Diesen tollen Spruch hat bestimmt jeder von uns schon irgendwo lesen dürfen: "Lass' dir mal die Packungsbeilage geben. Da siehst du erstmal, wie viele Impfschäden es gibt! Aber die meisten Ärzte verstecken die!" (Aus Gründen habe ich die miese Rechtschreibung korrigiert. Dankt mir später.) Abgesehen davon, dass ich selbst tatsächlich noch nie einen Beipackzettel irgendeiner Impfung in den Händen hielt (weil der mich nicht weiter interessiert, ich beschäftige mich ja sowieso seit Jahren mit dem Thema), ist das ein kompletter Zirkelschluss und Paradebeispiel für die völlig verdrehte Welt der Impfmuffel. Das werde ich später noch etwas ausschmücken. Bis dahin kauen wir aber mal in Ruhe den Urschleim durch, denn es gibt tatsächlich Menschen, die eben nicht so tief in der Materie stecken wie ich und die keine Zeit haben, mal schnell alles zu recherchieren. Aber genau deshalb mache ich das ja.
Beipackzettel erklärt
First things first: Der Beipackzettel, die Packungsbeilage, Patienteninformation, package insert, instruction for use etc., im weiteren Verlauf "BPZ" abgekürzt, ist KEIN medizinisches Dokument, sondern ein juristisches. Sein Zweck ist es, den Hersteller vor unberechtigten Klagen zu schützen, indem die vorgesehene Anwendung klipp und klar beschrieben wird. Ja, ja, ich höre schon eure Gedanken. "Aber die sagen dann, dass sowieso keine Pharmafirmen verklagt werden können!" Ja, ist mir bewusst, kommt aber erst später dran. Seid mal nicht so ungeduldig!
Die BPZ sind standardmäßig in 6 Bereiche unterteilt, welche die EU-Richtlinie 2001/83/EG definiert:
1. Name, Darreichungsform und Wirkungsweise
2. Informationen, die vor Verabreichung bekannt sein müssen (Gegenanzeigen, Wechselwirkungen, Warnhinweise und Vorsichtsmaßnahmen)
3. Anwendungsgebiete und -hinweise
4. Nebenwirkungen und gegebenenfalls zu ergreifende Gegenmaßnahmen
5. Aufbewahrungshinweise, Verfallsdatum, Entsorgungshinweise
6. Aufzählung aller Inhaltsstoffe, Beschreibung des Aussehens und der Inhaltsmenge sowie Herstellerinformationen, Zulassungsdatum und Datum der letzten Aktualisierung der Angaben
Was diese Richtlinie genau definiert, könnt ihr übrigens hier1nachlesen; in D speziell in §11 AMG2geregelt.
Die Frage, die oft dazu gestellt wird, ist: Warum?
Warum wird das so ausführlich beschrieben, wenn Impfungen doch harmlos sein sollen? Nun, stellt euch einfach mal den (Praxis-)Alltag von (Kinder-)Ärzt*innen vor. Neben vier bis zehn Stunden größtenteils kranker Patienten, die nicht alle auf den ersten Blick krank sind, die hunderte verschiedene Medikamente benötigen, die mitunter nervige, entnervte, aggressive und verängstigte Angehörige mitbringen, kommt da noch der Papierkrieg, den die Arzthelfer*innen gar nicht allein bewältigen dürfen. Hättet ihr da den Kopf frei und wüsstet bei allen Arzneimitteln, wie die aussehen und wie die eingenommen oder verabreicht werden? Unter Berücksichtigung ständig neuer Verträge der einzelnen Krankenkassen und all den Generika, die dann doch nicht wirkungsgleich sind? Wohl kaum. Hinzukommen die verschiedenen Zulassungen. Alleine für den MMR-Impfstoff "Priorix3" sind aktuell laut Paul-Ehrlich-Institut 13 Varianten zugelassen, jeweils in verschiedener Zusammensetzung und angepasst auf Basis der post-marketing-surveillance (Überwachung gemeldeter Nebenwirkungen nach Zulassung). Und auch die Übermittlung dieser beobachteten Nebenwirkungen, ob nun tatsächlich durch den Impfstoff ausgelöst oder zufällig zeitgleich, fällt in den Aufgabenbereich der Ärzt*innen. Klar, per Gesetz ist das so formuliert, dass wirklich *alle* Nebenwirkungen von Medikamenten melden dürfen. Aber meistens bleibt es an Ärzt*innen hängen. (Falls jemand das in Zukunft selbst übernehmen will, bitte hier4(D), hier5(A), hier6(CH) oder auch hier7(EU) entlang. Das sollte reichen, oder?)
