Anruf vom Chef
Die Welt ist voll von wunderbaren Menschen!
Wer die Menschen nicht liebt, kann auch nicht erwarten, gegengeliebt zu werden.
Diese alte, vor Jahren überlieferte Weisheit habe ich einem Abreißkalender, aus dem Jahre Neunzehnhundertvierundsiebzig, entnommen.
Überhaupt hat jener Kalender maßgeblich an meiner geistigen Horizonterweiterung mitgewirkt. Was ich weiß, weiß ich durch den kontinuierlichen, tagtäglichen Abriss des vergangenen Tages, um so ganz entspannt, die Rückseite des Vortags studieren zu können. Dankbar für jede neue Tagesweisheit, die ich begierig in mich einsog, wuchs von Tag zu Tag mein Wissen.
An Dreihundertfünfundsechzig Tagen lernte ich sämtliche Zitate, Lebensweisheiten und Sinnsprüche auswendig, um sie jederzeit anwenden zu können, wenn es erforderlich war.
Mit großem Bedauern, auch im Nachhinein, war das Jahr neunzehnhundertvierundsiebzig leider kein Schaltjahr. Wie viel Wissen mir dadurch entgangen ist, mag ich mir nicht vorstellen, denn der Schmerz darüber wäre viel zu groß.
Beneidenswert sind all diejenigen, die einen Abreißkalender von Neunzehnhundert sechsundsiebzig ihr Eigen nennen können, was als Schaltjahr weit über die Grenzen meiner kleinen Heimatstadt hinaus, als wahre Fundgrube, lebensbejahender und erbaulicher Aphorismen, Zitate, sowie Weisheiten fernöstlicher Philosophen und Reisbauern, den Alltag prägen können. Man muss nur darauf vertrauen und diese kleinen Vorschläge zur Bewältigung tagesaktueller Probleme in sich aufnehmen und in die Tat umsetzen. Wo wäre ich denn heute, wenn ich mich nicht stets auf diese Tagesration Philosophie eingelassen hätte? Mein Leben wäre sicher anders verlaufen und ich müsste mich stets den Vorwürfen meiner Eltern aussetzen, die mit ihren Vorhaltungen sich großzügig zeigen würden. Besonders der Sinnspruch vom 26.03.1974 hat meinem Leben eine entscheidende Wende gebracht.
Wie jeden morgen stand ich ungern auf, denn der Tag versprach keinen besonderen Höhepunkt für mich in petto zu haben. Bis dato war das Abreißen des Kalenders für mich nur eine routinierte Last, die lediglich den Zweck erfüllte, mir das aktuelle Datum mitzuteilen.
Ein Riss – ein Blick – Zerknüllen und ab in den Hausmüll!
So war das allmorgendliche Ritual.
Nicht im Traum wäre ich auf die Idee gekommen, mir die Rückseite einmal anzusehen, denn was sollte ich damit. Ich wusste das datum und das genügte mir vollauf. Doch an jenem morgen im Jahre 1974, war etwas anders als sonst. Ich wurde wach und spürte deutlich, dass mir der Schalk im Nacken saß. Ich schlug meinem Wecker, der treu wie immer, mich pünktlich aus dem schlaf riss, ein Schnippchen. Ich schaltete ihn einfach nicht aus, obwohl ich ja wach war. Ich ließ ihn einfach weiterklingeln, bis die Batterie keinen Saft mehr hatte. Das strapazierte zwar meine Geduld, denn es dauerte fast sieben Stunden, doch das war es mir wert. Und dann, als es draußen bereits zu dämmern begann, war es plötzlich still. Mein Wecker hatte seinen letzten Atemzug gemacht und verstummte. Kein Leben war mehr in ihm drin und damit für mich wertlos geworden.
Ich warf ihn, gegen geltendes EU-Recht, in den Hausmüll. Jetzt war ich ein Rebell – ein Müllrebell! Pflichtbewusst, wie ich nun einmal bin, ging ich zu der Wand, an der mein Kalender hing. Dazu musste ich nur mein Schlafzimmer durchschreiten. Denn aus rein ästhetischen Gründen und wegen der Förderung meiner seelischen Gesundheit, habe ich mein Schlafzimmer nach der Feng Shui Harmonielehre ausgerichtet.
