Es ist das Gebot der Stunde.
Lange zögerte ich. Doch die Entwicklung der letzten Jahre treibt mich zu dem unweigerlichen Schritt.
Es ist ein rhetorischer Schrei. Ein Aufschrei. Eine Verzweiflungstat. Es muss raus, was sich bei mir angestaut hat. Entweder jetzt oder nie. Ich bin weiß Gott niemand, der sich ungefragt aufdrängt. Aber es fragt mich eben auch niemand. Dieses weltliche Desinteresse an mir, der doch so viel zu geben hat, deprimierte mich eine Zeit. Aber glücklich machte es mich nicht. Dann war ich beleidigt, doch niemand nahm davon Kenntnis, obwohl es mir deutlich anzusehen war. Ich wurde ignoriert, wurde geschnitten, ja sogar übersehen.
Gerade Letzteres ist, besonders im Straßenverkehr, nicht ganz ungefährlich. Wer bereits deshalb dreimal krankenhausreif von Autos angefahren wurde, der weiß, wovon ich spreche. Eine ganze Gipsarmsammlung ist stummer Zeuge meines Lebens.
Nach Depression und Beleidigtsein, entschloss ich mich, in die Offensive zu gehen, die mir mehr Aufmerksamkeit bescheren sollte. Ich wurde wütend! Wütend auf Gott und die ganze Welt. Ich ließ mir eine Zornesfalte wachsen, damit niemandem entgehen konnte, dass ich wütend war.
Ein Wutbürger eben. In einer freien Welt war und ist dies mein gutes Recht. Von Gott hab eich bis heute noch keine Stellungnahme dazu erhalten. Er hüllt sich vornehm in Schweigen, was mich noch wütender macht.
Und was die Welt angeht, da musste ich schmerzhaft feststellen, meine Idee wurde bereits tausendfach kopiert. Wutbürger wohin das Auge blickt. Wo ich auch wüten will, ist schon einer da. Das machte mich erst recht wütend. Einer von vielen wollte ich nicht sein. Ich wollte als etwas Besonderes, etwas Einmaliges wahrgenommen werden. Wut war offensichtlich gesellschaftsfähig geworden.
Bis in die unterschiedlichsten Schichten hinein infiltriert. Wütende angeblich gebildete Akademiker, wütende Arbeitslose, selbst wütende untätige Politiker, eiferten mir nach. Jeder wütend auf den anderen. Und ich auf sie.
Wie soll man da noch herausstechen und auffallen. Ich ging meine ganzen Möglichkeiten an Stimmungen durch und entschloss mich schließlich, zukünftig stinksauer zu sein. Zur Vorbereitung, denn das ist das A und O, stellte ich das Duschen ein. Der erste Schritt zum Erfolg. Schon in der zweiten Woche wurde mir das Leben mit mir, in einer kleinen Wohnung wo man sich nicht aus dem Weg gehen kann, unerträglich. Ich stank wie ein Ochse und ich litt massiv darunter, da ich sehr geruchsempfindlich bin. Anfangs spürte ich eine gewisse Säuernis über mich, doch verstärkte sich dies von Tag zu Tag, bis ich richtig Sauer war. Bis zu diesem Tag hatte ich die Wohnung, bei geschlossenen Fenstern, nicht verlassen. Ich wollte mich erst der Welt in neuem Gewand präsentieren, wenn die Metamorphose, von Wut auf Sauer, abgeschlossen und vollendet war. Halbe Sachen waren noch nie meine Sache.
Ich sehnte den Tag herbei, wo ich mich der Welt zeigen konnte und ihr demonstrativ meine neu gefundene Stimmung unter die Nase reiben konnte. Dann war es soweit. Der Tag war gekommen. Und keinen Tag zu früh. Ich war bereits fast soweit mich selbst zu würgen, so sauer war ich auf mich. Da wusste ich, jetzt ist der Moment gekommen.
Mit ärmellosem Schießer Feinrippunterhemd in Weiß, bauchfrei, obwohl ich nicht bauchfrei bin, dazu eine kurze Sporthose, die sich hauteng an mich schmiegte, denn bekanntlich liegt in der Kürze ihre Würze. So viel ausatmende freie Haut wie möglich und einem Gesicht, was ausstrahlt, der Besitzer ernährt sich nur von Sauerkraut, Sauerampfersalat und rheinischem Sauerbraten. Zum Nachtisch Vanilleeis mit Sauerkirschen. Jetzt konnte die Welt nicht mehr anders, als auf mich aufmerksam zu werden. Mit einer alten Weinkiste, die ich unter persönlichem Einsatz, inhaltlich erst Flasche für Flasche leeren musste, bewaffnet, stieg ich in einen Linienbus, der mich zum städtischen Volkspark fuhr. Ich saß alleine darin, weil kurzfristige Überlegungen, Mitreisende sich spontan umentschieden und andere Busse vorzogen. An der ersten Haltestation klagte der Busfahrer über Atemnot und bat mich den Bus selbst zu fahren und am Volkspark einfach abzustellen. Er würde ihn später dort abholen. Es war zwar eine ungewöhnliche Bitte, doch ich kam ihr nach.
Dort im Volkspark, auf meiner Weinkiste stehend, wollte ich eine Rede an die Welt halten, die die Welt noch nicht erlebt hat. Die Idee dazu kam mir, als ich eine Dokumentation über England gesehen hatte, wo im Hydepark Leute auf Kisten standen und gegen alles und jedes sich aussprachen. Diese jahrhundertealte Tradition wollte ich nun auch bei uns einführen.