Dabei gilt zu beachten, dass dort von Privatpersonen gemeldete Nebenwirkungen (UAW genannt, "unerwünschte Arzneimittelwirkungen") prinzipiell als unbestätigte Verdachtsfälle gehandhabt werden. Diese Datenbanken zeigen alle erfassten Meldungen und es ist in der Regel nicht gesagt, dass diese auch in einem kausalen Zusammenhang mit den Medikamenten stehen. Was mich dann zum nächsten wichtigen Punkt bringt, nämlich dem Unterpunkt "Nebenwirkungen" auf den BPZ. Dieser wird seit jeher von zu vielen Menschen falsch verstanden. Schwurbler*innen haben hier leichtes Spiel: dadurch, dass sowieso Verunsicherung bezüglich UAW besteht, können sie noch leichter ihre Mitmenschen manipulieren. Das sauge ich mir natürlich auch nicht aus den Fingern. Laut der WIdO-Studie8von 2005 lasen zu der Zeit nur zwei Drittel der Befragten überhaupt die BPZ, davon war wiederum ein Drittel von den Angaben verunsichert und ein weiteres Drittel nahm die entsprechenden Medikamente gar nicht erst oder setzte sie vorzeitig ab (die Angaben findet ihr ab Seite 55). Damit aber nicht genug. 2013 zeigte eine weitere Studie9, dass auch Apotheker, Ärzte und Juristen den Begrifflichkeiten auf BPZ falsche Werte zuordnen. Beispielsweise gaben Ärzte an, dass "häufig" sich im Schnitt auf 3,5% der Patienten beziehe, "gelegentlich" auf 0,3% und "selten" auf 0,9%. Das ist in der Hinsicht fatal, dass gerade die ersten beiden Gruppen als Ansprechpartner dienen und Patienten ihren Aussagen vertrauen. Dabei ist es eigentlich nicht so schwer, die Begriffe richtig zu verwenden:
-sehr häufig: die Nebenwirkung trat bei mehr als 10% der Behandelten auf
-häufig: die Nebenwirkung trat bei 1%-10% der Behandelten auf
-gelegentlich: die Nebenwirkung trat bei 0,1% bis 1% der Behandelten auf.
Ab diesem Punkt bringen uns prozentuale Angaben nicht weiter, da "Prozent" sich ja auf 100 bezieht. Wieviele Menschen sind 0,1 von 100? Klingt doof. Also etwas konkreter: "gelegentliche" UAW betrafen zwischen 1 und 10 von 1.000 Behandelten.
-selten: die Nebenwirkung betraf 1 von 1.000 bis 10.000 Behandelten
-sehr selten: die Nebenwirkung trat bei weniger als einem von 10.000 Behandelten auf (also vielleicht nur einmal während sämtlicher klinischer Untersuchungen)
Das leichte Spiel mit verzerrten Angaben
Jetzt kommt noch eine Schwierigkeit hinzu: Der Gesetzgeber sagt, dass Fälle, deren Zusammenhang mit dem Arzneimittel nicht einmal vermutet wurde, nicht aufgelistet werden sollten, damit keine Verwirrung aufkommt. Andererseits ist der BPZ eine rechtliche Absicherung der Hersteller bzw. der Zulassungsinhaber gegen Klagen (wir kommen jetzt auf den zuvor angesprochenen Punkt zurück). Es steht also das Interesse des Staates, die Bürger*innen vor unnötiger Verunsicherung zu schützen, gegen das Interesse der Unternehmen, sich vor unbegründeten Klagen zu schützen. Natürlich wird jedes Unternehmen den Selbstschutz vorziehen. Diesem Konflikt verdanken wir unter anderem die Behauptung, dass Impfstoffe magnetisch machen würden. Klingt blöd, ist es auch, wird aber trotzdem immer wieder so erzählt. Denn so rekonsturierten Schwurbler*innen es beim Beipackzettel für Gardasil10 nach dessen Revision 2015. Dort wurden 39 Todesfälle während den klinischen Zulassungsstudien erfasst, davon 21 unter Gabe von Gardasil und 18 unter Gabe eines Plazebos. Die Verteilung legt schon nahe, dass da Impfungen keine Rolle spielten. Insbesondere bei der Menge an Testpersonen (29.323). Die Aufschlüsselung auf Seite 11 des BPZ erklärt es dann ganz genau (und ich mache das auch, denn ich will damit auf etwas hinweisen):
- 9 Tote durch Verkehrsunfälle (5 Gardasil/4 Plazebo) (Offenbar macht auch das Plazebo magnetisch, wer hätte das gedacht.)
