Während sich die Blicke der Medien in den letzten Tagen vor allem auf die US-Präsidentschaftswahlen richteten, tobt der Konflikt in Bergkarabach zwischen Armenien und Aserbaidschan weiter und scheint zunehmend seine Struktur zu ändern.
Die aserbaidschanische Armee lenkte ihre Offensiven auf zwei strategisch wichtige Punkte – die Stadt Shusha und den sogenannten Lachin-Korridor, eine Verbindungsstraße zwischen der selbsternannten „Republik Arzach“ und Armenien.
Jeder dieser Punkte ist strategisch von größter Bedeutung und könnte über den weiteren Verlauf des Konfliktes entscheiden.
Shusha
In der Region gibt es den Spruch: "Wer Shusha kontrolliert, kontrolliert Bergkarabach ".
Dieser Weisheit folgend startete die aserbaidschanische Armee in der letzten Woche eine umfangreiche Offensive auf die Stadt – kam aber nur wenig voran.
Armenische Einheiten nutzen das schwere Terrain und konnten ihre Stellungen bislang halten.
Zugleich verwiesen Konfliktbeobachter auf eine Besonderheit der letzten Tage – die Zahl von aserbaidschanischen Drohnen am Himmel hat sich drastisch reduziert. Aus irgendeinem Grund kann Baku sie nicht für die Schlacht um Shusha einsetzen, was den Armeniern erhebliche Vorteile bringt. Wieder hat Jerewan damit angefangen, seine Bodentechnik intensiv einzusetzen.
Den Vorteil an Waffensystemen, den Baku während des Konfliktes genoss, scheint es nicht mehr zugeben.
Woher diese Wende kommt bleibt unklar.
Drei Hauptversionen werden derzeit diskutiert:
- Aserbaidschan habe einfach zu viele Drohnen bereits verloren und müsse sie sparen. Zudem sei die armenische Flugabwehr über Shusha noch dichter.
- Aserbaidschan bekommt seine Drohnen vor allem aus der Türkei, die wiederum die Drohnen nicht komplett aus eigenen Einzelteilen zusammenbaut, sondern Vieles davon importiert. Zuletzt wurden aber von kanadischen und österreichischen Unternehmen Sanktionen verhängt, sodass die Türken im Moment Schwierigkeiten hätten, neue Bayraktar-Drohnen zu bauen, so die zweite Version.
- Russland habe seine Eloka-Systeme Krasukha-4 eingeschaltet, die in ihrem Segment als modernste Systeme der Welt gelten und effektiv gegen Drohnen eingesetzt werden können. Demnach habe Moskau diese Systeme auf seiner Militärbasis in Armenien stationiert und eingeschaltet, um den Fall von Shusha zu verhindern. Offiziell liegt dazu aber keine Bestätigung vor.
So oder so. Der Verlust der Luftdominanz dürfte für Aserbaidschan ein schwerer Schlag sein. Die Offensivoperationen im Gebirgsterrain werden noch schwieriger werden. Bereits jetzt fügen Armenier den vorrückenden aserbaidschanischen Militärkolonnen schwere Verluste zu, die auf engen Gebirgsstraßen zu leichten Zielen für Panzerabwehreinheiten werden. Die Einnahme von Shusha könnte daher zu einer Herausforderung werden, der die aserbaidschanische Armee nicht unbedingt gewachsen ist. Über all dem schwebt zudem das Damoklesschwert des immer näher rückenden kaukasischen Winters, der die Gebirgsstraßen unpassierbar machen wird.
In anderen Worten: Baku muss sich beeilen, wenn es den Konflikt schnell zu Ende bringen will. Wenn es im Laufe des Novembers nicht klappt, dürfte sich das nächste Zeitfenster erst im Frühjahr öffnen.
Eine andere eher exotische Version, warum der Vorstoß der aserbaidschanischen Armee auf Shusha stockt, wird derzeit in einigen aserbaidschanischen Foren verbreitet. Demnach seien mindestens 300 russische Söldner aus der berüchtigten „Wagner“-Gruppe in der Stadt angekommen und kämpfen für Arzach. Unmöglich ist das nicht, dennoch eher unwahrscheinlich. Bildmaterial, das dies beweisen würde, gibt es (anders als in Libyen oder Syrien) auch nicht. In den letzten Jahren ist es fast schon zu einem Reflex geworden, hinter jedem Konflikt die „Wagner“-Truppe zu sehen. Meistens bleibt es aber bei Gerüchten und Gruselgeschichten.
Lachin-Korridor
Der zweite strategisch wichtige Moment, der entscheidend für den Konflikt in Bergkarabach werden könnte, ist der Kampf um den Lachin-Korridor. Diese Versorgungsstraße verbindet die „Republik Arzach“ mit Armenien. Nachdem Baku die Grenze zum Iran abschneiden konnte, ist es auch praktisch der einzige Versorgungsweg für die selbsternannte Republik. Dementsprechend heftig wird um diese Versorgungsader gekämpft.
Es heißt, die aserbaidschanische Armee sei bereits mehrfach an die Trasse herangekommen und konnte den Lieferverkehr zeitweise unterbrechen. Von einer Kontrolle kann man aber derzeit nicht sprechen. Die Armenier konnten die aserbaidschanischen Spitzenverbände bislang jedes Mal schnell zurückschlagen.
Fazit
Der Vorstoß der aserbaidschanischen Armee verlangsamt sich zunehmend. In beiden strategisch wichtigen Richtungen – der Stadt Shusha und dem Lachin-Korridor – wird ein Vorrücken immer schwieriger, weil die armenischen Verteidiger ihre Defensivvorteile ausnutzen können. Zudem kann Baku anscheinend seinen Luftvorteil über Shusha nicht nutzen, sodass Jerewan dort seine Bodentechnik voll einsetzen kann.
Woher die plötzliche Ohnmacht der aserbaidschanischen Drohnen kommt, bleibt unklar.
Hohe Verluste durch armenische Luftabwehr, Sanktionen gegen die Türkei und sogar die Intervention russischer Eloka-Systeme werden ins Spiel gebracht. Zu keiner der genannten Versionen gibt es jedoch eine offizielle Bestätigung.
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