Jedoch als ich vorfuhr, hatte sich die Welt gegen mich verschworen, was zumindest meiner Stimmung zuträglich war. Es goss plötzlich in Strömen. Dies führte dazu, dass ohne mein Zutun Teile meiner Stimmung geradezu weggespült wurden und ich nur noch sauer war. „Stink“ hatte sich verabschiedet. Und ich erlebte einen tiefen Absturz in längst vergessen geglaubte alte Stimmungen. Ich war wieder deprimiert. Meine Wut darüber war dementsprechend. Ich stieg in den Bus, löste widerwillig ein Ticket und fuhr mich nach Hause und die ganzen Vorbereitungen gingen wieder von vorne los. Zwei Wochen Isolation und ich hatte den Grad von stinksauer wieder erreicht. Missmutig stellte ich zufrieden den Zustand fest und diesmal überließ ich nichts dem Zufall. Bevor ich einen neuerlichen Versuch startete, sah ich genau auf den Wetterbericht, der sich spendabel zeigte und dreißig Grad im Schatten versprach. Genau meine Temperatur um gut zur Geltung, zu kommen. Diesmal entschloss ich mich zu Fuß mich auf den Weg zu machen, um wie dereinst der Rattenfänger von Hameln, Menschen anzulocken, die mir folgen würden. So sah es mein genial ausgetüftelter Plan vor. Doch der plan folgte nicht meiner Intension und weigerte sich beharrlich aufzugehen. Es war eine ungeheuerliche Provokation, die ich sanktionierte und spontan verwarf. Strafe muss eben sein. Planlos ging ich durch eine lange Allee, alleine, wo gerade eine Vogelseuche grassierte, denn von den Bäumen fielen Stare in Scharen vom Geäst. Und wäre ich nicht stinksauer gewesen, so hätten sie sicherlich mein Mitgefühl gehabt, doch wollte ich nicht riskieren, meine gute Stimmung zu verlieren.
Jeder ist sich eben selbst am nächsten. Ich schob die Schuld auf die Viren der Welt. Das gab mir Auftrieb. Etwas, was die Stare wohl nicht mehr erleben dürften, so tot wie sie waren. Ich ging die Allee weiter, meinem ziel entgegen und achtete sorgsam darauf, meine gefiederten Freunde nicht auch noch platt zutreten. Ihr plötzlicher Tod war schon erschreckend genug, da sollten sie wenigstens noch optisch etwas hermachen, damit vorbeilaufende Spaziergänger sich an ihnen erfreuen konnten. Ein Star lag neben dem anderen. Aus der Allee war ein Boulevard der Stars geworden. Unbeirrt watete ich durch ihr Blut, denn ungeachtet ihres schweren Schicksals, hatte ich ja eine Mission zu erfüllen. Einzig darauf lag mein Fokus. Aber ich versicherte ihnen, sie in meiner Rede zu erwähnen und ihnen so ein Denkmal zu errichten. Das sollte sie aufmuntern und ein Trost sein. Denn trotz meiner bekannt und deutlich sichtbaren Stinksaurigkeit, die ich mir bewahrt hatte, wollte ich meine Menschlichkeit mir bewahren.
Als ich das Areal des Volksparks erreicht hatte, sah ich zufrieden, wie viele Menschen sich bereits versammelt hatten, einzig zu dem Zwecke, meinen Visionen für die Welt, zu lauschen. Ohne das ich jemandem davon berichtete, hatte es sich herumgesprochen wie ein Lauffeuer, da kommt einer, der verkündet Großes. Das setzte mich natürlich massiv unter Druck, doch ich war gewillt, diesem enormen Druck standzuhalten. Das war ich ihnen und ganz besonders mir schuldig. Denn ich wusste, nur so würde ich wieder zu einer Stimmung finden, die mir die Säuerlichkeit aus dem Gesicht zaubert. Und dann könnte ich endlich wieder Duschen, was reinigend für Geist und Körper sein würde.
Herumtollende Kinder, die ihre Stimmbänder einem Belastungstest unterzogen. Ein gesellschaftsrelevantes Thema was ich bislang nicht auf dem Schirm hatte. Dazu dann noch die entsprechenden Frauenquasselgruppen der Mütter, die ihre Kinder unbeaufsichtigt herumlaufen. Väter, die unmotiviert gezwungenermaßen Kinderwagen durch die Gegend schieben und sich mit ihrem Smartphone beschäftigen, statt ihren Kinderwageninhalt auf den ernst des Lebens vorzubereiten. Die ganzen Parkbankbesetzer, die sowohl geistig als auch an Jahren ihren Zenit längst überschritten haben und nicht bereit zu dem letzten Schritt sind und mit ihrer Armada an Rollatoren die Gehwege versperren. Dabei sich rücksichtslos gegen ein Tempolimit stellen. E-Scooter, die Jagd auf Fußgänger machen, die ahnungslos sich zur Seite springend in Sicherheit bringen. Eine Gruppe lautstarker literarisch versierter Alkoholiker, die sich bei Fünfliterflaschen des kostengünstigen fuseligen Lambrusco gegenseitig Proust und Shakespeare rezitieren und zwischendurch Brecht alle Ehre machten. Insgesamt ein unkontrolliertes und unkoordiniertes Gewusel, in das dringend Ordnung gehörte. Doch von Ordnungsbehörden weit und breit nichts zu sehen. Für mich genau der Ort und die passenden Menschen, den es ins Gewissen zu reden, meine drängendste Aufgabe war. Von dem am Horizont herannahenden Sturmtief, was sich anschlich, ließ ich mich nicht ins Bockshorn jagen. Donner und Blitzen, peitschende Sturzfluten und Orkanböen, konnten mich nicht zurückschrecken. Wetter war noch nie eine Kategorie, in der ich gedacht habe.
