Heilpraktiker sind überzeugt davon, dass sie für das Gesundheitswesen eine große Bereicherung darstellen.[1] Ihre Behandlungen, so wird behauptet, basieren auf soliden Grundsätzen, z.B.[2]:

  • Heilpraktiker heilen mit natürlichen Mitteln.
  • Sie stimulieren die natürlichen Abwehrkräfte ihrer Patienten.
  • Sie behandeln die tieferen Ursachen eines Leides.
  • Sie therapieren diese stets ganzheitlich und berücksichtigen das Zusammenspiel von Geist, Körper und Seele.
  • Sie setzen die Selbstheilungskräfte in Gang.
  • Sie vermeiden Nebenwirkungen.
  • Sie ziehen auch mögliche seelische Ursachen eines Leidens in Betracht.
  • Sie haben für ihre Patienten mehr Zeit.

Diese Ansprüche sind sicherlich attraktiv; sie entsprechen zudem den Wünschen vieler Patienten und sind somit äußerst werbewirksam. Es stellt sich jedoch die Frage, inwieweit sie der Wahrheit entsprechen.

Natürliches Heilen

Die Annahme, die hier zugrunde liegt, beruht auf mehreren Trugschlüssen zugleich. Erstens sind bei weitem nicht alle Behandlungsweisen der Heilpraktiker natürlich. Was z.B. soll natürlich sein an subkutanen Injektionen mit dem Lokalananästhetikum Novocain (Neuraltherapie), oder an der Verabreichung eines Homöopathikums aus Bestandteilen der Berliner Mauer? Zweitens ist die These unrichtig, dass Natürliches immer harmlos sei. Zum Beispiel sind viele Pflanzen hoch-giftig.

Letztlich ist es belanglos, ob eine Therapie aus der Natur stammt, oder nicht. Was zählt, ist einzig und alleine die Frage, ob sie mehr Nutzen als Schaden bringt. Und diese elementare Bedingung ist bei den Therapieformen der Heilpraktiker häufig nicht erfüllt.[3]

Stimulierung der Abwehrkräfte

Die Behauptung, dass die Behandlungsweisen der Heilpraktiker das Immunsystem stärken ist weit verbreitet. Wenn wir allerdings nach Belegen fragen, so herrscht stets betretene Stille. Eine neuere Übersicht fand 43 Studien zu diesem Thema (Vitamine: 13; Mineralstoffe: 8; Nahrungergänzungsstoffe: 18 und Probiotika: 4). Bei den Vitaminen zeigten die Vitamine A und D diesbezüglich einen potenziellen Nutzen, insbesondere bei Bevölkerungsgruppen mit einem entsprechenden Vitaminmangel. Bei den Spurenelementen haben Selen und Zink günstige immunmodulatorische Wirkungen bei viralen Atemwegsinfektionen gezeigt. Mehrere Nahrungergänzungsstoffe und Probiotika könnten ebenfalls eine gewisse Rolle bei der Stärkung der Immunfunktionen spielen. Mikronährstoffe mögen in der ernährungsmäßig unterversorgten älteren Bevölkerung von Nutzen sein.[4] Mit anderen Worten, eine Stimulation des Immunsystems ist bei nur sehr wenigen Behandlungsformen der Heilpraktiker gegeben. Hinzu kommt, dass dieser Effekt sicher nicht immer sinnvoll und bei vielen Leiden (z.B. Autoimmunerkrankungen) sogar kontraproduktiv ist.

Behandlung der tieferen Ursache eines Leidens

Konventionelle Ärzte tun ihr Bestes, um die jeweilige Krankheitsursache ihrer Patienten zu identifizieren. Dazu stehen ihnen heute ausgefeilte diagnostische Methoden zu Verfügung. Heilpraktiker bedienen sich dagegen obsoleter Diagnosetechniken (z.B. Bioresonanz, angewandte Kinesiologie, TCM-Diagnostik) und mutmaßen Krankheitsursachen, die auf längst widerlegten Vorstellungen beruhen und in Wirklichkeit gar nicht existieren. Der oft gehörte Anspruch der Heilpraktiker, sie würden die Krankheiten an ihrer Wurzel packen ist somit bestenfalls eine Selbsttäuschung.

