Seit etwa einem Monat tobt die Schlacht zwischen Armenien und Aserbaidschan um Bergkarabach. Mittlerweile kann man fest davon ausgehen, dass dieser Konflikt als der „Zweite Karabachkrieg“ in die Geschichte eingehen wird.
Und obwohl das Ende des Konfliktes noch in weiter Ferne zu sein scheint, lassen sich manche (Zwischen)Ergebnisse bereits jetzt deutlich festmachen.
(Anmerkung: Wenn ihr euch die vielen Details zum Frontverlauf, den Offensivrichtungen etc. sparen wollt, könnt ihr gleich zum letzten Kapitel „Fazit“ springen, wo die gesamte Zwischenbilanz des Konfliktes in acht Sätzen zusammengefasst ist)
Mit aller Sicherheit lässt sich feststellen, dass nach vier Wochen von Kämpfen die aserbaidschanische Armee die Initiative übernommen hat.
Insbesondere im Süden erzielte sie wichtige Durchbrüche.
Baku brachte die Grenze zwischen Bergkarabach und dem Iran unter Kontrolle und kappte so eine wichtige Versorgungsroute der sogenannten „Republik Arzach“. Die Offensive wurde von Mehrfachraketenwerfern und Angriffsdrohnen unterstützt. Die Letzteren hatte Baku vor dem Konflikt massenweise aus der Türkei und Israel eingekauft.
Die armenische Luftabwehr scheint an ihre absolute Kapazitätsgrenze gelangt zu sein. Täglich veröffentlicht Baku Bilder, wie seine Drohnen fast ungehindert die armenischen Verteidigungslinien zerstören. Und obwohl die armenische Luftabwehr immer wieder Drohnen vom Himmel holen konnte, blieb die Luftdominanz komplett bei Aserbaidschan.
Nachdem Baku die Kontrolle über den Hauptteil der Grenze zum Iran erlangt hatte, wurde die Offensive nach Norden umgeleitet und zielte ab nun auf den sogenannten Lachin-Korridor. Dieser strategisch wichtige Korridor verbindet Bergkarabach mit Armenien und ist somit die wichtigste Versorgungsroute. Sollte der Lachin-Korridor fallen, wäre „Arzach“ komplett von der armenischen Versorgung abgeschnitten und auf Dauer nicht mehr zu verteidigen.
Dieser strategische Wert des Lachin-Korridors ist beiden Seiten zweifelsohne bewusst.
Am Morgen des 22. Oktober war die aserbaidschanische Armee nur 16 Kilometer von diesem Korridor entfernt, stieß jedoch auf erbitterten armenischen Widerstand. 15 Kilometer vor der Lachin-Trasse wurde der aserbaidschanische Vorstoß gestoppt. Zumindest vorübergehend gelang es den Armeniern, die Front zu stabilisieren.
Sollte der Konflikt weiter andauern, wird Baku jedoch sicherlich einen zweiten Anlauf starten, um den Korridor einzunehmen. Die Schlacht um Lachin könnte zum Schlüsselmoment des gesamten Konfliktes werden.
Auch auf anderen Frontabschnitten verlangsamte sich ab dem 20. Oktober der Vorstoß der aserbaidschanischen Truppen. Dies lag auch an einer Änderung des Terrains. Fanden die Kämpfe zuvor auf der südkaukasischen Hochebene statt, also in offener Landschaft, verlagern sich die Gefechte nun zunehmend in gebirgige und stark bewachsene Gegenden.
Ende Oktober entwickelte die aserbaidschanische Armee recht erfolgreich ihre Offensive in Richtung der Stadt Shusha. Die Einnahme dieser Stadt könnte den wichtigen Versorgungsweg ebenfalls durchschneiden. Am 01. November sollen die Aserbaidschaner nur noch 5 Kilometer vor der Stadt gestanden haben. Shusha liegt an der Versorgungsstraße zwischen Armenien und Bergkarabach. Sollte die Stadt fallen, wäre das für Jerewan eine ähnliche Katastrophe wie der Verlust vom Lachin Korridor.
Am 24. Oktober kamen zudem Meldungen auf, dass an der Grenze zwischen Armenien und Bergkarabach (also praktisch entlang der völkerrechtlich anerkannten armenisch-aserbaidschanischen Grenze) russische Militärlager aufgebaut werden. Kurze Zeit später bestätigten sich die Meldungen: Russische Truppen beziehen Stellung entlang der Grenze zwischen Armenien und Aserbaidschan, um zu verhindern, dass die Truppen von Baku ins armenische Kernland einfallen und sich das Konfliktgebiet noch weiter ausbreitet.
Im Norden veränderte sich die Frontlinie dagegen wenig. Aserbaidschanische Truppen unternahmen nur kleinere Offensiven, die zu geringen Geländegewinnen führten.