Inmitten einer grünen Wiese, die gekennzeichnet war mit dem unverbindlichen Hinweis: Betreten Verboten, was mir die Meute etwas von Hals hielt, stellte ich meine Weinkiste auf. Ich bestieg sie, so selbstsicher wie es der Hahn bei der Henne zu pflegen sein Vorsatz ist, und erhob, aufmerksam-erheischend, meine Stimmgewalt.
„Ihr Völker der Welt! Höret, was ich euch zu verkünden habe.“
Die Aufforderung war klar und unmissverständlich. Doch blieb mein Ruf ungehört.
„Unerhört.“, dachte ich und gab die Schuld der schlechten Akustik.
„Du musst mehr Stimme geben. Hier scheint der Treffpunkt von Schwerhörigen zu sein.“, sprach ich mir Mut zu, denn die Verzweiflung suchte bereits mich anheim zu suchen und sicherlich auch finden, wenn ich nicht mich wehre.
„Weiche! Weiche von mir!“, schrie ich sie an und erschrocken wich sie zurück.
„Betreten verboten! Kannst du nicht lesen.“, warf ich ihr einen eindeutigen Gesetzesbruch vor, bis sie schließlich ganz aufgab und sich schmollend in eine Ecke verzog.
Erneut erhob ich mich nun abermals die Stimme und schrie mir die Lunge aus dem Hals, wenn auch nur bildlich.
„Herbei, herbei.“, versuchte ich es, inhaltlich spannend gestaltet.
Und tatsächlich, es bewegte sich was auf mich zu.
Der erste Mensch, der meine Einladung annahm, schlich rollatorgestützt auf mich zu.
Und sofort fiel mir ein Zitat ein, was irgendwo, irgendjemand, jemand anderem gesagt haben muss, sonst wäre es ja nicht überliefert.
„Wer nur einen Menschen rettet, der rettet die ganze Welt.“
Noch nie traf ein Zitat so sehr, wie jetzt, da die Welt am Abgrund stand, jedenfalls die meine.
„Greiser weiser alter Mann.“, schrie ich ihm entgegen, denn er hatte vorschriftsmäßig an der Grasnarbe abgebremst.
Der illegitime Bruder Methusalems artikulierte mit seinen Händen unverständliches Zeug. Offensichtlich geschlagen mit einer Fremdsprache, die in unseren Breitengraden auf Unverständnis trifft.
Ich hielt ihn an, Lauter und Deutlicher zu sprechen. Er bewegte daraufhin den Mund deutlich, doch heraus kam nichts, wohl weil er den Lautsprecherregelknopf nicht am Anschlag hatte. Mehrfach wies ich ihn darauf hin, doch in seiner Verbohrtheit reagierte er nicht. Schließlich sah ich nur noch einen Weg. Ich ging zu dem Alten hin.
„Danke das Sie mir zuhören wollen.“, schrie ich ihm ins Ohr.
„Sie müssen nicht schreien. Ich höre ja noch gut.“, behauptete der offensichtlich demente Greis.
„Das denken Sie nur. Aber ich hörte das Gegenteil.“
„Wie?“
„Da haben wir doch den glasklaren Beweis ihrer Schwerhörigkeit.“, sagte ich nicht ohne Stolz.
Getroffen von so viel ehrlicher Anteilnahme, wurde der Alte plötzlich sauer.
„Da ist Betreten verboten!“, maulte er, „das wollte ich Ihnen nur sagen.“, und zeigte auf die Wiese mit dem Schild.
„Wer sind Sie denn, dass sie mir Vorschriften machen. Ich bin ausnahmsweise ausgenommen von dieser Kannbestimmung, den ich bin im Dienste der Menschheit hier und habe der Welt etwas mitzuteilen.“
Der Alte sah mich sprachlos an, dann nickte er verständnisvoll, drehte sich um und fuhr langsam zurück auf seine Parkbank.
Doch nicht mit mir. Ich lief vor und stellte mich ihm demonstrativ in den Weg. Ehe es jedoch zu einem folgenschweren Auffahrunfall kommen konnte, hielt der Rollator an.
„Wegelagerer.“, empörte sich der Abgebremste.
Sofort meldete sich eine ganze Reihe von Banksitzenden Greisen und sprangen ihm inhaltlich zur Seite. Körperlich waren sie dazu nicht mehr imstande. Ich versuchte den Angriff, den sie mit Worten führten, die kaum altersgerecht waren, meinerseits abzuwehren. Ich wehrte mich, so gut ich konnte, ohne meine Stimme zu sehr zu beanspruchen, denn die brauchte ich noch für meine weltweite Beschwerderede an die Welt. Schließlich, nach harten Verhandlungen, konnten wir uns auf einen Vergleich einigen.
Dieser sah vor, sie stellten die Vorwürfe der Altersdiskriminierung gegen mich ein und ich verpflichtete mich, jedem bei dem Kiosk um die Ecke, einen Flutschfinger zu kaufen.
Zum Glück hatte der Kioskbesitzer noch Sechsunddreißig Flutschfinger, für jeden einen. Als Zugabe lud ich sie ein, am Rand der Rasenfläche meiner rede zu lauschen. Dem stimmten sie zu und so folgten mir die ersten Jünger. Es waren wohl die ältesten Jünger der Welt, die je einem Messias gefolgt sind und das auch nur im Schritttempo. Nun galt es noch die anderen Gruppierungen für mich zu gewinnen. Der Kiosk bot dafür reichlich Lockmittel, die, wenn ich vorher etwas geahnt hätte, in jedem Discounter für ein Drittel des Preises zu bekommen gewesen wäre. So brachte ich meine Kreditkarte zum Glühen und an den Rand der Belastung. Die Mütter bekamen kleine Proseccodosen, die Kinder eine Großpackung Gummibärchen und die singenden und randalierenden Alkoholiker ohne festen Wohnsitz, die Zeitschrift: schöner Wohnen. Das sollte ihnen Auftrieb geben und eine Perspektive aufzeigen. Unverhofft gesellten sich auch noch zwei Repräsentanten des städtischen Grünamtes dazu, die ich erst einmal von der Notwendigkeit überzeugen musste, den Rasen für meine Zwecke zu betreten, was nach ihrer Ansicht untersagt sei, mit Verweis auf das Hinweisschild.
