Wenn ich gefragt werde, wie wir unsere Tochter erziehen möchten, dann antworte ich zuerst, dass wir sie gar nicht erziehen. Wir begleiten sie durchs Leben und ziehen nicht an ihr.
Ansonsten aber mit viel „Liebe und Spuke“.
Und eigentlich ist diese Frage damit auch beantwortet. Eigentlich gibt es aber nicht und somit möchte ich ein paar Zeilen dazu schreiben.
In der Geburtsanzeige unserer Tochter stand der Text von Bettina Wegner aus dem Song „Kinder“.
Sind so kleine Hände, winzge Finger dran. Darf man nie drauf schlagen, die zerbrechen dann.
Sind so kleine Füße, mit so kleinen Zehn. Darf man nie drauf treten, könn sie sonst nicht gehn.
Sind so kleine Ohren, scharf, und ihr erlaubt. Darf man nie zerbrüllen, werden davon taub.
Sind so kleine Münder, sprechen alles aus.
Darf man nie verbieten, kommt sonst nichts mehr raus.
Sind so klare Augen, die noch alles sehn.
Darf man nie verbinden, könn sie nichts verstehn.
Sind so kleine Seelen, offen und ganz frei.
Darf man niemals quälen, gehn kaputt dabei.
Ist son kleines Rückrat, sieht man fast noch nicht.
Darf man niemals beugen, weil es sonst zerbricht.
Grade, klare Menschen, wärn ein schönes Ziel.
Leute ohne Rückrat, hab’n wir schon zuviel.
Als Leitlinie, als Haltung, als tiefste Überzeugung haben wir das unserer Tochter zur Geburt versprochen.
Das mal so als große Überschrift.
Seit wir Eltern sind, begegnen wir im Alltag so vielen Überzeugungen, Haltungen und leider auch so vielen Dogmen, dass es manchmal schwer ist, in einem Satz zusammenzufassen, wie wir es denn tatsächlich im Alltag handhaben.
Ich respektiere jede Umsetzung und Überzeugung, selbst wenn ich es anders mache. Ich finde allerdings Dogmen problematisch, und das nicht nur in der Begleitung von Kindern. Ich korrigiere mich: es gibt Themen, da darf es keine zwei Meinungen geben. Gewalt an Kindern, zum Beispiel. Jegliche Form von körperlicher und psychischer Gewalt darf es nicht geben. Alles, was unter „Kindswohlgefährdung“ fällt, beurteile ich sogar sehr dogmatisch.
Bei so vielen Themen jedoch darf es unterschiedliche Meinungen, Haltungen und Umsetzungen geben. Und alle sind gut oder wenigstens gut gemeint und kommen oft aus einer tiefen Überzeugung (oder auch tiefen Verzweiflung) und die Wertung von außen steht uns einfach nicht zu.
Stillen oder nicht stillen – einzig und allein die Entscheidung der Person, die stillt. Wir kennen keine Hintergründe und es ist absolut übergriffig, dies von außen zu beurteilen. Meine eigene Stillgeschichte kann man im Blog nachlesen, ich freue mich für jedes Stillbaby, akzeptiere eine Abwertung für nichtstillende Mütter, und sei sie auch noch so scheinbar freundlich formuliert, nicht.
Wegwerfwindeln vs. Stoffwindeln, Windeln vs. Windelfrei, Gläschen vs. Selbstgekochtem Brei, Brei vs. BLW.
Oft erlebe ich, wie vor allem Mütter strikt eine bestimmte Linie verfolgen und dabei völlig unter Stress und Druck geraten. Ich verfolge – schon rein aus fachlichem Interesse – viele Diskussionen im Internet, sei es auf Twitter oder in Facebook – Gruppen oder sonstigen Foren. Da werden oft die eigenen Überzeugungen als Religion dargestellt, bestimmte Richtungen erlauben keine Abweichungen und Fehlverhalten wird schwer sanktioniert, indem direkt oder indirekt die Mutter (meistens sind es Mütter) öffentlich als schlechte Mutter vorgeführt wird.
Auch im privaten Umfeld erlebe ich diese Absolutheit öfters. Alles, was anders gemacht wird, ist erstmal falsch.
Babys sind so unterschiedlich. Babys haben so unterschiedliche Bedürfnisse. Eltern sind unterschiedlich. Lebenssituationen sind unterschiedlich, Einstellungen sind unterschiedlich. Was für eine Familie passt, kann für die andere Familie absolut unpassend sein. Oder einfach nicht durchführbar. Oder einfach so nicht gewollt.
Und selbst, wenn man sehr konsequent eine Linie verfolgt: manchmal darf es auch Abweichungen geben. Es schadet dem Kind in der Regel nicht und man selbst kommt nicht sofort in die Hölle.
Gerade das erste Babyjahr ist voller Herausforderungen und oft genug kommen wir an unsere Grenzen. Wir müssen uns nicht noch gegenseitig das Leben schwer machen. Oder sich selbst, weil man sich nicht traut, von seinen eigenen Dogmen abzuweichen.
