Innenpolitische Krisen sind nichts Neues für die USA, aber seit 2009 kommen sie, danke der Blockadehaltung der Republicans und ihrer unverantwortlich-zerstörerischen Haltung, wesentlich häufiger vor. Nun hat Joe Biden, seit Januar der 46. Präsident des Landes, seine erste eigene Krise an der Hand. Die Zusammenhänge sind obstrus und von parlamentarischen Regeln und Gepflogenheiten bestimmt, die auf Außenstehende nur verwirrend wirken können. Noch mehr kompliziert wird die Lage dadurch, dass es sich genaugenommen um eine Polykrise handelt, in der mehrere kleine innenpolitische Konflikte hoffnungslos miteinander verflochten sind. Aber keine Bange, wir werden das komplexe Bündel hier entwirren.
Zuerst einmal müssen wir die drei Konflikte identifizieren, die sich hier verknotet haben.
Konflikt Nummer 1 ist ein alter Bekannter: die Erhöhung des debt limit, der Schuldenobergrenze. Bereits 2011 und 2013 versuchten die Republicans, Obama und den Democrats Konzessionen abzupressen, um nicht die amerikanische (und in Folge: globale) Wirtschaft zu ruinieren, was jedes Mal in harten Verhandlungen gerade noch so verhindert werden konnte. Ich habe seinerzeit beschrieben, worum es genau ging; wer also eine Auffrischung braucht, sei auf den Artikel von 2013 verloren, der immer noch gilt.
In aller Kürze: Allein wegen der Inflation müssen die USA in absoluten Zahlen immer höhere Schulden aufnehmen. Die seit 1917 im Gesetz stehende Obergrenze - das debt ceiling - wurde aber dummerweise in absoluten Zahlen definiert und wird deswegen jedes Jahr ritualhaft durch den Kongress erhöht - bis 2011, als Mitch McConnell in seinem Versuch, Obamas Präsidentschaft zu zerstören, diesen vorherigen Routineakt zum Anlass nahm, das ganze Land in Geiselhaft zu nehmen. Während die Democrats unter Trump jedes Mal für die Erhöhung stimmten, nutzt die GOP das Werkzeug dieses Jahr erneut, um einen demokratischen Präsidenten zu zerstören, dieses Mal Biden. Eine Forderung ist damit nicht verbunden, weswegen es auch keine echten Verhandlungen gibt. Es geht alleine um Obstruktion und Destruktion.
Konflikt Nummer 2 ist ein innerparteilicher unter den Democrats: Über die letzten Monate wurde zwischen den Parteien tatsächlich ein überparteilicher Kompromiss für ein Infrastrukturinvestitionspaket ausgehandelt, das zwar wesentlich zu klein, aber besser als nichts ist. Die (winzige) Fraktion der so genannten "Zentristen" im Kongress, verkörpert vor allem durch Joe Manchin und Kyrsten Sinema im Senat, möchte, dass über dieses Paket getrennt vom Haushaltsplan, der so genannten budget reconciliation, abgestimmt wird. Die überwiegende Mehrheit der Partei möchte das nicht.
Der Grund dafür ist Konflikt Nummer 3: Die gerade erwähnten Zentristen wollen den Haushaltsplan, der für die nächsten Jahre Ausgaben in Höhe von 3,5 Billionen Dollar vorsieht (aufs Jahr gerechnet etwa 350 Milliarden Dollar, was deutlich unter den nicht eben ambitionierten Obama-Maßnahmen von 2009/2010 liegt), um mehr als die Hälfte reduzieren. Damit ecken sie bei den anderen 48 Senator*innen der demokratischen Fraktion im Senat an, ebenso wie bei der Bevölkerung, wenn man den Meinungsumfragen glauben darf.
Während die Progressiven fordern, die Abstimmung über die budget reconciliation bill mit der über die infrastructure bill zu verknüpfen, wollen die Zentristen genau das Gegenteil - jedes Mal geht es Verhandlungsmacht, denn wenn die beiden Gesetze getrennt abgestimmt werden, gibt es nichts, was Manchin und Sinema zwingen würde, danach einen Kompromiss zu schließen - was natürlich beiden Seiten bewusst ist.
Abstimmungsreihenfolgen, Budgetpläne über einen 10-Jahres-Zeitraum und Obergrenzen in absoluten Zahlen sind Themen, die zwischen 95% und 99% der Bürger*innen des Landes vermutlich nicht interessieren oder wenigstens nicht verstanden werden. Stattdessen nutzt man griffigere Narrative. Diese sind uns grundsätzlich auch in Deutschland geläufig. Eine Schuldenobergrenze gilt meist als sinnvoll (auch wenn sie das nicht ist, vor allem nicht in der amerikanischen Form), und "Zentrist" gilt ebenfalls immer grundsätzlich als positiv.
Die Empiriere unterstreicht das und gibt der zerstörerischen Strategie Mitch McConnells Recht. Es gibt klare politische Anreize für die GOP, das Staatswesen zu gefährden, denn 4 von 5 Befragten gegen den Democrats die Schuld daran, dass die debt-ceiling-Krise besteht, obwohl es die republikanische Obstruktion ist, die sie künstlich schafft. Aber die Democrats kontrollieren das Weiße Haus, und wie auch Trump erfahren musste bekommt der Präsident alle Erfolge ebenso wie alle Misserfolge angerechnet, egal, wie viel er tatsächlich dafür kann.
