Was ist besser als eine große Studie mit klar strukturiertem Design und sauberer Methodik? Für Impfgegner ganz klar: Anekdoten. Da hat dann schon mal der Dackel von Onkel Eckardt nach der Impfung der Nachbarskatze plötzlich in die Stube uriniert - Impfschaden, was sonst? Sagte auch der Lkw-Fahrer an der Tankstelle drei Orte weiter, der das mit angesehen hat.
Wenn man keine Argumente hat, dann kommt man mit Einzelfällen, die mitunter nichts mit dem Thema zu tun haben. Einzelfälle, die man selbst erlebt hat oder irgendwo gelesen hat, völlig egal. Zumindest die, die keine Fakten haben, machen das gerne. Die, die nicht wahrhaben wollen, was in ihrer kleingeistigen Welt nicht sein darf. Anders als die bloße Behauptung hingegen, die mitunter ganz spontan in die Welt gesetzt wird, dauert die Widerlegung schon um einiges länger und kostet auch viel mehr - mich zum Beispiel meine Nerven und Lebenszeit. Und ich kann es vor meinem inneren Auge schon lesen: „Na, du wirst doch eh von der Pharmamafia bezahlt.“ Wenn ich für jeden Post dieses dummen Spruches auch nur einen Cent bekommen hätte, könnte ich mir mittlerweile Jeff Bezos als Schuhputzer leisten und Gordon Ramsey würde für mich neue Beleidigungen erfinden.
Es bleibt nicht nur keine Impfung verschont, es werden auch bei jeder neuen Impfung einfach dieselben Märchen wiederholt und der Prozess fängt von vorne an. Andrew Wakefield hat damals fast 500.000 Pfund kassiert, damit er eine Studie fälscht, die die MMR-Impfung mit Autismus in Verbindung setzte. Seitdem heißt es bei jeder anderen Impfung ebenfalls, sie löse Autismus aus. Für jede Impfung wurden dementsprechend Studien durchgeführt, die das Gegenteil zeigten (teilweise sogar von Impfgegnern bezahlt), doch die Kosten dafür gehen mittlerweile in die Milliarden. Wakefields Betrug wurde schließlich aufgedeckt und er verlor seine Zulassung. Bei seinen Anhängern ist das nichts weiter als eine Rufmordkampagne. Aber was soll’s, die sind nicht meine Zielgruppe.
Nach diesem langen Vorwort und den letzten Beiträgen ist wohl klar, dass es natürlich auch für HPV-Impfungen die wildesten Anekdoten gibt. Viel schneller lassen sich die Fakten aufzählen:
- So ziemlich jeder Fall von Gebärmutterhalskrebs geht von einer vorherigen HPV-Infektion aus.
- 5% aller Krebserkrankungen weltweit lassen sich diesen Viren zuschreiben. Damit sind sie ebenso gefährlich wie Tabak- oder Alkoholkonsum.
- Die HPV-Impfungen sind sicher und schützen zuverlässig vor Infektionen mit den Erregern der Hochrisikotypen.
Für die meisten aufgestellten Behauptungen der Leugner gelten immer noch die Erklärungen aus der Reihe „IG-Mythen und die wahre Welt“, aber heute widmen wir uns ein paar exklusiven Märchen. Nicht, weil mir langweilig wäre und ich jede Behauptung ansprechen wollte (das würde ich im Leben nie schaffen), sondern weil wir hier an einem überschaubaren Beispiel üben können, wie Quellanalyse und -kritik sowie Argumentation funktionieren. Ihr sollt hier ja schließlich auch etwas lernen. Zu diesem Zweck werde ich zunächst die „Hierarchie des Widerspruchs“ von Paul Graham einbinden und danach einen Vorfall aus dem Jahr 2015 schildern. Im Anschluss daran versuchen wir uns an einer hoffentlich anschaulichen Erklärung, wie jeder schnell herausfinden kann, ob eine solche Geschichte glaubhaft ist oder es sich um Falschmeldungen handelt. (Vielleicht liest ja sogar die dänische Gesundheitsbehörde mit und vergeudet nicht noch einmal Millionen an Steuergeldern.)