Ich konnte ihnen jedoch glaubhaft versichern, dem Lesen nicht so zugetan zu sein und an einer chronischen Leseschwäche zu leiden. Sie forderten mich jedoch zu einer Leseprüfung auf und nur mühsam konnte ich die beiden Worte entziffern. Jeder einzelne Buchstabe wurde, als er erkannt war. Laut ausgesprochen und als ich alle Wörter eines Wortes zusammen hatte, setzte ich sie noch in der Reihenfolge ihres Auftretens zusammen. Das zweite Wort erließen sie mir gnädig, weil sie inzwischen bereits zeitlich außer Dienst waren. Gegen eine Zuweisung von einer Flasche Bier für jeden, waren sie jedoch bereit, in ihrer Freizeit mir zu lauschen, denn ich versprach ihnen eine große Rede. Vorab erläuterte ich noch rasch, dass es sich bei meiner Rede um einen Spontanvortrag handelt, nicht wie die vorgeschriebenen und schlecht vorgetragenen Reden im Bundestag, die nicht einmal selbst geschrieben sind und nur selten nachhaltig sind. Geschweige denn unterhaltsam. Nur wenigen Politikern gelingt ja das Kunststück, rhetorisch so geschickt zu sprechen, dass niemand merkt, dass sie eigentlich nichts sagen. Und das, was sie nicht sagen, muss vorher innerparteilich abgeklärt sein, ob es auch auf Linie der Fraktion ist.
Ich erklomm, nachdem alle Zuschauer versammelt waren, die mitgebrachte Weinkiste und machte, so wie es jeder Profi auch tut, zunächst einen Soundcheck.
„Eins – Zwei - Drei – Sieben - Fünf“, rief ich aus dem Rasenstück in die Menge.
Der geräuschvolle Applaus der Versammelten, gab mir die Gewissheit, ich wurde verstanden. Zunächst nur akustisch, da ich mir die brisanten Inhalte noch aufsparte.
Gerade als ich ansetzen wollte, hielt einer der Senioren, mithilfe eines Kollegen, seinen Arm in die Höhe. Ich verstand es als deutliches Symbol, hier wollte jemand eine Frage stellen. Das hatte ich zwar nicht vorgesehen, weil es nur unnötig den Fluss aus meiner Rede nehmen würde, doch da ich noch nicht begonnen hatte, ließ ich die Frage ausnahmsweise zu. Zumal der Fragesteller in fortgeschrittenem Alter war und es war nicht auszuschließen, dass er nach der Veranstaltung, wo ich für Fragen zur Verfügung stehen wollte, vielleicht nicht mehr konnte, wegen persönlichen Ablebens.
„Der Greis mit dem ausgestreckten Arm möchte was sagen?“
„Ja.“, erklärte der Senior unter den Senioren.
„Nun was gibt es denn?“
„Ich bin pensionierter Mathematiklehrer und mir scheint, falls sich da nichts inzwischen geändert hat, ist in der Aufzählung der Zahlen vorhin, die Reihenfolge nicht eingehalten worden. Nach Drei kam früher die Vier, statt der Sieben. Und die Fünf, nach der Sieben, gibt auch wenig Sinn.“
„Lehrer.“, dachte ich nur, „nicht mal pensioniert geben sie Ruhe.“
Eine Mutter meldete sich nun auch zu Wort und sprang dem Lehrer bei.
„Ich habe vier Kinder. Und ich kann mit Gewissheit sagen, jedenfalls bis zur Vier, dass nach Drei die Sieben unmöglich sein kann, denn dann wäre mein bislang letztes Kind ja die Sieben und dann würden mir ja drei Kinder fehlen. Und ich zähle jeden Abend durch.“
Unruhe wurde laut. Plötzlich schien jeder eine Meinung zu der Zahlenreihenfolge zu haben. Dies nötigte mich dazu, meine Reihenfolge zu erklären, auch um die Mutter zu beruhigen, wegen der drei fehlenden Kinder.
„Ihr Lieben“, begann ich, „ich darf euch doch Ihr nennen. Bewusst habe ich die ungewöhnliche Reihenfolge gewählt, um zu sehen, ob mein Publikum auch aufmerksam ist. Alle haben den Test mit Auszeichnung gewonnen und ich darf alle dazu beglückwünschen.“
Die Jüngerinnen zeigten sich mehr als zufrieden mit meiner Erklärung. Es gab ihnen auch zudem die Sicherheit, sie waren bei mir gut aufgehoben und konnten Vertrauen in das von mir Gesprochene haben. Wenn ich spreche, dann gebe ich damit ein Versprechen ab. Jedes Wort hat einen Wert. Jeder Satz eine Offenbarung, eine Bewusstseinserweiterung, ein zukünftig zitierbares Premiumzitat.
Schwafeln sollen andere. Meine Sätze haben Substanz. Sie sind ein rhetorisches Substrat. Ein philologischer Hochgenuss. Geistige Haute Cuisine.