Überhaupt, die Vorstellung, dass zwei Parteien einander gegenüberstehen ist reichlich irreführend. Tatsächlich sind es, wie Adam Toozes brillante Analyse der innenpolitischen Konfliktlinien zeigt, insgesamt sechs Fraktionen, die im Kongress um die Vorherrschaft ringen. Sie alle haben unterschiedliche Zielsetzungen, die oft genug mit der Sache wenig zu tun haben und dafür viel mehr mit Macht und Einfluss innerhalb des Kongresses.
Besonders bedeutend ist das bei den so genannten "Zentristen", die in Wirklichkeit sehr weit von der amerikanischen Mehrheitsmeinung entfernt sind; "Mitte" sind sie nur, weil sie zwischen der Mehrheit der Democrats und den Republicans stehen. Ihre Politik dagegen ist ebenso radikal wie unbeliebt. Diese Verbindungen werden aber weder in der Wählendenschaft noch bei den Medien gezogen, weswegen der Plan Manchins und Sinemas aufgeht. Verblüffender ist, dass völlig unklar ist, was diese "Zentristen" eigentlich wollen. Sie haben keine konkreten Begründungen für ihre Forderungen. Manchin und Sinema erklären, dass sie statt 3,5 Billionen nur 1,2 Billionen unterstützen können - warum das so ist, bleibt völlig unbegründet.
Es gibt auch keine gute Begründung dafür. Die Maßnahmen, die im Gesetzestext vorgesehen sind, sind nach übereinstimmender Ansicht der Expert*innen zu klein dimensioniert; das sinnlose Zusammenstreichen, das die "Zentristen" fordern, schiebt sie in den Bereich des Irrelevanten. Die Vorstellung, "Build Back Better" (so der Name des Programms) bezahlen können zu müssen ist Unfug, das hat die Republicans auch nie interessiert, deren Maßnahmen sowohl während Bush als auch Trump grundsätzlich riesige Löcher in den Staatshaushalt rissen. Bisher hat niemand eine gute Erklärung für ihr Verhalten - Eitelkeit, Ideologie, Korruption, Blindheit, alles wurde in den Mix geworfen, aber wirklich überzeugend ist nichts.
Es ist umgekehrt allerdings eine blödsinnige Idee, mehr erreichen zu können, als im aktuellen Gesetz drin ist. Der Versuchung auf dem linken Flügel der Partei, die Blockade zu nutzen, um Maximalforderungen ins Gesetz zu verankern, wird gerade rhetorisch allzu oft nachgegangen. Das Horrorszenario für Biden und die Führung der Partei ist, dass die "Zentristen" die reconciliation bill platzen lassen und der progressive caucus sich dann rächt, indem er die infrastructure bill durchfallen lässt. Das wäre eine Katastrophe, von der sich die Biden-Präsidentschaft genauso wenig erholen dürfte wie es die von Clinton nach dem Desaster der Krankenversicherungsreform tat.
Glücklicherweise ist dieses Szenario eher unwahrscheinlich. Zwar sind die Hoffnungen der Progressiven auf auf ein Ende des filibuster übertrieben. Aber die Wahrscheinlichkeit, dass am Ende ein Kompromiss steht, der recht nahe an den aktuellen Gesetzesentwürfen ist, ist recht hoch. Allein die Möglichkeit, dass nicht nur die demokratische Partei implodiert und in sich bekämpfende Fraktionen zerfällt aber macht das Ganze zu einem high stakes gamble. Da im Kongress nur eine verantwortungsvolle Partei ist, würde das dazu führen, dass gar keine verantwortungsvolle Partei mehr vorhanden ist - die USA wären praktisch unregierbar. Und zuletzt besteht natürlich immer noch die Chance, dass Mitch McConnell das Land in den Untergang reißt, um die Midterms zu gewinnen. Die Bereitschaft dafür ist definitiv da.
Für die Democrats aber ist die ganze Episode bereits jetzt eine Niederlage. Denn nicht nur haben sie negative Presse, die McConnell ihnen wünscht. Das wertvolle, kleine Zeitfenster, das sie für ihre Projekte und echtes Regieren haben - keine 15 Monate - wird mit dem ganzen sinnlosen Gezeter und parlamentarischen Taktieren völlig aufgefressen. Der GOP kann das nur Recht sein, ebenso den "Zentristen", die am gestaltenden Regieren so viel Interesse haben wie die CDU. Aber wer das Land vorwärts bringen und zukunftssicher mache will kann sich nur an den Kopf fassen angesichts der Verschwendung politischen Kapitals.
Dass der Laden noch nicht auseinandergeflogen ist, ist zu einem guten Teil Nancy Pelosi zu verdanken, die einmal mehr ihren Ruf als erstklassige parlamentarische Führerin beweist. Ihr Verhandlungs- und Vermittlungsgeschick ist es hauptsächlich, das die hauchdünne demokratische Mehrheit halbwegs zusammenhält. Es war eine gewaltige Gefahr, alles in ein Gesetz zu packen, aber angesichts der republikanischen Obstruktion bestand für die Democrats keine andere realistische Möglichkeit. Auch die größere Verhandlungsmacht der Progressiven wurde von Pelosi sowohl anerkannt als auch produktiv eingebunden. Das ist keine Kleinigkeit; eine ähnliche produktive Nutzung des Potenzials gelang einem John Boehner oder einem Paul Ryan nicht auch nur um Ansatz.
Wir werden sehen, ob es ausreicht.
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