An der einen Wand stand mein Bett und ihm gegenüber hing der Kalender. Mehr brauchte ich nicht. Der Rest des Zimmers konnte ab da frei atmen. Zimmerdekoration ist nur unnötiger Ballast, über den sich nur der Hausstaub, als dankbare Ablage, freut. Und seit ich gelesen habe, dass Wollmäuse keine bedrohte Tierart ist, verweigere ich ihnen Asyl. Früher gewährte ich ihnen Unterschlupf unter schränken, kommoden und meinem Bett. Doch diese Zeiten sind lange vorbei. Seit ich Staubsaugen zu meiner liebsten Freizeitgestaltung auserkoren habe, sind alle Wollmäuse verschwunden. Mein Verhältnis zu den Wollmäusen, die ich anfangs noch züchtete, da ich mir fest vorgenommen hatte, aus der Wolle mir einen Winterpullover zu stricken, wurde jäh abgebrochen, als ich erkannte, dass sie dazu nicht geeignet sind. Das war ein sehr schwarzer Tag für mich! Aber genau aus solchen Niederlagen erwächst neue Stärke. Nachdem ich alle Wollmäuse entfernt hatte, fühlte ich wie befreit. Allerdings stand nun eine Investition im Raum, denn es zeigte sich eine gewisse Nacktheit am Boden, den ich mit dem Ankauf eines Teppichs kompensierte. Aber dies nur so nebenbei!
Eigentlich war ich ja angetreten, um von meinem Abreißkalender zu berichten, der mich Tag für Tag erfreute. Etwas, was ich vom Fernsehprogramm nicht sagen kann. Denn der Kalender hatte keinerlei Wiederholungen, sondern präsentierte mir jeden Tag eine neue Weisheit. Dabei stach ein gewisser Herr Konfuzius besonders hervor, der überproportional vertreten war. Gerade seine These vom 16.09.1974, hat mich wochenlang beschäftigt. „Essen und Beischlaf sind die beiden großen Begierden des Mannes.“ Ein Satz, den ich unwidersprochen so stehen lassen kann. Er wurde zu meinem Leitspruch, der mein Leben nachhaltig beeinflusst hat. Besonders den ersten Teil verinnerlichte ich, was man mir mit der Zeit auch deutlich ansah. Was den zweiten Teil der Aussage betrifft, so hätte ich auch ihm gerne ausgiebig gefrönt, doch stand dabei der erste Teil mir massiv im Wege. Zwar streichelt man einem Buddha gerne über den Bauch, denn das soll, nach fernöstlichem Glauben Glück bringen, doch sehen westeuropäische Frauen weiblichen Geschlechts das deutlich anders. Eine Meinung, mit der sie auch nicht hinter dem Berg halten, was ich immer wieder erfahren muss. Das es Frauen um innere Werte geht, ist eine große Lüge. Kein noch so geistreiches Goethe-Zitat, kommt gegen einen Sixpack an. Es soll sogar Männer geben, die einen Achtpack haben. Ich persönlich habe einen konvex ausgeprägten Einpack. Ich bin sogar, um aus dieser körperlichen Misere herauszukommen, einem Fitnessclub beigetreten, jedoch vermeide ich es, ihn aufzusuchen und Gebrauch von ihm zu machen, da man immer so viel von Sportverletzungen hört, denen ich mich nicht aussetzen möchte. Denn am 26.07.1974 sagte mir mein Kalender: „Sport ist Mord!“. Und da ich keinesfalls zum Mörder werden möchte, nur weil ich mir einen Sixpack antrainiere, betrat ich diese Mörderschmiede nicht mehr. Und so bin ich auch heute noch, ein zwar unförmiger, dafür aber ein glücklicher Mensch, an dessen Händen kein Blut klebt. Wegen mir musste noch nie ein Mensch on seinem Leben Abschied nehmen, was sich auch positiv auf meinen Schlaf auswirkt.
„Ein gutes Gewissen ist ein sanftes Ruhekissen!“, so der Sinnspruch vom 24.03.1974. Dank meines Abreißkalenders bin ich heute sogar angstfrei.
Es war an jenem denkwürdigen Tag, als nicht mein Wecker klingelte, sondern mein Chef anrief und mir mitteilte, ob ich gewillt sei heute in der Firma aufzutauchen.
Er und die Kollegen würden sich über mein Erscheinen jedenfalls sehr freuen.
Noch bevor ich ihm von der Unzuverlässigkeit meines Weckers berichten konnte, da hatte er schon aufgelegt. Darüber war ich natürlich etwas ungehalten, denn es wäre eine schöne Möglichkeit gewesen, mit meinem Chef auf privater Ebene sich einmal zu unterhalten. Durch sein plötzliches unüberlegtes Auflegen hatte er diese einmalige Chance verpasst. Aber er war ja noch nie durch übertriebene Höflichkeit oder Interesse an mir, aufgefallen. Just an dem Tag riss ich folgende Weisheit vom Kalender ab, der wiederum von Herrn Konfuzius stammte, der wohl sehr viel Zeit hatte, diese ganzen Weisheiten sich auszudenken. Vermutlich hat er zuhause eine Frau. Die ihm den Haushalt macht und dadurch den Rücken freihält. Irgendwann einmal werde ich ihm schreiben und mich für die vielen Klugheiten bedanken. An diesem Tag kam er mit nachfolgender Weisheit um die Ecke: „Ob es Unglück bringt, wenn dir eine schwarze Katze über den Weg läuft, hängt alleine davon ab, ob du ein Mensch oder eine Maus bist.“ Zunächst konnte ich damit nicht viel anfangen. Wobei ich Herrn Konfuzius keinen Vorwurf machen will, denn schließlich konnte er ja nicht wissen, dass ich eher zu der Fraktion der Hundeliebhaber zähle. Dies wird wohl auch der Hauptgrund sein, weshalb mir ein sofortiger Zugang versperrt blieb. Als ich jedoch, nach reiflicher Überlegung, mir die Weisheit zu eigen machte und auf Hundefreunde für mich übersetzte, wurde alles viel klarer.
Wobei ich nicht ergründen konnte, wie es um das Verhältnis von Hund und Maus bestellt ist. „Katz und Maus“, ist ja hinlänglich bekannt! Hund und Katze sind sich zwar oft spinnefeind, aber ob es daran liegt das Katzen Mäuse nicht nur jagen, sondern sie auch erwischen?
Man weiß es nicht und von Hundeseite wurde auch bislang nie eine aufklärende Antwort dazu gegeben.
Das mag auch am gesetzlichen Leinenzwang liegen, wovon Katzen ja ausgenommen sind.
Katzen sind weitaus eigensinniger als Hunde.
Sie beherrschen den Menschen, während Hunde vom Menschen beherrscht werden.
Der Maus sind beide suspekt, weshalb sie es auch vorzieht, ihnen aus dem Weg zu gehen.
Getreu dem allseits beliebten Kalenderspruch: „Eile mit Weile“, kam ich dem Wunsch meines Chefs nach und trat vor seinen Schreibtisch. Ich klopfte auf die Tischplatte, denn auf Holz klopfen, bringt ja sprichwörtlich Glück!
Mein Chef blickte von seinen Unterlagen auf und ich sah in sein liebenswertes Gesicht.
„Na haben sie denn ausgeschlafen?“, erkundigte er sich fürsorglich.
Seine Menschlichkeit rührte mich.
„Sie wissen doch Chef, was der Volksmund sagt: Ein gutes Gewissen ist ein sanftes Ruhekissen.“
Er nickte zustimmend und erwies sich dann auch als Kenner von Sprichwörtern. Er erwiderte mit:
„Man soll aber auch den Tag nicht vor dem Abend loben!“
Dann überreichte er mir ein sehr persönliches Geschenk. Es war Brief, den er eigens für mich geschrieben hatte.
„Hier ist ihre dritte und zugleich letzte Abmahnung. Und diese letzte Mahnung ist etwas ganz Besonderes. Sie beinhaltet zugleich ihre fristlose Kündigung!“
Und da soll noch einer mal sagen, dass Abreißkalender nur Humbug sind, denn heute Morgen stand da: „Aller guten Dinge sind drei!“
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