Die Serie „Vermischtes“ stellt eine Ansammlung von Fundstücken aus dem Netz dar, die ich subjektiv für interessant befunden habe. Die "Fundstücke" werden mit einem Abschnitt des Textes, der paraphrasiert wurde, angeteasert. Um meine Kommentare nachvollziehen zu können, ist die vorherige Lektüre des verlinkten Artikels empfohlen; ich übernehme keine Garantie für die Richtigkeit oder Vollständigkeit der Zusammenfassungen. Für den Bezug in den Kommentaren sind die einzelnen Teile durchnummeriert; bitte zwecks der Übersichtlichkeit daran halten. Dazu gibt es die "Resterampe", in der ich nur kurz auf etwas verweise, das ich zwar bemerkenswert fand, aber zu dem ich keinen größeren Kommentar abgeben kann oder will. Auch diese ist geordnet (mit Buchstaben), so dass man sie gegebenenfalls in den Kommentaren referieren kann. Alle Beiträge sind üblicherweise in der Reihenfolge aufgenommen, in der ich auf sie aufmerksam wurde.
Fundstücke
1) Bankrotter Erdölsozialismus
Der Artikel beschreibt die politische Situation in Venezuela, insbesondere die Rolle der Oppositionsparteien und die Herausforderungen, denen sie gegenüberstehen. Einst waren die Christdemokraten (COPEI) und die Sozialdemokraten (AD) die dominierenden Parteien des Landes, doch ihre Bedeutung hat stark abgenommen, seitdem die sozialistische Regierung unter Nicolás Maduro ihre Führung übernommen hat. Diese Parteien wurden zwangsweise in das Regime integriert und schickten Marionettenkandidaten ins Rennen, um den Anschein von Pluralismus zu wahren. Maduro hat eine Reihe von Taktiken angewendet, um seine Macht zu sichern, darunter die Manipulation von Wahlen und die Unterdrückung der Opposition. Trotz eines engagierten Wahlkampfs der vereinten Opposition im Jahr 2023 gelang es Maduro, sich durch gewaltsame Repression und Unterstützung nur weniger internationaler Verbündeter an der Macht zu halten. Die Opposition hat in der Vergangenheit mehrere Fehler gemacht, wie etwa Wahlboykotte und gescheiterte gewaltsame Machtwechsel, die Maduros Position letztlich stärkten. In den letzten Jahren hat die Opposition jedoch eine strategische Wende vollzogen, indem sie sich vereinte und eine breitere soziale Basis aufbaute. Dies führte 2015 zu einem Sieg bei den Parlamentswahlen, doch die Regierung unter Maduro untergrub diesen Erfolg schnell. Die Opposition hat gelernt, dass Einheit und eine erneuerte Basisarbeit entscheidend sind, um gegen das autoritäre Regime anzukämpfen. Trotz der Rückschläge bleibt die Opposition entschlossen, den Kampf fortzusetzen, da das Regime wirtschaftlich und ideologisch gescheitert ist. (Sandra Weiss, IPG)
Ich werde die verstehen, wie irgendjemand auf die Idee kommen kann, ein Wahlboykott sei eine gute Strategie. Hat das jemals funktioniert? Generell finde ich den Artikel spannend, weil er aufzeigt, wie die bürgerliche Opposition darin gescheitert ist, sich dem Linkspopulismus entgegenzustellen, als er noch nicht in die Diktatur abgerutscht war. Die Lektionen scheinen auch unabhängig von der Gesäßgeografie zu sein: ob Links- oder Rechtsradikale, die Probleme sind dieselben, und die nötigen Maßnahmen ebenso. Einigkeit der Opposition, keine Gewalt (legitimiert immer die Regierung, weil Gewaltmonopol), wehret den Anfängen, ein Bedenken der wirtschaftlichen Lage, etc. - alles, was für den Kampf gegen Chavez und Maduro gegolten hätte, gilt auch gegen Fidesz, gegen PiS oder GOP. Im Übrigen ist auch schön zu beobachten, dass die Herrschaftsmechanismen immer dieselben sind. Verfassungsänderungen, loyales Personal, Simulation von Pluralismus - all der Kram könnte genausogut von Putin kommen wie von Maduro. Alles das gleiche Gesindel.