Widersprechen und Widerlegen - immer Wiederholen
Die Argumentationspyramide, die Paul Graham als „Hierarchy of Disagreement“, also Hierarchie des Widerspruchs oder der Meinungsverschiedenheiten, bezeichnet hat, ist ziemlich selbsterklärend. 2008 analysierte er Diskussionsverhalten und wie Menschen sich insbesondere im Internet in Diskussionen verhalten. Die unterste Stufe erleben wir jeden Tag: Beleidigungen. „Du Systemhure“ oder „du Pharma-Marionette“, und die fieseren will ich gar nicht nennen. Das kennen wir zur Genüge. Wenn uns Impfgegner so begegnen, stärken sie unseren Standpunkt, indem wir einfach gar nicht darauf reagieren. Wer nichts kann außer zu beleidigen, zeigt nur, dass er zu dem Thema nichts beitragen kann.
Darüber steht ad hominem, ein Angriff auf die Person statt sich deren Argumenten zu widmen. Auch das sehen wir täglich, wenn jemand meint, Person ABC dürfe sich zu einem Thema gar nicht äußern, weil Vorwurf XYZ. Ist völlig egal, was da kommt, es ist nur ein Versuch der Ablenkung, statt sich mit den Argumenten der anderen zu befassen. Verpönt ist zum Beispiel, wenn ein Mann sich über fragwürdige Gesundheitstipps von Hausfrauen, vorzugsweise aus der MLM-Abteilung, äußert. Denn schließlich hätte er keine Gebärmutter und habe deshalb aus Prinzip keine Ahnung. Puh, wenn das nur all die Gynäkologen vor ihrem Studium gewusst hätten! Und mindestens so beliebt ist der Tonfallbezug. Fakten kümmern sich nicht um Befindlichkeiten. Aber in jeder Gruppe kommt irgendwann ein Wahnwichtel und beschwert sich, dass man die nicht lieb und nett verpackt hat. Und die Herzen, vergesst bloß die scheiß Herzen nicht! Und hinterher noch ein Namaste, das heißt wohl so viel wie f*** dich selber. Sicher ist sicher.
Erst wenn wir diese drei Stufen hinter uns und den Wirrköpfen überlassen, kommen wir langsam zu einer brauchbaren Diskussion. Ganz langsam. Denn die nächste Stufe ist erstmal nur der Widerspruch. Etwas, was in den Kommentarspalten zu selten stattfindet, vor allem durch selbsternannte Admins und Moderatoren, die nur durch völlige Abwesenheit glänzen (das sage ich vor allem im Hinblick auf die ÖR, die in falsch verstandener Meinungsfreiheit eigentlich nur noch Holocaustleugnung löschen und alles andere munter ignorieren). Der Widerspruch im Sinne von Grahams Modell erfolgt in der Regel meist ohne Argumente, aber beispielsweise bei Holocaustleugnung brauchen wir auch keine Gegenargumente bringen - das größte Verbrechen der Menschheitsgeschichte streitet nur ab, wer seine Menschlichkeit längst abgelegt hat.
Wenn ein Widerspruch ohne Argument erfolgt, ist logischerweise der Einsatz eines Gegenargumentes die nächsthöhere Stufe in der Hierarchie. Erst danach folgt das, was ich immer wieder versuche und was so zeitaufwändig ist - die Widerlegung. Unter Einsatz von Argumenten, Zitaten und weiterführenden Quellen wird die Behauptung als fehlerhaft entlarvt. Die Königsdisziplin ist natürlich die Widerlegung des zentralen Punktes und genau das gelingt uns am heutigen Beispiel - deshalb habe ich das ja gewählt. Es ist nicht aber nicht zwingend erforderlich, die Kernaussagen von Schwurblern zu widerlegen. Das ist, da es meistens Anekdoten sind, in den wenigsten Fällen überhaupt möglich. Wir kennen weder Onkel Eckardt noch seinen Dackel, die Nachbarskatze, den LKW-Fahrer oder welche Tankstelle drei Orte weiter steht. Aber wir können mit Argumenten und Quellverweisen zeigen, dass die Impfung eines Lebewesens keinen Einfluss auf das Verhalten eines anderen hat, das zudem noch räumlich deutlich von ihm getrennt ist.