Nachdem keine weiteren Fragen auftraten, trat ich an, die bereits angekündigte Rede zu halten, auf die ich nun auch selbst neugierig war, denn ich kannte sie ja auch noch nicht. Ich liebe dieses Spannungsfeld zwischen dem was ich sage und ob es auch meine Meinung dann widerspiegelt. Natürlich lauf ich dabei jederzeit Gefahr, in einen Dissens mit mir zu geraten, der nur schwer aufzulösen ist, wegen meiner angeborenen Dickköpfigkeit, gepaart mit der mütterlichen mitgegebenen Sturheit. Doch das ist ein persönliches Problem, was ich nur mit mir ausmachen kann, selbst wenn es zu einer Kränkung kommen kann. Ich bin zwar einerseits sehr kritisch mit mir, aber leider nicht kritikfähig. Mit diesem Schizophrenen Ich müssen wir klarkommen.
Jetzt stand ich also auf der tragfähigen Weinkiste und sah in die stetig anwachsende Menschenmenge. Von überall kamen Menschen herbei, so wie Menschen eben so sind. Wo bereits Menschen sind, gesellen sich immer neue dazu, nur um zu sehen, warum hier so viele Menschen versammelt sind. Das liegt in der Natur des Menschen begründet. Ähnlich verhält es sich mit den Staus auf der Autobahn. Einer fängt an und bald ist der Stau kilometerlang. Der Mensch denkt eben immer, es gäbe etwas umsonst. Erst hinterher, oft erst nach Stunden begreifen sie, es war völlig umsonst.
Wie ein Lauffeuer sprach es sich herum, da ist einer, der uns etwas zu sagen hat. Hungrige Ehemänner, die von ihrer Schicht kamen, fanden nur einen Zettel vor, wo die jeweiligen Hausfrauen ihren Ausstand erklärten.
„Bin mit den Kindern im Volkspark. Er spricht zu uns.“
Selbst bettlägerige Endlebende wurde herangerollt, von unermüdlichen Pflegekräften, die sich das Spektakel nicht entgehen lassen wollten. Einsatzkräfte der Polizei sicherten das Gelände ab. Eine ganze Stadt war auf den Beinen. TV-Anstalten schickten ihre besten Leute, die sonst nur von weltpolitisch relevanten Themen live ins Studio geschaltet wurden. Fahrende Händler schlugen ihre Zelte auf, wo überteuerte Ware feilgeboten wurde. Der Kioskbesitzer beobachtete die Entwicklung mir Argusaugen, hatte er doch bislang das Monopol vor Ort. Nun sah er sich gezwungen mit Preisrabatten zu operieren, da die Konkurrenz mit Dumpingpreisen dabei war, ihm einen heißen Kampf zu liefern. Ortsbekannte kleinkriminelle Drogendealer, meist aus gutem hause kommend, wurden langsam nervös, denn dort wo sie bislang unbehelligt ihr Koks anboten, standen nun Schwenkgrills, Dixitoilettenn und ein improvisierter Kinderhort, der eilig aus dem Boden gestampft worden war. Längst uferte die kleine feine Veranstaltung aus. Ich stand, wie ein Fels in der Brandung, auf meiner Kiste und wartete ab. Jetzt übereilt und völlig verfrüht zu beginnen, wäre den Nachzüglern, die erst jetzt von meiner, weltweit beachteten rede Kenntnis erlangt haben und noch auf dem Weg sind. Denn eines war mal sicher, wer den Anfang nicht mitbekommt, der weiß das furiose Finale nicht in seiner Gänze zu schätzen.
Und so stand ich da, die Weinkiste unter mir, die nur wenig Bewegungsspielraum bot.
Währenddessen das Warten nicht ungenutzt blieb, hielt der Oberbürgermeister eine kleine Begrüßung und blickte voller Neid auf den Luxus meiner Weinkiste, die einem etwas Erhabenes verleiht.
Endlich kam die erlösende Nachricht seitens der Ordnungsbehörden, der Park war nun gesperrt wegen Überfüllung. Damit es jedoch nicht zu Tumulten oder offener Rebellion oder gar zu einem Putsch kommen konnte, gab es auf mehreren Plätzen der Stadt Public Viewing, um die Gemüter zu beruhigen, denen sonst das Event vorenthalten blieb, was sie als einen direkten Angriff auf die Demokratie verstanden hätten.
Dankenswerterweise hatte mittlerweile eine technikaffine Firma mich mit einem Headset verkabelt, zur Schonung meiner Stimme. Die Befürchtung eines Verlustes meiner Stimme, mitten in meiner Rede, hätte sonst ungeahnte Folgen, wie mir die Fachleute für Akustik, sowie ein HNO Arzt mich versicherten. Vorbeugend hatte der Arzt mich an ein EKG angeschlossen und minütlich wurden ihm auch meine Blutdruckwerte übermittelt.
Die „Drecksäcke“, eine stadtbekannt verschriene Coverband spielte alte Heino Songs, die der Veranstaltung einen stimmungsvollen Einstieg geben sollten. Leider hatte ich mit dem Tagesdatum ein unglückliches Händchen bewiesen, denn gerade heute. An Karfreitag herrscht ein staatlich verordnetes Tanzverbot, was strikt eingehalten werden musste, worauf zwei konfessionsübergreifende Mönche und eine Mönch-in streng achteten und schon beim ersten Fuß wippen, der Vorstufe zum zügellosen und ekstatischen Herumzappeln, mit dem Fegefeuer drohten.
Eine sonst im Untergrund agierende Pogogruppe, bestehend aus zwei Extremisten wurde des Platzes verwiesen, wegen des Verdachts der Volksaufwiegelung. Ein sexuell aufgeladenes Pärchen wurde freundlich gebeten, ihre Aktivitäten hinter einen blickdichten Buchsbaumbusch zu verlegen, falls sie es bei ihrem Vorhaben auf eine provokante öffentliche Form der Anstößigkeit gelegt haben sollten. Dies wurde nicht geduldet, da es mich nachhaltig in der Konzentration hätte stören können. Nichts wurde dem Zufall überlassen, denn Worte, die ungehört werden, sind Worte die ihre Sprengkraft verlieren, wie ein Oberstudienrat anmerkte, der mit seinem Deutsch LK anwesend war.