- 8 Tote durch Drogenüberdosis/Suizid (2 Gardasil/6 Plazebo)
- 4 Tote durch Schusswaffen (1 Gardasil/3 Plazebo)
- 2 Tote durch Lungenembolie/tiefe Venenthrombose (jeweils 1)
- zusätzlich in der Gruppe, die Gardasil verabreicht bekam, zwei Fälle von Sepsis und jeweils ein Fall von Bauchspeicheldrüsenkrebs, Herzarrythmie, Tuberkulose, Schilddrüsenüberfunktion, postoperativer Lungenembolie einhergehend mit Nierenversagen, schwerem Hirntrauma und Herzversagen, Lupus, Brustkrebs, Schlaganfall und Nasopharynxkarzinom,
- zusätzlich in den Gruppen, die Plazebos bekommen hatten: jeweils ein Fall von Asphyxie, akuter Leukämie, Vergiftung, Myokardinfarkt und Medulloblastom
Klingt erschreckend, nicht wahr? Das könnt ihr jetzt als praktisches Beispiel dafür sehen, was zuvor an BPZ bemängelt wurde und weshalb wir unbedingt ein besseres Leseverständnis benötigen. Denn Unternehmen werden sich im Zweifelsfall immer absichern, sofern sie können und daher immer auch solche Fälle in BPZ angeben, die überhaupt nichts mit den Arzneimitteln zu tun haben. (Dahinter steht ein Grundprinzip der Nachweisbarkeit, und solange man eine Ursache nicht vollkommen ausschließen kann ist es rechtlich sicherer, den Vorfall dennoch anzugeben. Egal, wie absurd das klingt.) Schwurbler*innen nehmen diese Liste als Anlasspunkt, Impfungen Todesfälle zuzuordnen, die gar nicht in kausalem Zusammenhang mit ihnen stehen. Und jetzt seid mal ehrlich zu euch selbst: Angenommen, ihr bekommt eine Impfung, die mehrere Todesfälle oder Tumore und Karzinome in ihrem BPZ als Nebenwirkungen aufzählt, würdet ihr die einfach so nehmen? Selbst ich würde da lieber nochmal nachfragen. Jetzt sagt aber vielleicht meine Impfärztin, dass diese seltenen UAW prozentual öfter auftreten als die harmloseren, die unter "gelegentlich" aufgezählt werden (in Anspielung auf die obige fehlerhafte Interpretation der Angaben). Und in der Apotheke erhalte ich wieder andere Informationen. Also suche ich online. "Impfung xyz Nebenwirkungen" präsentiert mir je nach Suchmaschine spätestens auf Seite 2 Verschwörungsblödsinn und dreiste Lügen.
Dann suchen Menschen in sozialen Medien, und schon kommt irgendein Dulli und schwafelt von allen möglichen Horrorgeschichten, die seine oder ihre Kinder angeblich erlebt haben. Den Rest kennen wir.
Wie man die Inhalte gegen Fake News nutzt
Da müssen wir diese Menschen abholen. Wir müssen Verständnis und Kompetenzen schulen. Und wir müssen diesem Unsinn widersprechen. Immer und immer wieder. Das kostet Zeit und ist mühselig. Zumindest aber der Schwurbel lässt sich im beschriebenen Fall an einigen Stellen leicht als Unsinn entlarven und das auf eine Weise, die nach außen jedem klarmacht, dass da nur Propaganda geplappert wurde. Der Trick ist es, Fragen zu stellen. Bislang konnten Schwurbler*innen noch nie ihre Aussagen mit belastbaren Fakten untermauern, das wissen wir längst. Fragen weichen sie erst aus, weil sie gar nicht wissen, wovon sie erzählen, danach beleidigen sie. Früher oder später geben sie auf oder fallen dem Algorithmus zum Opfer. Und für die Fragen braucht man kein Expert*innenwissen. Ein Beispiel:
Was genau stimmt denn nun? Entweder können Pharmaunternehmen nicht verklagt werden, oder sie schreiben UAW auf BPZ, damit sie deswegen bei einer Gerichtsverhandlung gewinnen? Das wäre doch völlig unnötig, wenn man gar nicht klagen könnte, oder? Zumal ja Impfschäden sowieso vom Staat reguliert werden und eine Schadensersatzklage gegen den Hersteller damit unnötig ist. Und wie ist das eigentlich mit den UAW, das sollen alles Impfschäden sein? Und die schreiben die Pharmaunternehmen auf und fügen das jeder Packung bei, während sie sie gleichzeitig vertuschen und geheimhalten wollen? Das passt vorne und hinten nicht und jedem Leser fällt auf, dass ihr die Richtung vorgebt und eure Gegenüber keine Ahnung haben, wovon sie reden. Umgedreht lässt sich daraus dann gleich noch ein Strick drehen: Patient*innen mit Plazebo wiesen Vergiftungen auf. Nach der Logik der Schwurbler*innen bedeute dies dann ja, dass die HPV-Impfung vor Vergiftungen schütze und das wäre doch gut, nicht wahr?
