Ob sich bezüglich der Substanz in der Meinungsfreiheit bei Twitter etwas ändern wird ist derzeit noch zu sehen, aber die Übernahme durch Elon Musk hat schon im Vornherein einige Reaktionen hervorgerufen, die aufschlussreich sind. Auffällig ist, mit welcher Unverfrorenheit sofort die Warnrufe kamen über die Gefahr, hier gleich alles und jeden seine Ansichten verbreiten zu lassen. Die Tagesschau publizierte einen infamen Kommentar, welcher von „Ratten“ sprach, die in ihre Löcher zurück geprügelt werden sollten. Auch Musk selber, der einstmals gesagt hatte, dass Zensur jenseits des gesetzlich untersagten unnötig ist, weil ja das Gesetz die gesellschaftlich akzeptierten Grenzen der freien Meinungsäusserung darstelle, stimmte plötzlich sehr andere Töne an, sprach davon dass es nicht einfach ein Gerangel werden könne, von Besänftigung linker und woker Aktivisten, und dass die neuen Richtlinien diesbezüglich erst in einigen Wochen klar sein werden.

Warum pocht man so sehr auf die Wertvorstellung der Meinungsfreiheit, welche uns so viel besser macht als die bösen Autokratien mit ihrer Zensur, und fordert zugleich konstant Zensur von Meinungen und Auffassungen die man nicht mag, welche aber ganz klar innerhalb der gesetzlichen Grenzen sind? Man kann natürlich sagen, dass private Plattformen wie eben Twitter oder jedes sonstige Medium nun mal private Plattformen sind, und selber entscheiden können, wo sie die Grenzen ziehen. Das stimmt natürlich, aber die Inkongruenz ist dann dabei, dass eine Plattform ausgibt, Meinungsfreiheit zu erlauben, aber diese dann willkürlich eingrenzt. Es wäre sehr einfach wenn solche Plattformen oder Medien einfach sagen würden: „Wir stehen nicht für Meinungsfreiheit sondern für nach unseren Massstäben angemessene Rede.“ Doch das will man offensichtlich nicht, das klingt nicht schön, denn es ist ja wider unserer Wertvorstellung. Wir wollen einerseits das Etikett der Meinungsfreiheit, und gleichzeitig Zensur. Das, was tatsächlich störend ist, ist nicht eben die Eingrenzung der Meinungsfreiheit, sondern die Scheinheiligkeit.

Kierkegaard schrieb einst: „Es gibt viele Leute, die wie Schulkinder ihre Rückschlüsse über das Leben erreichen; sie täuschen ihren Meister, indem sie die Antworten aus einem Buch kopieren, ohne selbst die Rechnung gemacht zu haben.“ Hier könnte man dies Paraphrasieren um die, die sich mit gewissen Wertvorstellungen beschmücken wollen, ohne die Anstrengung zu machen, diesen wirklich treu zu sein. Denn Meinungsfreiheit bedeutet, dass man alles das zulässt, was gesetzlich zugelassen ist, von grenzwertigen Ideologien bis hin zu Verschwörungstheorien.

Die Plattform Gab, welche als Alternative zu Twitter fungiert, folgt diesem Gedanken, und zensiert nichts, was nicht gesetzeswidrig ist. Folglich wird diese Plattform oftmals als rechtsradikal, rassistisch, antisemitisch, usw. bezeichnet, da solches Gedankengut natürlich dort zu finden sein wird (obendrein sammelt es sich dort an da es eine der wenigen Plattformen ist, die es zulassen). Dies ist logischerweise genau das, was andere Plattformen unbedingt vermeiden wollen, dass sie gemäss den anstössigsten Inhalten, die darauf zu finden sind, klassifiziert werden.

Wir stehen vor der Dissoziation von Wertvorstellungen und den Werten, die sie darstellen, d.h. das Wort „Meinungsfreiheit“ bedeutet nicht mehr Meinungsfreiheit, es ist lediglich eine Bezeichnung mit positivem Beigeschmack, wie „toll“, „gut“, „grossartig“. Die Wertvorstellung funktioniert so wie die Fassaden der Filmsets, welche nur Fassaden ohne Gebäude sind: Ein oberflächlicher Anschein, ohne die Substanz dahinter, welche der Anschein erahnen lässt. Die Hoffnung dabei ist wohl, dass keiner sich die Mühe macht zu schauen, ob sich hinter der Fassade wirklich etwas mehr befindet; oder schlimmer noch, die Betrachter selber erwarten gar nicht, dass die Fassaden Teil eines tatsächlichen Gebäudes sind, sondern sie wissen, dass sich dahinter nichts befindet, und mögen lediglich den schönen Anblick.

Denn es stellt sich ja die Frage, wieso etwas denn überhaupt Substanz haben soll, wenn doch der Anschein allein, die Fassade, reicht? Hierin liegt schliesslich die tatsächliche Wertvorstellung, welche definierend für die Postmoderne ist: Dass der Schein einer Wertvorstellung reicht, und sich dahinter nichts mehr befinden muss; denn die Realität ist nicht mehr wichtig, wichtig ist nur, was von der Realität zu sehen ist. Und dies lässt sich auf alle postmodernen Phänomene übertragen: sog. Greenwashing, wenn etwas nach ökologisch bzw. klimafreundlich aussieht, obwohl es das gar nicht ist; Frauenquoten, damit das Endresultat mehr nach Gleichheit aussieht, wo eine systematische Diskriminierung vorliegt; Hassrede, wenn man störende Ansichten zensiert und trotzdem Meinungsfreiheit vorgibt; usw., usf..

Es ist nicht verwunderlich, dass diese Themen intensive Konflikte hervorrufen, denn hier treffen schlussendlich zwei Auffassungen über die Realität selber aufeinander: Die moderne Auffassung, welche die tieferliegende Substanz von etwas als Realität sieht, und die postmoderne Auffassung, welche das wahrgenommene Oberflächliche als Realität sieht.

Die traurige Ironie dabei, ist dass die moderne Auffassung gerade aus dem Verlangen entstand, die Begrenzung der menschlichen Wahrnehmung zu überwinden, Phänomene auf absolutere Weise zu verstehen, als es uns unsere Sinne allein erlauben würden. Nun kehren wir zu einem Zustand zurück, wo wir nur unseren Sinnen und nicht weiterführenden, komplexen, anstrengenden Erkenntnissen nachgehen wollen, betrogen durch unsere eigene kollektive Hybris zu meinen, dass wir von unseren postmodernen Orakeln, wie einst die Priester die einen direkten Draht zu Gott hatten, alle absolute Wahrheit auf einem Silbertablett serviert bekommen werden. Und hierbei verkommen wir zu, wie Kierkegaard sagte, Schulkindern, die anstatt ihre eigenen Rückschlüsse zu ziehen, die Antworten aus einem Buch kopieren.

A. M. Berger ist Schriftsteller und Philosoph

bergersgeschwafel.wordpress.com