Die Aussicht
Im Moment deutet sich an, dass die Kämpfe etwas an Intensität verloren haben. Beide Seiten sind von den vier Wochen heftiger Gefechte ausgezehrt, die Verluste an Mensch und Technik dürften auf beiden Seiten gewaltig sein. Vor diesem Hintergrund verwandelte sich der Konflikt zum Ende vom Oktober an den meisten Frontabschnitten in Stellungskämpfe.
Zugleich haben beide Seiten erklärt, dass sie im Moment keine diplomatische Lösung des Konfliktes sehen. Die aktuelle Verschnaufpause wird von beiden Seiten dazu genutzt, ihre Truppen umzugruppieren. Es ist zu erwarten, dass Aserbaidschan einen Stoßtrupp aufstellt, der zum Lachin-Korridor durchbrechen soll oder die Stadt Shusha einnimmt. Armenien seinerseits dürfte sich zu einer erbitterten Verteidigung dieser strategisch wichtigen Punkte vorbereiten.
Die Verluste
Wie hoch die Verluste sind, lässt sich kaum genau bestimmen, da beide Seite die eigenen Verluste zu niedrig und die gegnerischen zu hoch angeben.
Armenien dürfte allerdings die deutlich höheren Verluste haben. Aserbaidschanische Mehrfachraketensysteme und Angriffsdrohnen zerstören systematisch armenisches Personal, Waffen und Technik.
Allein das Videomaterial, das von aserbaidschanischen Drohnen aufgenommen wurde, deutet daraufhin, dass Armenien in vier Wochen ca. 70 T-72-Panzer, 9 Infanterie-Kampffahrzeuge, rund 60 Artilleriesysteme verschiedener Typen, 2 Eloka-Systeme, 20 Luftabwehrsysteme, darunter ein modernes S-300-Abwehrsystem, sowie mehrere ballistische Raketen verloren hat.
Weitere rund 20 Panzer, 11 Panzerfahrzeuge und ein halbes Dutzend Artilleriegeschütze wurden von den Aserbaidschanern erbeutet. Darüber hinaus verlor Jerewan ein Kampfflugzeug vom Typ Su-25, wobei es umstritten bleibt, ob er abgeschossen wurde oder selbst zu Boden ging.
Die Verluste von Aserbaidschan lassen sich noch schwieriger unabhängig verifizieren, weil Jerewan viel weniger Bildmaterial zur Verfügung stellt, die offiziellen Erklärungen aber eindeutig überhöht sind.
Aus dem vorliegenden Bildmaterial lässt sich mit relativ großer Sicherheit sagen, dass Armenien mindestens 20 aserbaidschanische Drohnen abgeschossen hat, die meisten davon aus israelischer Produktion. Zudem wurden reihenweise, vermutlich mehrere Dutzend, aserbaidschanische unbemannte An-2 Flugzeuge vom Himmel geholt. Baku nutzt sie zur Aufklärung und Aufdeckung von armenischen Luftabwehreinheiten.
Hinzu wurden ca. zehn T-72-Panzer und zwei Dutzend Panzerfahrzeuge zerstört sowie konnten die Armenier zwei T-90-Panzer sowie etwa ein Dutzend Panzerfahrzeuge erbeuten. Außerdem wurde am ersten Tag vermutlich ein aserbaidschanischer Hubschrauber abgeschossen.
Wie gesagt, diese Angaben lassen sich aus dem Bildmaterial herausziehen, das beide Seiten veröffentlichten. Die offiziellen Erklärungen scheinen bei beiden Seiten extrem überhöht und unglaubwürdig zu sein.
Fazit
Zusammenfassend lässt sich sagen, dass es den Aserbaidschanern gelungen ist, die armenischen Verteidigungslinien im Süden aufzubrechen und die Kontrolle über die Hochebene zu erlangen.
Als die Kämpfe jedoch in die Bergregion zogen, wurde der Vormarsch teilweise verlangsamt, teilweise ganz gestoppt. Den Armeniern gelingt es immer noch, die Kontrolle über den strategisch wichtigen Lachin-Korridor aufrechtzuerhalten. Die allgemeine Erschöpfung der Seiten und die hohen Verluste führten zu einer Abnahme der Intensität der Kämpfe. Aserbaidschan behält jedoch weiterhin die Dominanz in der Luft, seine Drohnen fügen den Armeniern weiterhin erheblichen Schaden zu.
Entscheidend über den Ausgang des Krieges wird sein, ob es Aserbaidschan in den nächsten Wochen gelingt, den Lachin-Korridor einzunehmen und/oder die Stadt Shusha unter Kontrolle zu bringen. Wenn es gelingt, dann bliebe Bergkarabach von Armenien abgeschnitten und auf Dauer kaum zu verteidigen.
Gelingt die Einnahme jedoch nicht, wird der näher rückende Winter den weiteren Vorstoß vermutlich unmöglich machen, sodass Armenien mit großer Wahrscheinlichkeit Bergkarabach weiter (zumindest über den Winter) halten wird.
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