Rund sechs Wochen wurde in Bergkarabach gekämpft, nun scheint der Krieg vorbei zu sein. Armenien und Aserbaidschan einigten sich in der Nacht zum 10. November auf eine Waffenstillstandsvereinbarung, die diesmal höchstwahrscheinlich halten wird und den Konflikt zumindest mittelfristig löst.

Die Chance dafür ist gut, denn es gibt einen entscheidenden Unterschied zu den früheren Vereinbarungen. Diesmal schickt Russland seine Truppen in die Region, die die Einhaltung des Waffenstillstandes kontrollieren werden.

Die Vorbedingung

Kurz zuvor ist es zum Wendepunkt im Konflikt gekommen. Trotz des erbitterten armenischen Widerstands konnte die aserbaidschanische Armee die Stadt Shusha einnehmen. Die Stadt ist strategisch und symbolisch extrem wichtig. Sie gilt als das symbolische Herz von Karabach und ist sowohl für Armenien als auch für Aserbaidschan ein historisch wichtiger Ort.

Strategisch ist sie von größter Relevanz, weil sie auf einer Anhöhe liegt und von dort die gesamte Region zu überblicken ist. Lange Zeit verweigerte die armenische Regierung in Jerewan das Eingeständnis, dass Shusha kurz vor dem Fall steht, doch am 08. November verkündete der aserbaidschanische Präsident Aliyev ihre Einnahme.

Am 09. November wurden dann die letzten Zweifel ausgeräumt, als Baku Aufnahmen verbreitete, wie in Shusha aserbaidschanische Flaggen gehisst wurden.

Mit dem Verlust von Shusha war der Krieg für Armenien gelaufen. Ohne sie kann man weder die Hauptstadt der selbsterklärten Republik Arzach noch den Rest des Gebietes verteidigen.

In der Nacht zum 10. November wurde dann schon die Waffenstillstandsvereinbarung geschlossen.

Der Inhalt der Waffenstillstandsvereinbarung

Die Waffenstillstandsvereinbarung beinhaltet folgende Kernpunkte:

1. Ein vollständiger Waffenstillstand und Beendigung alle Feindseligkeiten in der Zone des Bergkarabach-Konflikts ab dem 10. November 2020 00:00 Uhr Moskauer Zeit. Aserbaidschan und Armenien behalten zunächst alle Positionen, die sie zu dem Moment kontrollieren.

2. Armenien übergibt in den nächsten Wochen an Aserbaidschan mehrere Gebiete, die besetzt waren und nicht zur ehemaligen Autonomen Region Bergkarabach zählten. Insgesamt bleibt der „Republick Arzach“ ein kleines Territorium mit der Hauptstadt Stepanakert, einigen kleineren Ortschaften und dem Lachin-Korridor, dem Verbindungsweg nach Armenien.

Diese ersten beiden Punkte bedeuten zweierlei:

-        Die Kernbezirke der „Republik Arzach“, die von den Armeniern noch gehalten werden, bleiben weiterhin autonom und unter armenischer Kontrolle. Die Existenz von Arzach ist somit prinzipiell gerettet.

-        Aserbaidschan holt sich aber die meisten Gebiete wieder und geht eindeutig als Sieger aus diesem Konflikt hervor.

3. Entlang der Kontaktlinie in Bergkarabach und entlang des Lachin-Korridors werden russische Friedenstruppen in Höhe von 1.960 Soldaten, 90 gepanzerten Personaltransportern, 380 PKWs und mit der notwenigen technischen Spezialausrüstung stationiert.

4. Parallel zur Stationierung der russischen Friedenstruppen wird der Abzug der armenischen Armee eingeleitet. Demnach soll es auf dem Gebiet von Aserbaidschan und Bergkarabach keine armenischen Militärs mehr geben – die Sicherheit werde von russischen Soldaten gewährleistet.

Die russischen Friedenstruppen werden zunächst für fünf Jahre in der Region stationiert, wobei die Dauer automatisch verlängert werde, wenn nicht eine der Seiten sechs Monate vor Ablauf der Frist die Beendigung der Vereinbarung erklärt.

5. Um die Umsetzung der Vereinbarung zu kontrollieren, errichtet Russland ein „Zentrum zur Kontrolle und Sicherung des Waffenstillstandes“ – im Prinzip eine Basis.

