Die Serie „Vermischtes“ stellt eine Ansammlung von Fundstücken aus dem Netz dar, die ich subjektiv für interessant befunden habe. Die "Fundstücke" werden mit einem Zitat aus dem Text angeteasert, das ich für meine folgenden Bemerkungen dazu für repräsentativ halte. Um meine Kommentare nachvollziehen zu können, ist meist die vorherige Lektüre des verlinkten Artikels erforderlich; ich fasse die Quelltexte nicht noch einmal zusammen. Für den Bezug in den Kommentaren sind die einzelnen Teile durchnummeriert; bitte zwecks der Übersichtlichkeit daran halten. Dazu gibt es die "Resterampe", in der ich nur kurz auf etwas verweise, das ich zwar bemerkenswert fand, aber zu dem ich keinen größeren Kommentar abgeben kann oder will. Auch diese ist geordnet (mit Buchstaben), so dass man sie gegebenenfalls in den Kommentaren referieren kann.
Fundstücke
1) Je reicher, desto Bolsonaro
Wie gespalten Brasilien heute ist, das zeigt ein Blick auf die vom Wahlgericht veröffentlichte Auszählungskarte, die vage an das Symbol von Yin und Yang erinnert. Der Norden und Nordosten des Landes, wo Lula mit Abstand die meisten seiner Stimmen holte, sind eine große, weitgehend rot gefärbte Fläche. Der Süden, der Südosten sowie der mittlere Westen hingegen, wo Bolsonaro die Nase vorn hatte, sind fast vollständig blau gefärbt. [...] Diese Spaltung ist kein Zufall. Sie spiegelt das Wohlstandsgefälle, das zwischen den Regionen besteht. Allgemein könnte man es formulieren: je reicher ein Landstrich, desto mehr geht die Tendenz in Richtung Bolsonaro. Während der Amtsinhaber den Löwenanteil seiner Stimmen rund um die weiter entwickelten Wirtschaftszentren São Paulo, Rio de Janeiro oder Belo Horizonte gewann, punktete Lula vor allem in ärmeren Bundesstaaten wie Bahia, Pernambuco oder Sergipe. Dort waren die Menschen empfänglicher für seine Botschaft, Jobs zu schaffen oder den Hunger zu bekämpfen. Zahllose Familien im Nordosten verehren Lula, der selbst aus der Region stammt, wie einen Volkshelden, weil sie durch die Sozialprogramme seiner ersten Amtszeit die Armut hinter sich gelassen haben. [...] Dass Lula seinen Vorsprung in dieser Region ausgebaut hat, ist dabei das eine. Das andere ist, dass er seinen Rückstand in den großen Metropolen seit Anfang Oktober deutlich reduzieren konnte, wobei viele dieser neu hinzugewonnenen Stimmen von Wählern aus der Mittelschicht stammten, die aus einer Sorge um die brasilianische Demokratie für ihn votierten. (Marian Blasberg, SpiegelOnline)
Es ist bei Bolsonaro wie bei Trump dasselbe: das viel geliebte Narrativ, wonach die Wahl von Rechtspopulisten so was wie ein Aufstand der armen gegen die liberalen Eliten sei, fällt bei genauerer Betrachtung auseinander. Es handelt sich stets um einen Aufstand der Privilegierten gegen die liberalen Eliten, aus Furcht, die eigene Hegemonie zu verlieren. Das war im Übrigen schon immer so. Auch die Story, dass Hitler von den Arbeitslosen gewählt worden sei, ist ja nicht totzukriegen und wurde schon 1932 (!) widerlegt. Es ist das Kleinbürgertum, das (zurecht) um seine wirtschaftliche Stellung fürchtet (damals "liebevoll" als Stehkragenproletatier betitelt, ein Begriff der viel zu schön ist, um in Vergessenheit zu geraten), das am empfänglichsten für diese Botschaften ist. Und es ist das große Geld, das sie finanziert, weil der Rechtspopulismus praktischerweise an den bestehenden Eigentumsverhältnissen nichts ändern will (anders als der Linkspopulismus; nicht, dass der zukunftsträchtiger wäre). Dass da bei jeder Wahl erneut die Leute überrascht sind...