Inzwischen waren Scheinwerfer auf mich eingerichtet worden, die mich ins rechte Licht setzen sollten. Seitens des Staatstheaters wurde eine freundliche Leihgabe herbeigeschafft. Eine übergroße bemalte Leinwand, die zuvor die Hauptdekoration bei der Oper Wildschütz zum Einsatz kam. Direkt hinter mir wurde sie zwischen zwei entgegenkommenden alten Eichen aufgespannt.
Nun stand ich inmitten einer waldreichen Naturkulisse.
Ein beeindruckendes Bergpanorama, in deren Mitte sich ein gewaltiger Hirsch, Maul aufreißend sich zu einem lautstarken Röhren anschickte. Der offenbar auf der Brunft befindliche Hirsch, war naturgetreu gemalt von Künstlerhand.
Mit Einbruch der Dunkelheit, was im Übrigen an jenem denkwürdigen Tag der einzige war, wie die Statistik belegt, kein weiterer Einbruch vermeldet wurde, konnte ich mich endlich an das Volk wenden, denn in der Menge kamen bereits erste Gerüchte auf, ich hätte vielleicht gar nichts zu sagen, weshalb ich meine Rede so lange herauszögern würde, bis alle so sehr ermüdet seien, um mir noch geistig folgen zu können. Diesen Eindruck galt es, entschlossen entgegenzutreten, denn hier strebte eine militante „Gegen alles Gruppierung“ offenen Widerstand gegen meine Person und unternahm den verwerflichen Versuch eines Rufmordes. Dieser Kampagne trat ich offensiv entgegen und ließ mich nun nicht mehr aufhalten.
„Ihr, die ihr gekommen seid, um mich zu hören!“, warf ich eine erste Brotkrume dem Volk vor und sie wurde dankbar von ihnen aufgenommen und verzehrt.
Der Einstieg war geglückt und in gestärkter Selbstsicherheit fuhr ich rücksichtslos fort. Nichts konnte mich jetzt noch aufhalten. Der Damm war gebrochen. Die Welt bereit, mir ihr Ohr zu leihen. Gleich mein zweiter Satz sollte alles Bisherige noch in den Schatten stellen.
„Ich bin heute zu euch gekommen, so wie ihr auch zu mir.“
Ein Satz, wie ein manifest. Das Volk raste vor Begeisterung. Ich hatte mit dem Satz auf ihr Herz gezielt und es geradezu durchbohrt. Minutenlang skandierten sie: „Weiter – weiter – Wir wollen mehr!“
Es war berauschend. Dann wurde ich sehr persönlich und erste Tränen liefen.
„Mein Name ist Ernst Wöllstein.“
„Hallo Ernst.“, schallte es mir aus Millionen Kehlen dankbar entgegen.
Ich warf meine Arme auseinander. Symbol dafür, sie alle in meine Arme aufzunehmen. Ein Gänsehautmoment für die Ewigkeit.
„Ich bin einer von euch!“
Nie zuvor hatte ein Redner so offen seine Seele bloßgelegt.
Ich spürte Zuneigung und Liebe. Es waren wohl gewählte Worte, die jedes Mörderherz erweicht hätten und sich die Todesspritze selbst gesetzt haben würden, wenn es ihnen gestattet wäre. Doch eine zu lasche Justiz lässt sie nicht gewähren. Ein himmelschreiender Skandal, den jeder anständige Mörder vollumfänglich zustimmen würde. Aber auf deren Wünsche und Befindlichkeiten wird in unserer Gesellschaft keinerlei Rücksicht genommen.
„Ich bin nur ein Mensch. Ein Nichts. Ein Unbekannter.“
Jedes Wort ein Peitschenknall, mitten hinein in ein Volk von Gleichgesinnten.
Erste, besonders sensible Zeitgenossen und wer könnte es ihnen verdenken, gönnten sich eine Ohnmacht. Sie wurden geräuschlos, um nicht zu stören, seitens des Katastrophenschutzes abtransportiert. Einige, die es übertrieben, sofort entsorgt. Für sie waren meine dramatischen Einlassungen einfach zu viel. Ihr Herz setzte aus, was man ihm nicht zum Vorwurf machen sollte. Denn es ist seine Aufgabe, einmal definitiv auszusetzen. Ja es ist sogar seine Bestimmung. Das Herz ist ein Mörder, das in uns lebt und es ist launisch.
„Ich bin und ich scheue mich nicht, dies öffentlich zu sagen, ein Schriftsteller.“
Ein Raunen ging durch die Menge, denn mit dieser Wendung hatten wohl nur die Wenigsten gerechnet. Mit dieser schonungslosen Offenheit hatten sie wohl nicht gerechnet. Einige weinten ungehemmt, andere nahmen sie tröstend in ihre Arme. Manche, die sich zuvor nicht kannten, gelobten sich sogar ewige Liebe. Andere, weniger Zurückhaltende, setzten dies sofort in die Tat um und suchten nach noch freien Büschen, um es sich gegenseitig zu zeigen.