Red Flags - Die Hinweise richtig deuten
Das müssen wir natürlich an einem praktischen Beispiel üben. Dazu habe ich eine Angelegenheit hervorgeholt, die mir selbst erst ein einziges Mal begegnet ist. Vermutlich, weil das Argument schwach ist und im Zirkelschluss endet. Egal, als Übungsmaterial dient es trotzdem.
Im Jahr 2015 hat die EMA (Europäische Arzneimittel-Agentur) die HPV-Impfungen hinsichtlich ihrer Sicherheit2 überprüfen lassen. Eine solche Überprüfung kann jedes Land beantragen, das Mitglied der EU ist und zumindest auf Basis statistischer Erhebungen eine mögliche Gefahrenquelle bei Medikamenten ausmacht. Aus Dänemark wurden Verdachtsfälle gemeldet, dass HPV-Impfstoffe die eher seltenen Krankheitsbilder POTS und CRPS verursachen könnten. Keine Ahnung, was das ist? Hatte ich auch nicht. Also bemühen wir mal die Suchmaschinen. Hier könnt ihr im Grunde noch nichts falsch machen. Die Einträge medizinischer Handbücher oder Lexika stehen meist sehr weit oben in den Ergebnissen und die Glaubwürdigkeit lässt sich sogar mit Wikipedia gut beurteilen.
POTS steht für Posturales Tachykardie-Syndrom3, ein Krankheitsbild, bei dem sich bei Patienten erhöhter Puls und Benommenheit zeigen, sobald sie sich aus einer liegenden oder sitzenden Position in eine aufrechte begeben. Die Symptome (und weitere, die ich nicht einzeln aufzähle) treten binnen weniger Minuten auf und lassen beinahe sofort nach, sobald die Person sich hinlegt. Es sind fast ausschließlich ansonsten gesunde Frauen betroffen, meist zwischen 14-42 Jahre alt, die Symptome treten plötzlich und unerwartet auf und die Ursachen dafür sind bislang ungeklärt.
CRPS, das Komplexe Regionale Schmerzsyndrom4, beschreibt einen chronischen Schmerz, der länger anhält und stärker andauert, als es bei der zugrunde liegenden Verletzung zu erwarten wäre. Neben Schmerzen gehören zu den Symptomen, welche plötzlich und unerwartet auftreten, auch verstärktes Schwitzen, Haarausfall oder Knochenatrophie (Abnutzungserscheinungen wie Schwund oder Brüchigkeit). Junge, ansonsten gesunde Frauen sind zwei bis drei Mal häufiger betroffen als Männer und bei 10% aller Patienten ist die Ursache nicht bekannt.
Die Vermutung, dass POTS mit HPV-Impfungen zusammenhängen könnte, war damals schon etwas älter, aufgestellt durch dänische Forscher. Kurz danach vermutete ein mexikanischer Wissenschaftler, die Impfungen könnten CRPS verursachen, weil eine der gemeldeten Nebenwirkungen mit den Symptomen identisch seien und es daher einen zugrunde liegenden Pathomechanismus gäbe, der nur noch nicht bekannt sei. Seine Hypothese fußt unter Anderem übrigens auf der dänischen Studie.
Das waren die Arbeiten, die Dänemark als Begründung anführte. Die EMA sichtete diese beiden Arbeiten, dazu noch etliche andere und kam zu dem Schluss, die vorhandene Datenlage unterstütze die Vermutung, HPV-Impfungen könnten POTS oder CRPS verursachen, in keiner Weise. Es gäbe daher keinen plausiblen Grund für eine Änderung der Herstellung oder Applikation.
Impfgegner interessiert das aber nicht. Sobald die EMA-Prüfung vorgelegt wird, ignorieren sie sie und kontern mit verschiedenen Versionen eines - ebenfalls 2015 erschienenen - medscape-Artikels5(der sich hinter einer Bezahlschranke befindet - ich konnte sie umgehen, aber aus rechtlichen Gründen beschreibe ich hier nicht wie). Anscheinend gibt es da mal wieder ein Skript, dass ihre Vorgehensweise festlegt. Wäre ja nicht das erste Mal.