2) Hinter der Brandmauer gegen Rechts kann sich der Linksextremismus ungehindert ausbreiten
Der Artikel kritisiert die anhaltende Unterstützung von Nicolás Maduro durch führende linke Politiker, trotz offensichtlicher Wahlmanipulationen und Unterdrückung in Venezuela. Besonders im Fokus stehen dabei Politiker wie Brasiliens Präsident Lula da Silva, der Maduros Regime verteidigt und die demokratischen Defizite herunterspielt. Der Autor hebt hervor, dass die internationale Linke oftmals Gewalt und autoritäre Tendenzen in ihren eigenen Reihen ignoriert oder verharmlost, während sie gleichzeitig rechtsextreme Bedrohungen anprangert. Diese Haltung führt zu einem „Kollektivversagen“ der Linken, das nicht nur die politische Legitimität ihrer Ideologie untergräbt, sondern auch das Leid der betroffenen Bevölkerung verschärft. Auch die deutsche Außenpolitik wird kritisiert, da sie durch ihre Unterstützung linker Regierungen in Lateinamerika indirekt zur Stabilisierung von Regimen wie dem Maduros beiträgt. Der Artikel warnt vor den Folgen dieser einseitigen politischen Fixierung und dem wachsenden Einfluss von Linksextremismus, der zunehmend auch Europa betrifft. (Tobias Käufer, Welt)
Man kann wenig dagegen sagen. Der Umgang mit den linksradikalen Regimen in Südamerika ist wahrlich kein Ruhmesblatt für die Linken. Ich kann mich noch erinnern, dass ich in meiner linken Phase auch ein Venezuela-Fan war; hatte damals sogar ein Buch gelesen, das die "Reformen" Chavez als wegweisend für die Demokratie pries. Dieses "Kollektivversagen" findet sich gerade ja auch im Ukrainekrieg wieder. Ich halte es ja immer noch mit meiner These, dass Antiamerikanismus die verbindende Klammer für diesen Unsinn ist, aber letztlich ist das relativ egal: die Betrachtung anderer Länder durch die eigene ideologische Brille ist weit verbreitet. Es gehörte auch einiges dazu, in den Mudjaheddin Freiheitskämpfer im Sinne westlicher Freiheit zu sehen. Wo ich finde, dass Käufer über das Ziel hinausschießt, ist die Idee, dass in Europa ein wachsender Einfluss von Linksextremismus durch staatliche Förderung sichtbar sei. Ich sehe den wachsenden Extremismus vor allem im Öko-Segment, aber da gibt es keinerlei institutionelle Unterfütterung. Dass die Außenpolitik indirekt Regime wie die Maduros stabilisiert ist dagegen sicher wahr, aber das gilt für alle diese Regime. Das ist eben der Preis, wenn man nicht bereit ist, eine wertebasierte Außenpolitik zu fahren. Wer die für Qatar ablehnt, kann nicht plötzlich bei Venezuela damit um die Ecke kommen.
Der Artikel beleuchtet die anhaltende Debatte um die Documenta 15 und den damit verbundenen Konflikt zwischen Kunstfreiheit und dem Kampf gegen Antisemitismus. Christoph Möllers, Verfassungsrechtler und Rechtsphilosoph, argumentiert, dass beide Seiten legitime Anliegen haben: Die eine Seite kritisiert antisemitische Tendenzen im Kulturbetrieb, während die andere Seite eine Einschränkung der Kunst- und Meinungsfreiheit befürchtet. Möllers kritisiert, dass der Konflikt oft zu vereinfacht dargestellt wird, indem entweder Antisemitismus oder Zensur verurteilt wird, ohne die Komplexität des Themas zu berücksichtigen. Er weist darauf hin, dass der Staat zwar keine Verpflichtung zur Kunstförderung hat, aber dennoch legitime Gründe haben kann, bestimmte Kunstformen nicht zu unterstützen. Allerdings sieht er die Gefahr, dass Maßnahmen wie Antisemitismus-Klauseln oder die Einbeziehung des Verfassungsschutzes zu weit gehen und eine Politisierung der Kunstförderung zur Folge haben könnten. Möllers plädiert für eine selbstkritische und moderierende Auseinandersetzung mit dem Thema, bei der öffentliche Kulturinstitutionen ihre Unabhängigkeit durch einen glaubwürdigen Umgang mit Antisemitismus verteidigen sollten. Gleichzeitig betont er die Notwendigkeit, dass die Öffentlichkeit hart, aber ohne Forderungen nach staatlichen Eingriffen, kritisiert. Abschließend fordert Möllers dazu auf, den Konflikt nicht als lösbar zu betrachten, sondern als eine lehrreiche Übung für den Umgang mit gesellschaftlichen Konflikten. (Christoph Möllers, Spiegel)
Ein wohltuend differenzierter Beitrag. Die ganze Antisemitismusdebatte ist in meinen Augen deswegen so instruktiv, weil sie die Cancel-Culture-Debatten so wunderbar spiegelt. Hier haben wir es mit etwas zu tun, das vor allem (leider!) im bürgerlichen Lager auf Abwehrreaktionen stößt, während das linke Lager sich durch eine wesentlich zu entspannte Haltung auszeichnet. Ich bin völlig der Überzeugung, dass der Staat ein Interesse haben muss, keinen Antisemitismus zu fördern, Kunst- und Meinungsfreiheit hin oder her. Gleichzeitig schlägt aber natürlich das Problem auf, dass die entsprechenden Klauseln schnell über das Ziel hinausschießen. Erneut, es ist eine komplette Spiegelung der Cancel-Culture-Debatte: der ganze Bereich "Israelkritik" (oder welchen Euphemismus man auch immer verwenden will) ist gerade in Deutschland wenn nicht Tabuzone, so doch zumindest ein Minenfeld. Ein Meinungsfreiheitsabsolutismus ist eine unhaltbare Forderung, gleichzeitig ist aber das breitflächige Canceln nicht ohne Kollateralschäden zu haben. Es ist schwierig, immer, und lässt sich nicht in simplen Parolen packen.
4) Die Erfindung einer »Generation Angst«
Der Artikel von Martin Altmeyer setzt sich mit der zeitgenössischen Kritik an der digitalen Revolution und deren Auswirkungen auf das gesellschaftliche und psychische Wohlbefinden auseinander. Altmeyer verweist auf zahlreiche alarmistische Theorien, die in den letzten Jahren populär geworden sind, wie etwa Manfred Spitzers Konzept der "digitalen Demenz" oder Jonathan Haidts jüngste Warnungen vor einer "Generation Angst", die angeblich durch exzessiven Medienkonsum gezeichnet ist. Altmeyer kritisiert, dass diese apokalyptischen Thesen oft zu stark vereinfacht und auf methodisch schwachen Beweisen basieren. Insbesondere Haidts Annahme einer strikten Trennung zwischen Realität und Virtualität sieht Altmeyer als unzutreffend an, da das Virtuelle ebenso real sei und tief in das menschliche Erleben eingebettet ist. Er plädiert dafür, die psychischen Auswirkungen der digitalen Mediennutzung differenzierter zu betrachten und erkennt darin auch positive Aspekte, wie die Möglichkeit zur sozialen Resonanz und Identitätsbildung. Altmeyer warnt vor überzogenen Ängsten und betont, dass die Moderne das Seelenleben zwar entfesselt hat, dies jedoch nicht zwangsläufig negativ sein muss. Schließlich sieht er in den gegenwärtigen Konflikten Ausdruck der Herausforderungen einer sich globalisierenden Welt und plädiert für eine optimistischere Sicht auf die Zukunft. (Martin Altmeyer, Spiegel)
Was ich an dem Artikel hervorheben möchte ist die Betonung Altmeyers, dass digitale Medien und der digitale Raum keine abgetrennte Sphäre sind ("das Virtuelle bildet keineswegs einen Gegensatz zum Realen, sondern ist seinerseits Teil der Wirklichkeit"). Das ist ein Aspekt, den die Kritiker*innen gerne übersehen. Wenn ein solcher Gegensatz postuliert und als Grundlage von Bildungspolitik genommen wird, dann erklärt die Schule sich als Raum, der in einem scharfen Gegensatz zur gelebten Realität der Jugendlichen steht. Ich kann mir einfach nicht vorstellen, dass das eine gute Idee ist. Ansonsten redet man immer davon, die Schule lebensnaher zu gestalten. Wohlgemerkt, das heißt nicht, dass eine laissez-faire-Politik bestehen sollte, die es den Jugendlichen erlaubt, während des Unterrichts TikTok-Videos zu streamen oder so. Aber es ist nötig, dass sie den Umgang mit Medien erlernen, und das können sie nicht, wenn man sie komplett verbannt. Ich habe immer noch keine Lösung für dieses Dilemma, aber ich bin überzeugt, dass ein Komplettverbot nicht die Lösung darstellt - wenngleich ich inzwischen ehrlich gesagt skeptischer bin als noch vor einem Jahr.
5) Der fatale Zusammenhang von Verschweigen und Verschwörungstheorie
Der Artikel thematisiert die brutalen Morde an drei Mädchen in Southport durch einen 17-Jährigen und die daraus resultierenden gewaltsamen Anti-Einwanderungs-Proteste in Großbritannien. Zunächst verbreiteten sich Gerüchte, dass der Täter ein illegal eingewanderter Migrant sei, was die Spannungen verschärfte. Später stellte sich heraus, dass der Täter ein in Großbritannien geborener Jugendlicher ruandischer Herkunft war, was die Behörden transparent kommunizierten. Der Autor betont die Notwendigkeit von Transparenz und Fakten in der Debatte um Migration und Integration, um Vorurteile und falsche Informationen zu bekämpfen. Es wird argumentiert, dass eine offene und ehrliche Diskussion, einschließlich der Nennung von Nationalität und Migrationshintergrund von Straftätern, wichtig ist, um Vertrauen in den Staat zu schaffen und Polarisierung zu vermeiden. Zugleich wird darauf hingewiesen, dass Kriminalität nicht an Nationalitäten gebunden ist, sondern mit Integration und sozialen Faktoren zusammenhängt. Der Artikel warnt vor den Folgen mangelnder Transparenz, die zu einer Eskalation von Gewalt und Hass führen können, und plädiert für eine differenzierte und sachliche Auseinandersetzung mit den Herausforderungen von Migration und Integration. (Klaus Geiger, Welt)
Geiger liegt in meinen Augen richtig. Es ist ein zentrales Problem der Migrationsdebatte mit ihren Sackgassen, dass man aus Furcht vor rassistischen Strömungen lieber die Augen und den Mund verschlossen hat. Es ist sicher ein Bereich, in dem ich die Steine besser liegen lasse, denn ich habe selbst auch praktisch nie darüber geschrieben oder es thematisiert. Was für mich ein Anstoß zum Umdenken war war Sascha Lobos Buch, Realitätsschock (hier rezensiert), der das bereits 2020 offen angeprangert hat (und dafür auch von links harsch kritisiert wurde). Genauso wie bei der Fundstück 3 diskutierten Antisemitismus-Debatte haben wir hier das Problem, dass gute Absichten Folgeschäden hervorrufen und gleichzeitig die ursprünglichen Bedenken aber auch ihren Kern haben. Denn tatsächlich ist es ja so, dass auf der anderen Seite des Spektrums gerne für rassistische Attacken auf die Herkunft von Täter*innen verwiesen wird. Nur - was, wenn es wahr ist? Wie so oft stehen wir dann vor dem epistemlogischen Dilemma, dass Fakten alleine wenig Aussagekraft haben: es kommt darauf an, wie man sie interpretiert. Vor ihnen wegzulaufen allerdings kann keine Lösung sein, und das haben wir im progressiven Lager zu lange getan.
Resterampe
a) Sehr guter Überblick zur NATO-combat-readiness.
b) Rudi Dutschke und Björn Höcke – Brüder im Geist der Verachtung. Die 68er-Obsession der Bürgerlichen stirbt auch nie aus :D
c) Chartbook 304 Hegemonic malfunction USA 1919-1923 (Hegemony note #4). Nicht nur lesenswert, der Mann haut den Kram halt quasi als öffentliches Nachdenken raus. Ich find das super.
d) Die Antwort ist: Kulturkampf.
e) Ermutigend zu den Ausschreitungen im UK.
f) Das nächste Gericht kippt die nächste Bezahlkarte. Dieses Mal Bayern.
h) Zum Familienvermögen in Deutschland.
i) Tatsächlich eine Überraschung.
Fertiggestellt am 07.08.2024
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