So sehr ich es mir auch gewünscht hätte, ein Teil davon zu sein, musste ich das begonnene nun weiterführen und letztlich zu einem versöhnlichen Ende bringen. Mir blieb lediglich die Hoffnung, später backstage auf einige willige Groupies in die Hände zu fallen, die dann tun, was ihrer vordringlichen Lebensberechtigung entspricht. Mich zu lieben, mir zu dienen und mich von Höhepunkt zu Höhepunkt zu katapultieren. Es wäre der Lohn für meine Mühen. Mehr brauche ich nicht. Denn Bescheidenheit ist mein zweiter Name. Doch noch war es nicht so weit, sich den verdienten Früchten der Arbeit hinzugeben. Zuvor galt es nun meine Message, mein Anliegen, meine Mission unter das Volk zu bringen. In deren Mittelpunkt nur ein Wort stand, was unlöschbar mit mir verbunden war. Das kleine feine Wort: Ich. Denn ich war in eigener Mission unterwegs. Denn nur über den der mir am nächsten steht, kann so vorurteilsfrei und grundehrlich sprechen, weil er mir so sehr am Herzen liegt. Nun wollte ich erreichen, dass die Gefühle, die ich mir entgegenbringe, überspringt auf die ganze Weltbevölkerung, denn nur so konnte ich aus einer persönlichen Krise heraustreten und die Welt neu entdecken. Und so begann ich, diese unsichtbaren Gedanken und Wünsche sichtbar zu machen, durch die Kraft des mir verliehenen Wortes.
Mit der provokanten Frage: „Wer von euch kennt mich?“, begann ich meinen Feldzug.
Lautes Schweigen war eine Reaktion, die ich nicht anders erwartet hatte und es zeigte schonungslos, eine offene Wunde in der Gesellschaft auf, die ich, wie mit Bepanthen, zu schließen hoffte. Mit den dazu passenden salbungsvollen Worten, zog ich nun die Bilanz meines Lebens. Dem Wunsche, der Dunkelheit des Unbekannten zu entfliehen und im Licht der Öffentlichkeit fortan zu existieren. Dies war mein oberstes Ziel, meine Maxime, meine Minimalforderung. Dies galt es nun schonungslos offenzulegen.
Ich gönnte mir einen Blick in die vor freudigen Gesichter, die mich erwartungsvoll ansahen. Ihre glänzende feuchten Augen lächelten mir zu. Das gab mir die nötige kraft und das Selbstvertrauen die ungeschönten Wahrheiten auszusprechen, waren sie auch noch so schmerzhaft für mich. Diesen tief sitzenden Schmerz wollte ich nun an sie weitergeben, denn wenn er auf mehreren Schultern lastet, ist es für den Einzelnen leichter erträglich. Ich breitete meine Arme aus und sofort flogen zwei weiße Tauben des Friedens herbei und setzten sich, als wäre es Teil einer kitschigen Theaterinszenierung, auf meine Oberarme und putzten sorgsam ihr Gefieder. Wenn das mal kein himmlischer Wink mit dem Zaunpfahl war. Diese süßen turtel affinen Tauben, frei von Angst und nicht geruchsempfindlich, sahen meine ausgebreiteten Arme an, als der sichere Hafen der ihnen Zuflucht bietet vor Fressfeinden, Giftködern oder marodierenden Jagdhunden, die gerne Erschrecken spielen möchten.
Hinter mir der röhrende Hirsch, gemalt von einem Maler und vor mir lag die ganze Welt mir, bildlich gesprochen, vor den Füßen. Eine Welt, wo das Individuum nichts zählt. Eine Welt, wo jeder nur auf sich und seinen Erfolg zielt. Eine Welt voller Missgunst und Niedertracht. Eine Welt, die sich wissentlich selbst zu zerstören dabei ist. Eine Welt, die nicht die Kraft aufbringt, sich selbst zu disziplinieren, um ihren Fortbestand so zu erhalten. Eine Welt, in der Arm und reich es sich leisten können, beim Edelitaliener am gleichen Tisch zu sitzen. Eine Welt, wo innerer Reichtum mehr gilt, als äußerlicher Schein. All dies zu ändern, nur mit einer einzigen Rede, darum war ich angetreten, um die Menschen wieder auf den rechten Weg zu führen. Es soll kein links und kein rechts mehr geben, nur noch ein Gemeinsames geradeaus. So Herkules die Aufgabe auch sei, wer wenn nicht ich, kann die Wende zum Guten bringen.
Mit wachen Augen und gesundem Geist, holte ich ein vorläufig letztes mal tief Atemluft und fuhr fort, dort an der Stelle, wo ich mich ihnen begann anzuvertrauen.
„Hier stehe ich, weil ich nicht anders kann.“
Das Rasen des Publikums zwang mich dazu, innezuhalten. Ironie der Geschichte. Sie rasen vor dem Rasen und ich, der ich den heiligen rasen betreten hatte, sah nun betreten zur Seite. So sehr ergriff es mich und dann ergriff ich erneut das Wort.
„Völker dieser Welt, hört die Signale!“
Ich war mächtig stolz auf diesen Beginn, der mir spontan zugeflogen kam. Und er wirkte zudem, denn das Volk hörte.
„Ich bin ein Mensch, wie so viele von euch auch. Und in dieser Eigenschaft will, muss und werde ich euch etwas anvertrauen. Die Welt kotzt mich an!“
Das saß. Ich konnte es an den versteinernden Gesichtern ansehen, die betreten und betroffen zu Boden sahen, weil ich sie ertappt hatte, an der Wurzel ihres Übels. Diese Wurzel war es, die es auszureißen galt und dort stattdessen Gänseblümchen einzupflanzen.