In besagtem Artikel stehen noch einmal Aussagen des Leiters der dänischen Studie, dass seine Schlussfolgerungen aufgrund des zeitlichen Zusammenhanges und fehlenden anderen Erklärungen plausibel seien. Sollten sie dennoch nicht akzeptiert werden, dann läge das daran, dass POTS in manchen Ländern nicht als Krankheitsbild anerkannt würde oder mit dem Chronischen Fatigue-Syndrom verwechselt. Außerdem würden die Hersteller solche Fälle herunterspielen. Des Weiteren wird eine andere Studie herangezogen, die dieselben Ergebnisse zeige.
Soviel zur Sachlage. Impfgegner ziehen eine Untersuchung durch die EMA heran, um zu unterstellen, dass Impfungen ganz pöhse seien. Erwähnt man das Ergebnis der Untersuchung, kommen sie mit alten Zitaten der Personen, deren Arbeiten ja überhaupt erst zur Untersuchung geführt haben. Und sobald man das kritisiert posten sie denselben uralt-Artikel von vier verschiedenen Websites, in dem der Autor versucht zu begründen, warum Untersuchungen durch Behörden wie der EMA sowieso nie glaubwürdig sind, weil Big Pharma und so Quatsch. Klassischer Zirkelschluss.
Wenn ich mich ans Debunking setze, dann achte ich auf etwas, das man als „red flags“ bezeichnet; Warnzeichen, in unserem Fall also typische Merkmale der Erzählweise von Verschwörungsdeppen. Zu jeder Subkultur gehören Phrasen, die gebetsmühlenartig immer wieder aufgesetzt werden, um gezielte Gehirnwäsche zu betreiben. Habt ihr sie auch bereits entdeckt?
Impfgegner verwendeten früher für ihre angeblichen Impfschäden, die entweder leichte Nebenwirkungen waren oder auch frei erfunden, die Bezeichnung „pumperlgsund“. „Meine Tochter war vorm Pieks pumperlgsund, danach hat sie nur noch die Decke angestarrt.“
„Der Sohn meiner Nachbarin war pumperlgsund und konnte mit elf Monaten schon Laufen und Sprechen und nach der Impfung hat er das alles verlernt.“
Solche Sprüche waren mal an der Tagesordnung, bis es den Jammerlappen selbst zu dumm wurde, immer wieder dieselben Textbausteine zu kopieren. Aber das Framing in ihren Echokammern, die Gehirnwäsche, die hat damit funktioniert. Wer bis dahin nämlich noch kein Impfgegner, aber unsicher war und all diesen Geschichten hört, das ansonsten völlig gesunde Kinder plötzlich und unerwartet debil, faul, dumm oder - Gott bewahre - artistisch werden, der wird damit bekehrt. Der Fachbegriff ist übrigens Konditionierung. Na, klingelt’s da bei jemandem? Ist in diesem Ausmaß wohl eher schon ein oranges Uhrwerk. (Sorry, das waren jetzt drei Anspielungen in zwei Zeilen und damit definitiv zu viele. Die Siegestrompete (4) lasse ich aus).
(Edit: Der/die erste mit einer Aufzählung und Erklärung alle Anspielungen darf sich einen Wahnwichtel für eine Spende aussuchen. Gespendet werden 50 Dosen Masernimpfstoff und die Kosten dafür trage ich.)
Jetzt lest nochmal ab der Headline „Red Flags“ und ihr findet recht auffällig die Stilblüten „ansonsten völlig gesund“ und „plötzlich und unerwartet“
Kommt schon, das ist doch schon ein Wink mit dem Zaunpfahl.
POTS: „Es sind fast ausschließlich ansonsten gesunde Frauen betroffen, meist zwischen 14-42 Jahre alt, die Symptome treten plötzlich und unerwartet auf […]“
CPRS: „Neben Schmerzen gehören zu den Symptomen, welche plötzlich und unerwartet auftreten […]“ „Junge, ansonsten gesunde Frauen sind zwei bis drei Mal häufiger betroffen […]“
Mit diesem Wissen müssen wir uns für heute begnügen. Vielleicht findet ihr ja selbst in eurem Newsfeed auf Facebook, Instagram oder wo auch immer Beispiele für wiederkehrende Stereotypen? Teilt ruhig alles mit, was ihr findet. Morgen machen wir dann weiter im zweiten Teil. Bleibt also dran, ob über Facebook, Instagram oder Threads.
Quellen: