt Werden die Bedeutung absprechen wollen. Manche wollen gar nicht in Rente gehen, da sie darin die endgültige Auszeichnung sehen, dass sie nun alt sind. Oder die Boulevardpresse bringt mal wieder einen alten Menschen, der noch irgendwelchem Extremsport nachgeht. „100-Jährige macht es vor: Es ist nie zu spät für Abenteuer“, titelt der Fokus eine Nachricht über eine greise Fallschirmspringerin. Die Flucht vor dem Alter ist schlussendlich nichts anderes als die Flucht vor dem Tod, doch die Flucht vor dem Tod ist auch die Flucht vor dem Leben.
Dabei gehört das altern auch zu dieser unendlichen Faszination, welche unsere Existenz darstellt. Das erlangen von Erfahrungen, der Wechsel des Denkens, das Reifen des Geistes. Doch wenn man schon im Vornherein diese Wandlungen verdrängt, dann kann man dem Altern kaum etwas abgewinnen. Stattdessen findet man sich wieder, in einer dieser Fremdscham hervorrufenden Erscheinungen von Menschen mittleren oder gar hohen alters, die meinen, wenn sie sich benehmen wie junge Leute, mit einem Roller durch die Stadt fahren, sich in Nachtklubs tummeln, dann würden sie die Jugend, die sie verloren zu haben meinen, als sei sie ein Besitztum und nicht ein Leihgabe, wiedererlangen. „Ich hatte grosse Angst vor dem Altwerden“, sagte Heinz Rühmann bei seinem Auftritt bei Wetten Dass..? im Jahre 1994, als er über 90 Jahre alt war, „Heute kann ich nur sagen: Werden Sie alt, es lohnt sich!"
Was die Postmoderne aufzeigt, ist dass wir einerseits das Natürliche, das Unvermeidbare, nicht akzeptieren wollen oder können, während wir zugleich das Unnatürliche und das Menschengemachte akzeptieren sollen, ohne Diskussion, ohne Infragestellung, als sei es eine Gegebenheit der Natur. Die Moderne überkam die Natur, bändigte sie, aber akzeptierte sie auch; die Postmoderne kämpft gegen die Natur, während sie zugleich deren Bewunderung vorgibt.
Selbst die natürliche Irrationalität des Menschen wird verleugnet, und unseren Gefühlen, unserem Geschmack, unseren Vorlieben versuchen wir vermeintlich rationale Begründungen zu geben, in der Scham, einfach zu sagen, dass uns etwas gefällt, weil es uns gefällt. Selbst der religiöse Glaube wird verachtet, weil er eine irrationale Erscheinung ist. Doch die Irrationalität gehört schlussendlich zum Menschen dazu. Das einzig wahrlich irrationale ist es, diese Irrationalität zu leugnen, unsere Subjektivität in einen Schleier von Objektivität zu hüllen, und schlussendlich zu verlernen, die Realität, mit all ihren seltsamen und unverständlichen Phänomenen, für das zu sehen, was sie ist.