6. Der strategisch wichtige Lachin-Korridor, der die Verbindung von Bergkarabach mit Armenien sicherstellt, wird in einer Breite von fünf Kilometern unter den Schutz der russischen Friedenstruppen gestellt. Innerhalb der nächsten drei Jahre soll die Infrastruktur des Korridors ausgebaut werden, damit die Verbindung zwischen Bergkarabach und Armenien jederzeit sicher möglich ist.

7. Flüchtlinge kehren unter der Kontrolle der Vereinten Nationen nach Bergkarabach und in die angrenzenden Gebiete zurück.

8. Es findet ein Austausch von Kriegsgefangenen, Geiseln und anderen inhaftierten Personen sowie von Überresten der Toten statt.

9. Alle Wirtschafts- und Verkehrsverbindungen in der Region werden deblockiert. Armenien garantiert die Sicherheit der Verkehrsverbindung zwischen den westlichen Regionen von Aserbaidschan und der Autonomen Republik Nachitschewan. Kontrolle wird durch den russischen Geheimdienst FSB ausgeübt.

Reaktionen aus Armenien und Aserbaidschan

Die Reaktionen in Armenien und Aserbaidschan waren erwartungsgemäß extrem unterschiedlich. In Aserbaidschan feierten den Menschen den Sieg im „Zweiten Karabach-Krieg“. Autokorsos und Feierlichkeiten fanden in ganz Baku statt.

Für viele Armenier wurde die Waffenstillstandsvereinbarung dagegen zu einem Schock. Obwohl die Vereinbarung durchaus die Totalniederlage für Armenien verhinderte und die Existenz der „Republik Arzach“ sicherte (wenn auch auf viel kleinerem Gebiet), empfanden die Menschen in Armenien diese Vereinbarung als einen Verrat und Fiasko.

Noch in der Nacht kam es in Jerewan zu Massendemonstrationen. Protestler stürmten Regierungsgebäude und forderten, dass „der Verräter Nikol“ – gemeint ist der Premierminister von Armenien Nikol Paschinjan – vor Gericht kommt.

Für solche Reaktion ist Paschinjan allerdings selbst verantwortlich. Seine Regierung verbreitete bis zuletzt platte Durchhalteparolen und Siegesmeldungen. Insbesondere in den letzten Tagen wurde offensichtlich, dass die Paschinjan-Regierung komplett den Bezug zur Realität auf dem Schlachtfeld verloren oder aber die Bevölkerung absichtlich angelogen hat. Noch am 09. November erklärte sie gegenüber der eigenen Bevölkerung, alles weitgehend unter Kontrolle zu haben, meldete einen Sieg nach dem nächsten und wiederholte gebetsmühlenartig „Wir werden gewinnen!“. Der "plötzliche" Verlust von Shusha und der meisten Gebiete war für die Armenier daher ein Schock, der sich in Frust gegen die Regierung entladen hat.

Es dürfte somit das Ende der Paschinjan-Regierung werden. Mehr noch, in einigen Quellen heißt es, dass er bereits aus Armenien geflohen ist. Im Moment ist das offiziell nicht bestätigt, es wäre aber in der Tat durchaus denkbar.

Die Aussichten

Die Chancen, dass die aktuelle Waffenruhevereinbarung hält, sind tatsächlich ziemlich gut – gerade weil russische Truppen ihre Einhaltung kontrollieren werden. Noch in der Nacht begann die Verlegung russischer Soldaten in den Kaukasus – sowohl über den Land- als auch über den Luftweg.

Etwas unklar bleibt die Rolle der Türkei. Formell ist sie nicht Teil der Friedenstruppen und es soll auch keine türkischen Truppen in Arzach geben.

Der aserbaidschanische Präsident Aliyev erklärte allerdings, dass Ankara dennoch Soldaten nach Aserbaidschan schickt und bezeichnete die Waffenruhevereinbarung als eine „gemeinsame russisch-türkische Friedensmission“.

Womöglich werden also türkische Soldaten in der Nähe von Bergkarabach stationiert, um für die aserbaidschanische Seite eine Art Gleichgewicht zu bilden. Des Weiteren gibt es Gerüchte, dass die Türkei eine Militärbasis in Aserbaidschan errichten werde. Das klingt absolut plausibel und wäre in gewisser Weise eine logische Fortsetzung der neuen expansiven Außenpolitik der Türkei.

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