Ebenso dienen die Angaben bei Impfstoffen der Beweisführung, dass diese genauer untersucht werden als beispielsweise Schmerzmittel. Im BPZ für Aspirin11 finden sich nämlich nach wie vor keine Häufigkeitsangaben; aus der Datenlage ist einfach nicht ersichtlich, wie oft die Nebenwirkungen auftreten. Und zu denen zählen so tolle Sachen wie Hirnblutung, Magen-Darm-Blutung, Hörverlust oder Asthmaanfälle. Verweigert IG deshalb Aspirin? Habt ihr schon mal Gruppen gesehen, die sich auf Aspirin-Beiträge im Netz stürzen und dort Horrorstorys verbreiten? Demos gegen Aspirinpflicht? Ich auch nicht.
Auch ist es zweckmäßig, nach Gegenfragen direkt wieder auf das eigentliche Thema zu lenken. Okay, es gab 39 Todesfälle während der klinischen Studien zu Gardasil, die gar nicht im Zusammenhang mit dem Impfstoff standen. Ziehen wir die ab, bleiben 29.283 Patienten, die überwiegend keine Beschwerden hatten. Die, die Nebenwirkungen gemeldet haben, gaben fast ausschließlich geringfügige Beschwerden an, nämlich Schmerzen an der Einstichstelle (einhergehend mit einer leichten Schwellung), Kopfschmerzen und Fieber. Über 90% der davon Betroffenen gaben die Beschwerden aber als "mild" an. Auch die gelegentlichen Nebenwirkungen wie Übelkeit, Erbrechen oder Schlafstörungen wurden als überwiegend mild empfunden. Unter allen Teilnehmenden meldeten insgesamt 258 (von 29.323, also auch Plazeboempfänger*innen) eine schwere systemische Nebenwirkung. Nach eingehender Untersuchung wurden davon 0,04% kausal dem Impfstoff zugerechnet. Absolut sind das 10.
Zusammengefasst: Die Probanden aller klinischer Untersuchungen gaben zwar eine Vielzahl an Nebenwirkungen an, stuften diese aber nach eigenem Empfinden zu über 90% als mild ein. Von 258 schweren Nebenwirkungen konnte in 10 Fällen ein Zusammenhang zur Impfung festgestellt werden, ergo hatten 248 Fälle andere Ursachen. Ihr könnt ja selbst nachlesen, unter 6.1 ist alles haarklein aufgelistet (in den Quelllinks Nummer 10).
10 schwere Nebenwirkungen unter 29.323 Probanden. Das ist schon gar nicht mehr besorgniserregend. Dagegen steht die Tatsache, dass über 99,7% aller Zervixkarzinome aus einer vorherigen HPV-Infektion resultieren. Insgesamt sind es mit den übrigen Krebsarten, die HPV bei Menschen verursachen, einige Millionen jedes Jahr, von denen mehrere hunderttausend Betroffene weltweit sterben. Die alle ließen sich verhindern und ihr könnt dabei helfen. Ich hoffe, mit diesem Artikel ein wenig Hilfestellung geben zu können.
Quellen:
1 https://eur-lex.europa.eu/legal-content/DE/ALL/?uri=celex%3A32001L0083
2 https://www.gesetze-im-internet.de/amg_1976/__11.html
3 https://www.pei.de/DE/arzneimittel/impfstoffe/masern/masern-node.html
4 https://nebenwirkungen.bund.de/nw/DE/home/home_node.html
5 https://www.basg.gv.at/marktbeobachtung/meldewesen/nebenwirkungsmeldung/human
7 https://www.adrreports.eu/de/national.html
9 https://www.aerzteblatt.de/archiv/147058/Verstaendnis-von-Nebenwirkungsrisiken-im-Beipackzettel