2) Der wahre Epochenbruch ist viel größer
Es mangelt in Deutschland ganz sicher nicht an Motivation und Innovation, es mangelt an einer korrekten Bepreisung von umwelt- und klimaschädlichen Geschäftsmodellen, gegen die sich die Union seit vielen Jahren im Dienste der Kohlebranche, der Energieversorger und der Automobilindustrie gestemmt hat. Außerdem gibt es noch von etwas anderem zu viel, nicht zu wenig: Subventionen für klima- und umweltschädliches Wirtschaften nämlich. Im Jahr 2018 beliefen sich nur die umweltschädlichen Subventionen des Bundes dem Umweltbundesamt (nicht Greenpeace) zufolge auf über 65 Milliarden Euro . [...] Noch viel schlimmer ist aber die Behauptung, mit »Vermeidung und Verboten« würden Deutschland und Europa ihre Klimaziele nicht erreichen. Richtig ist das Gegenteil: Ohne Vermeidung und Verbote werden Deutschland und Europa ihre Klimaziele nicht erreichen. Weil Merz (oder das »Team Merz«) das weiß, man aber offenbar glaubt, mit Wahrheit keine Punkte machen zu können, wird ein Luftschloss gebaut: »Technologien, die CO₂ wieder aus der Atmosphäre herausholen«. Das ist eine atemberaubende Unverschämtheit. Es gibt »Technologien, die CO₂ wieder aus der Atmosphäre herausholen«. Es handelt sich, so heißt es in einem aktuellen Bericht der Internationalen Energieagentur IEA um »die teuerste Methode, Kohlenstoff aufzufangen«. Sie ist deshalb auch nahezu nirgendwo implementiert. Die 18 Anlagen für »Direct Air Capture« (DAC), die derzeit weltweit operieren, holen derzeit zusammen ein Hundertstel einer Megatonne CO₂ aus der Atmosphäre. Zum Vergleich: Allein Deutschland emittiert im Moment 678 Megatonnen CO₂ pro Jahr. (Christian Stöcker, SpiegelOnline)
Stöcker hat völlig Recht, wenn er sowohl die Versäumnisse der Merkel-Ära anprangert als auch die Subventionen für die Fossilindustrie einerseits und die fehlenden Regulierungen für dieselbe sowie die fehlenden Subventionen für die Erneuerbaren anprangert. All das wäre nötig. Ich muss Stöcker aber widersprechen, wo er erklärt, wie sinnlos die CO2-Capture-Programme sind. Hier bin ich viel mehr bei Kevin Drum, den ich bereits im letzten Vermischten kurz verlinkt habe. Wir sind nicht mehr in dem Stadium, in dem wir irgendeine Lösung aus ideologischen Gründen ablehnen können. Die Losung muss sein: everything and the kitchen sink.
Natürlich taugt die CO2-Capture-Technologie aktuell nicht. Und die Vorstellung der CDU, dass irgendeine Ingenieursmeisterleistung uns retten wird und wir ansonsten nichts ändern müssen, ist geradezu himmelschreiend naiv; darüber habe ich bereits geschrieben. Aber es ist eine neue, völlig unerforschte und noch nicht annähernd marktreife Technologie. Und wir müssen schlicht sämtliche Mittel nutzen, auch solche, die vielleicht am Ende nicht funktionieren. Scheiß auf die Chancen. Pumpt Mittel in die Grundlagenforschung, bei allem. Wir brauchen Energie, und wir brauchen sie CO2-neutral. (Fast) egal aus welcher Quelle.
3) Germany struggles with its dependency on China
The Cosco affair also disappointed those who had hoped that Scholz would adopt a new approach to Beijing and break definitively with the mercantilism of the Angela Merkel era. The coalition agreement negotiated last year by Scholz’s Social Democrats, the Greens and the liberal Free Democrats was notable for its critical tone on China and its focus on human rights. But the Hamburg deal shows deep divisions persist between the Greens and parts of the SPD about the future of the relationship. [...] Berlin is being stalked by a fear that history might be about to repeat itself — on a much grander scale. The Ukraine war exposed the folly of Germany’s decades-long reliance on Russian gas. Now, the pessimists fear, it may be about to pick up the tab for its even deeper dependence on China, a country that has long been one of the biggest markets for German machinery, chemicals and cars. [...] “It will designate China as an important trading partner but the Communist party as a systemic rival,” finance minister Christian Lindner says in an interview. [...] The rethink is being driven by the Greens, who have long been mistrustful of China. Since entering the government last December they’ve wasted little time putting their China-sceptical stamp on policy. Complete economic dependence based on the principle of hope leaves us open to political blackmail Germany’s experience with Russia had shown “that we can no longer allow ourselves to become existentially dependent on any country that doesn’t share our values,” the Green foreign minister Annalena Baerbock told Süddeutsche Zeitung last month. “Complete economic dependence based on the principle of hope leaves us open to political blackmail.” [...] It is a message other prominent cabinet figures are pushing, too. “German business would be well advised to continue to open up new markets in the world, to invest in Asia, Africa, South and North America, so as to dilute the importance of China for the German economy,” Lindner says in the interview. “A sudden decoupling” would destroy many of the economic benefits and welfare gains of globalisation, he says. But China itself, he adds, is already moving to “decouple parts of its economy from the global division of labour”, and that should be a trigger to action. “Diversifying our technologies and supply chains will strengthen our resilience,” he says. (Guy Chazan/Yuan Yang, Financial Times)
Ich verstehe einfach nicht, was Scholz da tut. Die SPD kommt gerade aus dem Desaster des Nordstream-Debakels, und nun macht Scholz das genau Gleiche noch einmal. Gegen den Rat von praktisch allen Expert*innen und sechs (!) seiner eigenen Minister*innen drückt er diesen Deal durch, in der völlig naiven Behauptung, dass Cosco irgendwie ein privatwirtschaftlicher Akteur sei. Nirgendwo gleicht Scholz so sehr seiner Amtsvorgängerin wie in dieser dickköpfigen Festlegung auf eine überholte China-Politik.
Dabei sollte es wirklich Warnung genug sein, dass Grüne und FDP (!) hier einer Meinung sind. Sowohl Baerbock, die hier wieder aus der Warte der wertebasierten Außenpolitik argumentiert, als auch Lindner, der von einer größeren Globalisierung und einer Entkopplung von China spricht (auch hier: im Konsens praktisch aller Expert*innen) haben schlicht Recht. Scholz gibt hier den schlimmsten Instinkten der SPD nach. Die Partei sollte einfach die Finger von Außenpolitik lassen.
4) Progressive America Needs a Glasnost
But the truth is Wemple’s fears were hardly imaginary. In recent years, many journalists lost their jobs as a result of internal social panics even more irrational than the Cotton episode. The Philadelphia Inquirer purged its top editor after its architecture critic wrote a column mourning the destruction of buildings during the George Floyd protests. The Times pushed out its lead science reporter in the middle of a pandemic because a group of prep-school teens he was leading on a foreign trip complained about his centrist politics and having quoted (but not used) a racial slur. [...] I don’t know exactly what happened in all these episodes. Some of them are complicated. It wouldn’t surprise me if some people responded to internal outrage by deciding they’d had enough of it, but were never told explicitly they couldn’t keep their job. [...] The motive for many progressives to follow these stifling conventions was sympathetic. If you believe systemic racism and inequality are the greatest crisis in America, which I do, and you also believe the racism of the Republican Party is far more dangerous than any excesses on the left, which I also do, then you might hesitate to admit to anything that might be used by Republicans to discredit the cause of racial justice. Yet that hesitation allows the most unreasonable people on the left to rope the whole progressive movement into indefensible and self-discrediting positions. (Jonathan Chait, New York Magazine)
Was Amerika - ob progressiv oder konservativ - vor allem braucht, sind Arbeitgeber, die nicht als Sofortreaktion Leute feuern, und was prinzipiell wirklich jede Gesellschaft braucht ist ein ordentlicher Pushback gegen den Instinkt, Leute mit der Zerstörung ihrer Lebensgrundlage bestrafen zu wollen. Das ist in den USA besonders ausgeprägt, aber dieser Versuch, Menschen, die irgendwelche Fehltritte gemacht haben - rassistischer Kommentar hier, dummer Witz da - entlassen werden zu wollen ist sowohl ekelhaft als auch völlig überzogen. Es ist gut, dass Chait hier der eigenen Seite ins Gebetsbuch schreibt, hier tätig zu werden, aber das ist kein sonderlich progressives Problem. Es wird von allen Seiten betrieben. Für die Progressiven wird es nur mehr diskutiert (Stichwort Cancel Culture). Aber sei mal offen homosexuell und progressiv bei Hobby Lobby. Und nur damit das abschließend klar ist: diese Kündigungsforderungen SIND ein Problem, sie WERDEN von linken Aktivist*innen betrieben und sie SORGEN für Furcht und (Selbst-)Zensur.
5) „TikTok-Accounts von SPD und FDP sind oft Fremdscham pur“
Der Politikberater Martin Fuchs hat ausgewertet, welche Politiker in Deutschland am erfolgreichsten sind. In seiner Rangliste sind unter den zehn Bestplatzierten – abzüglich der Accounts von Bundestagsfraktionen oder Parteien – sechs Vertreter der FDP, zwei der AfD, einer der CDU und an der Spitze Lutz Liebscher, ein SPD-Landtagsabgeordneter aus Thüringen. Erfolg auf TikTok zu messen ist schwer; Follower zählen hier nicht viel. Politikexperte Fuchs hat sich daher entschieden, seine Liste nach Likes zu ordnen. Die Beifallsbekundungen seien ein gutes Indiz für Sichtbarkeit auf der App. Liebscher hat bis Ende Oktober knapp vier Millionen Likes gesammelt. „Man erfährt bei ihm allerdings sehr wenig über Politik aus dem Thüringer Landtag“, sagt Fuchs. „Statt zu benennen, was seine SPD gut macht, wertet er vorrangig die AfD ab.“ Wie in einem seiner viralen Hits mit einer Million Zuschauern: Über einen beliebten Sound mit dem Satz: „Mir klebt da irgendeine Scheiße am Schuh“ hat Liebscher eine Aufnahme von sich gelegt, in der er einen AfD-Sticker von seiner Sohle kratzt. Bashing des politischen Gegners statt inhaltlicher Auseinandersetzung – das ist eine Stoßrichtung, die auf TikTok gut funktioniert. SPD und Liberale nehmen sich dabei sehr häufig die AfD vor; einige Politiker von AfD und Union haben sich dagegen die Grünen als Feindbild ausgeguckt. „Es gibt einen krassen Anti-Grünen-Spin auf TikTok“, sagt Fuchs. Obwohl sie oft als politische Heimat der Jugend charakterisiert werde, zeige das Grünen-Bashing auf TikTok sehr stark, wie viele junge Menschen der Partei kritisch gegenüberstehen. Bei solchen, die nur ihr Weltbild bestätigt sehen wollen, falle das auf fruchtbaren Boden. „Inhaltlich konstruktive Beiträge gehen bei TikTok nur sehr selten viral.“ (Friedrich Steffes-Iay)
Ich bin ehrlich gesagt skeptisch, dass die Größe der auf TikTok aktiven Politiker*innen wirklich relevant genug ist, da überhaupt vernünftige Vergleiche zuzulassen. Aber das Format ist generell nicht eben eines, das sich für den klassischen deutschen Politikstil eignet, weswegen Steffes-Iay im Artikel ja auch diejenigen heraushebt, die diesen Stil eben nicht pflegen. Nur bleibt da ein wenig die Frage, ob ein*e Politiker*in es schafft, zwei komplett unterschiedliche Stile zu bedienen - TikTok beziehungsweise Social Media einerseits und klassische Medien/Öffentlichkeit andererseits -, ohne zu Dissonanz zu führen. Ich bin da, wie gesagt, eher skeptisch.
Dass ein "krasser Anti-Grünen-Spin" herrscht, wundert mich keine Sekunde. Die Partei eignet sich hervorragend als Blitzableiter für alle möglichen Ressentiments, tut sie ja schon immer. In meiner Familienwhatsappgruppe teilen ältere Familienmitglieder permanent irgendwelche Anti-Grünen-Memes. Das ist halt auch der Fluch, wenn du so was wie ein Programm hast. Was wären denn Anti-SPD-Memes, bitte? Grüne, FDP und AfD sind die Parteien, die am ehesten für was stehen, entsprechend sind sie auch am angreifbarsten. Und während demokratische Parteien überwiegend die AfD als Hauptgegner sehen, sehen konservative und rechtsradikale Parteien den eher bei den Grünen. Vor 30 Jahren wären es "die Sozialisten" gewesen. Nichts Neues hier.
Zuletzt bin ich inzwischen ob dieser Überraschung bei Beobachtenden darüber, dass "die Jugend" nicht komplett Grünen-sympathisch ist, nur noch müde. Leute, ja, junge Menschen wählen stärker grün als Ältere. Aber bei der Bundestagswahl gewann die FDP knapp die Stimmen der Erstwählenden, wenn ihr euch erinnert. Und selbst zu den für die Grünen besten Zeiten hatten sie mal 35% in der Altersgruppe. Das heißt, dass zu jedem beliebigen Zeitpunkt mindestens 65% der jungen Menschen nichts mit den Grünen am Hut haben. Oder mit Fridays for Future. Oder mit wokem Kram. Als jemand, der tagtäglich mit dieser Altersgruppe arbeitet: Schlagt euch doch bitte endlich diese Klischees aus dem Kopf.
6) How the livestock industry funds the ‘greenhouse gas guru’
The report had a huge media impact, generating nearly 6,000 articles across 118 countries. The BBC called it “the flexitarian diet to feed 10 billion” while the New York Times described it as a set of “new diet guidelines to benefit people and the planet.” [...] But the opposition from meat and dairy advocates was fierce. [...] An analysis of the phenomenon, published later in The Lancet, described how a “digital countermovement” managed to “organise rapidly” around the hashtag #yes2meat in the days leading up to the report’s launch. [...] The authors of this analysis presented the emergence of the #yes2meat opposition as organic and spontaneous. However, Unearthed has learned that working alongside and within that movement was a coordinated effort to mobilise scientists and academics against the report. And the people who led this effort, and who later celebrated their success in a private report to their agribusiness funders, were not working for a corporate PR agency or a lobbying firm, but for a newly-formed academic institute at a prestigious US university. [...] Responding to Unearthed’s findings, Walter Willet, a celebrated nutrition professor at Harvard University and lead author of the EAT-Lancet report, said: “It is rather shocking that UC Davis, which is a leading research institution, allows their name to give credibility to a coordinated disinformation campaign supported by the beef industry.” [...] Newman signed the memorandum of understanding with UC Davis in November that year, including a gift of $2.88 million, to be made in installments over four years. [...] “The tobacco industry was brilliant at delaying public policy on cigarette smoking. CLEAR is doing the same thing. It’s great that its efforts are being exposed.” (Zack Boren, Unearthed)
Der Vergleich mit der Tabakindustrie ist passend. Ich würde auch noch den zu den Produzenten fossiler Energien dazupacken. Die haben auch zig Millionen ausgegeben, um die Klimaforschung zu diskreditieren, aufzuhalten und die Ergebnisse in Zweifel zu ziehen. Worum es hier geht ist offensichtlich: eine Branche versucht, den Status Quo zu verteidigen. Einen Status Quo, von dem mittlerweile hinreichend klar ist, dass er nicht aufrechtzuerhalten ist. Ich gehe davon aus, dass sie erfolgreich sein werden, und dass wir in 30 oder 40 Jahren, wenn die Verantwortlichen nach einem langen Leben in Wohlstand längst tot sind, zurückschauen und uns wundern werden, was zur Hölle da passiert ist. Es ist ja nicht so, als wäre es das erste Mal. Für mich sind diese Leute schlicht Verbrecher.
What matters, as Ngũgĩ wrote in a 2021 essay, is ideology. His target is not white scholarship as such, but an “ideology that assumes the continent and its peoples can and should be studied for the benefit of the western student and scholar, that knowledge is a commodity to be extracted from the continent to benefit the western student and scholar.” Scholarship about Africa, Ngũgĩ argued, must not be separated from advocacy for Africa and the African diaspora. “It is not a question of trickle-down reparations but a redistribution of power.” [...] In the interval between the original controversy and our conversation, Sweet had discovered that many of his colleagues—and many in the history-reading public—agreed with him, even if they hesitated to say so publicly. “I received almost 250 emails which were almost the inverse image of what was going on on Twitter,” he said. “Those were long, considered, thoughtful emails, not just 280-character responses.” Reflecting on the tumult, Sweet was most worried about a weakening commitment in the academy to the cherished ideal and methods of the historical profession. “There is a move among some of my colleagues to expand the definition of scholarship, to change the way we assess scholarship,” he told me. “I worry there will be a move to de-emphasize the single-author manuscript: the book. Instead, anything that uses the historian’s craft or skills could count as scholarship. The most radical version might even include tweets, or at least blogs or essays online. How do you determine, then, what is political and what is scholarly?” [...] Sweet’s critics say to him: You care about then. We care about now. [...] To this, Sweet would reply: If academic historians succeed in convincing Americans that history is properly a tool for a political purpose, they will be starting a fight they will not win. Subjugating history to politics has inherent risks, he told me, noting that “the approaches of the hard right are not dissimilar to the way the profession is lurching or creeping today.” The people who hold power inside the academy may feel insulated from the rest of society, but they are subject to the much greater power that can be wielded outside the academy. (David Frum, The Atlantic)
Ich bin kein Experte (oder auch nur ein Amateur) für afrikanische Geschichte noch für die Debatten um Appropriation von Geschichte, weswegen ich mich nur als Außenseiter äußern kann. Aber: obwohl ich ja grundsätzlich für die progressiven Lesarten sehr aufgeschlossen bin, geht mir das hier auch wesentlich zu weit. Ich verstehe völlig, dass die afrikanischstämmigen Historiker*innen hier auch ein politisches Ziel verfolgen und dieses durchsetzen wollen. Aber ihr Aktivismus und die Geschichtswissenschaft sind zwei Paar Stiefel. Und die Unabhängigkeit der Wissenschaft ist zu wichtig, um sie für auch noch so berechtigte politische Ziele zu opfern. Denn die "redistribution of power" ist als Ziel absolut vernünftig, trifft hier aber in meinen Augen das falsche Ziel. Das ist genau die Kritik an dem woken Aktivismus, die absolut berechtigt ist. Zumindest von meiner uninformierten Außenseiterperspektive, die hier auf der Darstellung Frums fußt, der ja auch nicht gerade neutral oder Experte ist; take it with a gram of salt.
8) Yes, Elections Have Consequences
The lesson for the 2022 cycle is that the issues that seemed most salient as voters went to the polls will probably be long-forgotten in a few years’ time—but their choice will have had a huge bearing on what becomes of the United States. Voters can’t be expected to apprehend the longer-term consequences of the votes they cast. But their votes have consequences. Ahead of this year’s elections, voters seem motivated above all by cost-of-living issues, with additional concerns about crime and illegal immigration, and possibly cultural issues such as transgender teen athletes seeking to play in girls’ sports leagues, also factoring in. Voters are not much preoccupied by threats to democracy. [...] Yet even as voters attend to the immediate, they are also casting a ballot on three issues that may seem remote but have enormous import. The first is whether former President Donald Trump will face the same legal consequences as any other citizen for his frauds and crimes or whether his party will create a new right of impunity for ex-presidents. The second is whether Republicans will return to their 2011 strategy of using congressional leverage over the debt ceiling to threaten U.S. financial default as a bargaining tactic in budget fights. The third is whether the U.S. will continue to stand by Ukraine as it resists Russia’s invasion. (David Frum, The Atlantic)
Was Frum hier beschreibt, ist das Grunddilemma von demokratischer Politik. Wir werden aufgefordert, für die nächste Legislaturperiode Vertreter*innen für uns zu wählen und tun dies mit überwiegend unglaublich schlechter Informationslage (die meisten Wählenden sind in allen Ländern low-information-voters) und in allen Fällen ohne jede Fähigkeit zur Vorhersage. Dazu sind wir Menschen alle psychologisch schlecht dafür gerüstet, langfristig zu denken. Wir treffen aber Entscheidungen für einen mehrjährigen Zeitraum. Dieses Dilemma ist unauflösbar. Funktionierende Demokratien sind deswegen darauf angewiesen, dass alle (!) Repräsentant*innen grundsätzlich loyal zum demokratischen Staatswesen, verantwortungsvoll und halbwegs flexibel sind. Und das ist in den USA schlicht mehr gegeben, wo die Hälfte des politischen Spektrums keine dieser Anforderungen mehr erfüllt (im deutlichen Gegensatz etwa zu Deutschland). Das ist nicht die Hauptverantwortung der Wählenden, sondern der Institution - in diesem Fall der republikanischen Partei.
9) "Die Gewalt ist tief in der US-Geschichte verwurzelt" (Interview mit Hedwig Richter)
ZEITmagazin ONLINE: Was meinen Sie mit der Gewaltförmigkeit der Geschichte?
Richter: US-amerikanische Wahlen oder der Parlamentarismus waren stark von Gewalt geprägt. Gewalt ist tief in der US-Geschichte verwurzelt. Es waren lange die Menschen – besser gesagt: die weißen Männer – in den Einzelstaaten oder den neuen Territorien des Grenzlands, der Frontier, die selbst die Rahmenbedingungen vorgaben, auch und gerade politisch. "Free elections" bedeutete für diese Männer: Wir machen die Regeln. Die Hauptstadt Washington war sehr weit weg. [...]
ZEITmagazin ONLINE: Was meinen Sie damit?
Richter: In den Sechzigerjahren sehen wir einen Wertewandel, der verschiedene Emanzipationsbewegungen forciert, etwa für Frauen und People of Color. In Amerika war es auch der Vietnamkrieg, der in weiten Teilen der Bevölkerung einen kritischen Blick auf die eigene Gesellschaft ermöglichte. Es waren nicht zuletzt liberale Eliten, in der Politik, am Supreme Court, die fortschrittliche Gesetze ermöglichten – teils gegen die damalige Mehrheit in der Bevölkerung. Frauenrechte wurden systematisch durchgesetzt, Schwarze erhielten volle Bürgerrechte. Und doch war die Gewalt auch ein ständiger Begleiter dieser Jahre. Denken Sie nur an die politischen Morde der Zeit, an die Kennedys und an Martin Luther King. Oder an die Bilder, wie das schwarze Mädchen Ruby Bridges von Bundespolizisten durch einen aggressiven Mob weißer Männer zur Schule begleitet werden muss. [...]
ZEITmagazin ONLINE: Heute nimmt die Zahl der Wahlgesetze wieder zu, die gezielt Minderheiten benachteiligen. In Georgia ist es sogar gesetzlich verboten, wartenden Wählerinnen und Wählern vor dem Wahllokal Wasser oder Essen zu geben.