Ganzheitlichkeit

Ohne Zweifel ist Ganzheitlichkeit in der Heilkunde etwas sehr Positives. Zu betonen ist jedoch erstens, dass jede gute Medizin stets auch ganzheitlich ist. Zweitens braucht man, um ganzheitlich zu behandeln, keine der dubiosen Behandlungsweisen, die die Heilpraktiker bevorzugen. Drittens sind die meisten der Verfahren der Heilpraktiker das Gegenteil von ganzheitlich. Was könnte z.B. weniger ganzheitlich sein, als die Regenbogenhaut eines Patienten zur Diagnose seines Leidens heranzuziehen, wie es Heilpraktiker machen, die auf Iridologie schwören? Der Anspruch auf Ganzheitlichkeit entpuppt sich somit als ein weit verbreiteter Trugschluss.

Selbstheilungskräfte

Heilpraktiker sprechen gerne darüber, dass sie mit ihren Methoden die Selbstheilungskräfte in unserem Körper anregen. Das hört sich zunächst einmal recht gut an. Allerdings ist es auch nebulös und schwer greifbar. Man frägt sich zu recht, was sind eigentlich diese viel-zitierten Selbstheilungskräfte?

Auf der Suche nach einer Definition findet man viel Schwammiges, wie z.B. dies:

Unter Selbstheilungskräfte fällt eigentlich alles, was dem Körper hilft, sich selbst wieder gesund zu machen. In diesem Zusammenhang wird oft auch vom eigenen inneren Arzt gesprochen. Die Annahme dahinter ist, dass der Körper selbst alle nötigen Kräfte besitzen würde, um sich zu heilen: Knochen nach einem Bruch wieder zusammenwachsen zu lassen, Bakterien und Keime zu töten und Krankheiten zu heilen. Laut einem englischen Arzt namens Coleman ist der Körper im Stande, bis zu 90 Prozent aller Krankheiten selbst zu heilen[5].

Laut Wikipedia ist die Selbstheilungskraft (auch Heilkraft der Natur genannt) „die Fähigkeit des Körpers, sowohl äußere als auch innere Verletzungen bzw. Krankheiten zu heilen. Die Nutzung und Intensivierung der Selbstheilungskräfte, auf die (gemäß Lohff) letztlich jede Therapie aufbaut, stellt einen wichtigen Aspekt jeder therapeutischen Behandlung dar (Operation, Bestrahlung, Medikamente usw.)".[6] Mit anderen Worten, die Selbstheilungskraft ist nicht etwas, das eine bestimmte Behandlungsphilosophie voraussetzt. Nahezu jede effektive Therapie ist deswegen erfolgreich, weil die Selbstheilungskräfte durch sie aktiviert werden. Ohne Selbstheilungskräfte gibt es keine Heilung. Das Ausmaß, in dem dieser Prozess stattfindet kann bemessen werden in der Wirksamkeit der jeweiligen therapeutischen Maßnahme. Da viele der von Heilpraktikern bevorzugten Methoden nicht überzeugend wirksam sind, ist die Betonung der Selbstheilungskräfte durch Heilpraktiker mehr irreführend als erklärend. Anders ausgedrückt: das Gerede um die Selbstheilungskräfte ist nichts weiter als ein wirksamer Werbeslogan.

Nebenwirkungen

Heilpraktiker setzen vornehmlich vermeintlich sanfte alternative Heilweisen ein. Entgegen einer weit verbreiteten Meinung sind diese jedoch sicher nicht ohne Nebenwirkungen. Dennoch sind deren Nebenwirkungen zweifelsohne weitaus weniger gravierend, als die vieler konventioneller Therapien. Somit ist der Anspruch der Heilpraktiker, dass ihre Behandlungen Nebenwirkungen vermeiden zumindest teilweise korrekt. Hier ist also ein Argument, das tatsächlich für Heilpraktiker sprechen könnte.