Ich werbe für ein bisschen mehr Gelassenheit. Nehmt euch selbst den Druck heraus, geht nicht so hart mit euch ins Gericht, werdet flexibler.
Zurück zur Frage, wie wir das im Alltag handhaben. Unsere Tochter hat früh mit der Beikost begonnen, einfach weil sie das Interesse gezeigt hat und früh gerade am Mittag das Fläschchen abgelehnt hat. Aktuell ist sie 9 Monate alt und sie bekommt einen guten Mix aus Fläschchen (nach dem Aufwachen und manchmal zum Einschlafen), Brei (gekauft, alles was wir pürieren lehnt sie ab, so langsam verliert sie die Lust am Brei und möchte immer mehr bei uns mitessen) und Fingerfood. Sie isst gerade am Abend all das, was auch wir essen, von scharfen Essen abgesehen. Sie ist gesund, munter, gut genährt und ihrer Verdauung geht es wunderbar. Dieser Mix hat sich so ergeben. Ich habe ein Buch über BLW zuhause und es auch gelesen. Am Ende war es nicht unser Weg, mit unserem kombinierten Weg kommen wir alle wunderbar zu recht.
Ich wollte am Anfang mit Stoffwindeln wickeln, bin aber recht schnell bei Wegwerfwindeln gelandet und das ist okay für uns alle.
Ich benutze Feuchttücher und Waschlappen und auch das ist in Ordnung für uns.
Unsere Tochter darf sich schmutzig machen, wie achten lediglich am Ende eines Gartentages darauf, dass mehr Kind als Erde im Kind vorhanden ist. Wir waschen sowohl sie als auch ihre Spielsachen regelmäßig, baden aber niemals in Sagrotan.
Unsere Tochter darf die Welt entdecken und dabei bleibt es nicht aus, dass sie sich hin und wieder ihren Kopf stößt. Ich beschütze sie und fange sie auf, aber packe sie nicht in Watte.
Sie hat ihr eigenes Bett, das direkt an unserem anschließt und schläft, wo sie möchte – bei sich oder in unserem Bett. Und beides ist okay. Und irgendwann wird sie in ihrem Zimmer schlafen, wann das sein wird – wir werden sehen.
Wir begleiten unsere Tochter bindungs – und bedürfnisorientiert, weil es unserer Haltung entspricht und uns sehr wichtig ist. Ich mag nicht ausschließen, dass uns das in den nächsten Jahren nicht in jeder Situation gelingt. Ich hoffe es – aber ich bin kein pädagogisches Fachbuch. Wichtig sind die Reflektion und der Wille, es weiterhin so zu leben und ihre Begleitung durch uns so zu gestalten.
Unsere Tochter wächst nicht windelfrei auf, ist aber oft genug ohne Windel und wird uns irgendwann zeigen, wann der richtige Moment für sie ist, aufs Töpfchen oder auf die Toilette zu gehen. Da haben wir aber noch alle Zeit der Welt.
Wir praktizieren also einen guten Mix aus verschiedenen Richtungen, picken uns das für uns stimmige heraus und leben wunderbar damit. Oft zeigt uns auch unsere Tochter, was sie braucht und möchte und wir als Team – Tochter, Papa, Mama – lassen uns darauf ein.
Warum also nun dieser Artikel? Ich möchte jedes Elternteil dazu ermutigen, gelassener zu werden. Wenn unsere Kinder gesund, munter und entdeckungsfreudig sind, es ihnen sichtbar gut geht und sie mit offenen Augen die Welt entdecken, dann können wir so viel nicht falsch machen.
Sobald bestimmte Richtungen / Wege beginnen, stressig zu werden, enormen Druck verursachen und die Lockerheit nehmen, darf man diese jederzeit überdenken, anpassen, flexibel handhaben.
Das Leben ist rund und bunt. Unsere Kinder sind es auch. Das Leben und der Alltag verlangt oft so viel von einem ab, da sollten wir Eltern es uns nicht doppelt schwer machen. Und ja, es ist verdammt nochmal auch okay, wenn das Kind an einem Tag länger mit dem Handy spielt, eine oder zwei weitere Folgen der Lieblingsserie schaut oder das Abendessen von Mc Donald kommt.
Am Ende brauchen unsere Kinder entspannte Eltern, die sie durch die Welt begleiten. Eltern, denen es selbst gut geht. Das lässt sich nicht immer so einfach beeinflussen, das ist mir klar. Das Festhalten an Dogmen jedoch kann man recht schnell ändern, wenn man kurz durchatmet, sich aus vermeintlich starren Regularien löst und das tut, was einem selbst, dem Kind und der Familie guttut. Und wenn all das mit der Einhaltung / konsequenten Umsetzung eines bestimmten Weges passiert, dann ist das wunderbar. Wenn nicht, dann löst euch davon und sucht euren Weg. Manchmal liegt der richtige Weg auch einfach nur dazwischen.
Unsere Kinder zeigen uns schon, was sie brauchen. Begleiten wir sie mit offenen Augen durchs Leben.
Mit viel Liebe und Spucke eben.
In diesem Sinne.
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