„Mein Leben“, so fuhr ich in unverminderter Härte weiter, „ist gewidmet der hehren Kunst. Ich lebe für, aber nicht von der Kunst. Und die Schuld dafür lade ich hier bei euch ab. Meine Finger sind müde und erschöpft vom vielen Schreiben, zu denen ich sie unermüdlich antreibe. Ja ich gestehe freimütig, sie sind die Sklaven meiner Gedanken, denen sie unterwürfig zu gehorchen haben. Flink und hastig laufen sie über die Tastatur. Jede unachtsame falsche Fingerbewegung und auslösen einer taste, kann zu einem Fiasko führen, was von mir dann sofort geahndet und korrigiert wird. Es ist Pein und Mühsal zugleich, die jedoch entschädigt wird, durch die dankbaren und lächelnden Gesichter meiner Leserschaft, die begierig auf immer Neues von mir ungeduldig wartet. Und genau an der Stelle kommt die himmelschreiende Ungerechtigkeit an den Tag, die mich zu einem traurigen Wesen der menschlichen Gesellschaft macht. ICH HABE KEINE LESERSCHAFT! Keine Sau interessiert sich für mein Geschreibsel. Ich leide, ich verzweifle, ich hungere ... und all dies für die Kunst. Ja muss ich mir denn erst ein Ohr abschneiden, damit ich gelesen werde? Ich bin Brillenträger und dann würde der zweite Bügel keine Halterung für sich vorfinden. Wie sehe ich denn dann aus? Wie ein Depp, wenn die Brille mir nur halbseitig befestigt in der Fresse hängt. Wollt ihr das?“
Jetzt war ich aber so richtig in Fahrt. Es war eine Publikumsbeschimpfung, die ein gewisser Herr Handke nicht hätte schlechter schreiben können. Der wurde damit berühmt und ich, der stets freundlich mit seinen Lesern umgeht, der bleibt ungelesen. Eine himmelschreiende Ungerechtigkeit, die nun ein Ventil gefunden hatte, durch die Worte, die ungefiltert meinen Mund verließen und wie Pfeile trafen, als ob die Sioux auf dem Kriegspfad wären.
„Hört zu ihr Ignoranten. Für wen schreib ich denn die ganze Scheiße? Doch nur für euch. Dann lest das auch gefälligst. Weil ihr lieber Netflix schaut, kann ich verhungern. Ich bin der Einzige und das sage ich voller Stolz, der sein eigenes Werk liest. Und das mit zunehmend großer Freude. Ich habe so viel zu geben. Ihr wisst nichts von mir, weil ihr mich nicht lest. Tut es, denn die Bank sitzt mir bereits im Nacken. Gerichtsvollzieher lauern mir bereits auf und zwingen mich ständig zu schwören an Eides statt, statt mich zu lesen und zu verstehen. Wer behauptet denn immer so tolerant, so weltoffen, so intelligent zu sein? Das seit doch ihr. Oh ihr wollt ja so klug sein. Wie könnt ihr denn so intelligent sein, wenn ihr mich nicht lest? Da hat euer Wissen aber mächtig viele Lücken. Und diese Lücken bestehen genau aus meinen Büchern. Ich schreibe doch nur für euch und tue es gerne und nichts anderes. Und ich will doch nichts anderes, als das ihr diese Liebe erwidert. Kauf also meine Bücher. Wenigstens kaufen. Lesen müsst ihr sie ja nicht. Denn auch von nicht gelesenen Büchern kann ich leben. Von nicht Gekauften ist das unmöglich. Seht in das ausgemergelte Gesicht eines Poeten, der vor euch steht und sich selbst demütigt. Ja es ist eine Verzweiflungstat. Und ich stehe dazu.“
Und um die Selbstdemütigung auf die Spitze zu treiben, warf ich mich weinend auf den Rasen und biss verzweifelt ins Gras. Mehr konnte ich meinem Publikum nicht bieten. Ich hatte mich bildlich gesprochen, ihnen zum Fraß vorgeworfen. Mein Schicksal legte ich so in unterwürfiger Pose in ihre bewährten Hände. Und was tat der undankbare Pöbel? Statt mich wieder aufzurichten und auf Händen zu tragen, verpisst es sich. Es wäre niederschmetternd gewesen, läge ich nicht ohnehin schon am Boden.
„Geht nur. Lasst mich doch allein!“, schrie ich ihnen nach.
Das war jedoch überflüssig, taten sie es ja bereits ohne meine explizite Aufforderung.
Wenig später, ich lag noch auf dem Rasen, der röhrende Hirsch längst eingerollt und einen Strafzettel in der Hand, wegen unberechtigten Betretens des städtischen Grüns sah ich die Welt mit denselben Augen wie vor meiner Rede. Die Welt hatte meine Beschwerde brüsk zurückgewiesen.
Nun sitze ich zuhause und blicke in die unendliche leere meines Kühlschranks und verfasse diese Zeilen, mit wenig Hoffnung im gebrochenen Herzen, diese Schmähschrift trifft auf die Augen und Ohren eines Lesers oder einer Leserin. Sollte dennoch, aus unerfindlichen Gründen jemand es in die Finger bekommen und inhalieren, so hätte ich eine bescheidene Bitte. Könnten Sie mir vielleicht eine Nachricht zukommen lassen. Ich übernehme auch das Porto. Bitte verzichten sie jedoch auf eine Bewertung. Es genügt mir schon, zu wissen, jemand hat es gelesen. Diesen letzten und einzigen Wunsch möge mir erfüllt werden. Wenn mir dieses Wunder widerfährt, lege ich mich nieder und kann glücklich meine Augen für immer schließen. Ein Poet sagt Dankeschön und auf Wiedersehen in einer anderen, einer besseren Welt, wo ich, aus Erfahrung hinzugelernt, sicher einen anderen Beruf ergreifen werde. Vielleicht male ich oder komponiere ein Menuett. In jedem Fall werde ich etwas Bleibendes für die Menschheit erschaffen. Ich jedenfalls, werde mich nie vergessen und mein Werk im Herzen tragen.
Aber immerhin kann ich dem Schicksal, was mich ereilt hat, auch etwas Positives abgewinnen. Unerkannt und unbekannt bin ich nun nicht gezwungen mich in irgendwelche unnützen Talkshows setzen zu müssen. Wenigstens ein Lichtstreif am wolkenverhangenen dunklen Horizont, die sich Zukunft nennt.
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