Zu bedenken ist allerdings, dass der Wert einer Behandlung nicht durch seine Nebenwirkungsfreiheit bestimmt wird. Eine Therapie, die völlig ohne Nebenwirkungen ist, aber keine Wirksamkeit aufweist, ist natürlich wertlos. Der Wert einer Behandlung wird mit anderen Worten bestimmt durch das Verhältnis zwischen positiven Wirkungen und negativen Nebenwirkungen, d.h. durch seine Nutzen/Risiko Bilanz. Nur wenn diese positiv ausfällt, hat die Therapie einen Wert.

Die Nutzen/Risiko Bilanz der meisten von Heilpraktikern bevorzugten Verfahren fällt jedoch nicht positiv aus. Somit mag der Anspruch auf Nebenwirkungsfreiheit zwar korrekt sein, er ist jedoch gleichzeitig weitgehend belanglos.

Seelische Ursachen

Im heutigen Sprachgebrauch ist mit Seele oft die Gesamtheit aller Gefühlsregungen und geistigen Vorgänge beim Menschen gemeint. In diesem Sinne ist Seele weitgehend gleichbedeutend mit Psyche, dem griechischen Wort für Seele.[7] Wenn Heilpraktiker also behaupten, sie zögen seelische/psychische Ursachen der Krankheiten in Betracht, so sollte betont werden, dass erstens sie dazu nicht adäquat ausgebildet sind und zweitens, dass hierfür andere Berufsgruppen zu Verfügung stehen, die sehr wohl kompetent sind, z.B. Psychiater, Psychosomatiker, und Psychologen. Der Anspruch vieler Heilpraktiker auch seelische Krankheitsursachen zu verstehen und effektiv zu behandeln, erscheint somit eher unberechtigt und irreführend.

Zeit

Heilpraktiker betonen häufig, dass sie mehr Zeit für ihre Patienten haben als konventionelle Ärzte. Das ist durchaus richtig und mag ein wichtiger Grund sein, warum viele Patienten Heilpraktiker konsultieren. Wenn heute jemand zum Arzt geht, dann ist er oft nach 10 Minuten wieder entlassen. Heilpraktiker nehmen sich dagegen bis zu einer Stunde pro Patient Zeit.

Zeit ist wichtig, denn ohne sie ist es meist unmöglich, eine empathische Therapeut/Patient Beziehung aufzubauen. Wir wissen von zahlreichen Untersuchungen, wie wichtig eine solche Beziehung für den Therapieerfolg ist. Unsere Übersicht z.B. zu diesem Thema kam zu dem Schluss, dass „Ärzte, die eine warme, freundliche und beruhigende Art an den Tag legen, effektiver sind als solche, die die Konsultation formell halten und keine Beruhigung anbieten".[8]

Somit ist der Zeitfaktor durchaus ein Argument, dass für die Heilpraktiker spricht. Ich würde sogar soweit gehen, zu meinen, dass die konventionelle Medizin in dieser Beziehung von Heilpraktikern lernen könnte und sollte. Eine gute Arzt/Patienten Beziehung ist eine Grundvoraussetzung für eine erfolgreiche Medizin. Der chronische Zeitdruck der heutigen Medizin ist zweifelsohne ein Bärendienst an der Heilkunde.


  1. Acht Gründe, warum wir Heilpraktiker brauchen - ars curandi ↩︎

  2. Heilpraktiker ? Grundsätze und Vorteile | dsa-pr.de ↩︎

  3. Welche alternativen Behandlungsweisen setzen Heilpraktiker ein? (publikum.net) ↩︎

  4. Jayawardena, R., Sooriyaarachchi, P., Chourdakis, M., Jeewandara, C., & Ranasinghe, P. (2020). Enhancing immunity in viral infections, with special emphasis on COVID-19: A review. Diabetes & metabolic syndrome, 14(4), 367–382. ↩︎

  5. Selbstheilungskräfte aktivieren: So hilfst du deinem Körper - Utopia.de ↩︎

  6. Selbstheilungskraft – Wikipedia ↩︎

  7. Seele – Wikipedia ↩︎

  8. https://de.wikipedia.org/wiki/Seele#:~:text=Aus religionswissenschaftlicher Sicht umfasst „Seele“ alles das%2C was,hyperphysischen (paraphysischen%2C parapsychischen%2C psychisch-geistigen und postmortalen) Lebens offenbart“. ↩︎

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