Richter: Das ist leider typisch für die US-Geschichte. De jure gibt es das Wahlrecht für Schwarze bereits seit den Verfassungszusätzen nach dem Bürgerkrieg, allerspätestens aber mit dem Voting Rights Act von 1965. Aber weil der Rechtsstaat häufig nicht stark genug ist, wird das Recht immer wieder gebeugt. Wahlbüros in Vierteln mit vielen schwarzen Menschen werden geschlossen, deren Wahlregistratur wird erschwert. People of Color werden mit vielen Maßnahmen de facto von der Wahl ausgeschlossen, auch mit parteilicher Wahlkreiseinteilung. Der Voting Rights Act hat etwa 50 Jahre lang die historische Ausnahme geschaffen, und jetzt scheint man wieder zu dem zurückzukehren, was vorher üblich war: der Macht des Stärkeren, des "freien weißen Mannes". Das ist jedenfalls die Befürchtung.
ZEITmagazin ONLINE: Sie haben intensiv zu den US-Wahlen im 19. Jahrhundert geforscht. Wie wäre denn eine Wahl wie die kommende damals abgelaufen?
Richter: Bis in die 1840er Jahre führte eine Ausweitung des Wahlrechts dazu, dass im Grunde alle weißen Männer wählen durften. Wahlen wurden, zugespitzt gesagt, von einem elitären Ereignis wohlhabender Landbesitzer zu einer Art Massenspektakel. Man lockte die Wähler zur Urne, mit Essen, Kleidung, Freibier. Es wurde gewettet, geprügelt, eine Riesengaudi veranstaltet. Es gab massive Korruption und Manipulation, etwa Urnen mit doppeltem Boden, in die man vorab bereits Stimmen für die eigene Partei gefüllt hatte. Oder Urnen wurden geklaut und in den Fluss geworfen. Starke Männlichkeit spielte eine große Rolle. (Johannes Ehrmann, ZEIT)
Das Ausmaß, in dem Gewalt in der US-Gesellschaft verglichen mit Europa normalisiert ist, wird von vielen Beobachtenden gerne übersehen. Wir kratzen uns regelmäßig angesichts der Massenmorde an den amerikanischen Schulen und dem Waffenfetisch den Kopf, aber das ist ja nur ein Symptom. Gewalt als Mittel zur Konfliktlösung hat in den USA einen ganz anderen Stellenwert als hier, sowohl im Privaten als auch im Politischen, und ist bei weitem nicht so tabuisiert. Das ist auf der (radikalen) Rechten wesentlich ausgeprägter als auf der Linken, aber auch da gibt es genug Leute, die zu Waffen greifen. Ich erinnere hier auch an meine Rezensionsnotiz zu "Field of Blood", wo die Gewalt im Kongress selbst nachgezeichnet wurde. Generell empfehle ich das komplette Interview.
Musk’s fans see the billionaire as a visionary, but it’s worth noting that many casual observers—people whose only real understanding of Musk is as the guy who put the fancy electric cars on their streets—have also internalized the heuristic that he is Good at Business and the type of man who spends his waking moments dreaming of how to save humanity from its existential problems. But what the past two weeks demonstrate is that Musk is, at best, a mediocre executive—and undoubtedly a terrible, distracted manager. Musk is obviously wildly financially successful, and the companies he owns have a reputation for taking futuristic-sounding ideas and dragging them into the present. But what Musk is showing us in real time is the folly of equating financial success with intellect, managerial savvy, and good judgment. I reached out to some experts to see if I was possibly missing something about Musk’s performance so far. Given Musk’s current focus on advertisers leaving the platform, I called up Rick Webb, the COO of Timehop and a co-founder of the Barbarian Group, a major digital-ad agency. Webb also served as a marketing and sales consultant for Tumblr during its heyday. I asked him to assess Musk’s first few days on the job, and he did not mince words. “The advertisers are gone because of his awful tweets,” Webb told me. “There’s no room for debate. He stated his intentions up front. He cared about advertisers and didn’t want them to leave and then he told us they’ve left.” Webb suggested to me that Musk’s now-deleted Paul Pelosi tweet was perhaps the most expensive tweet ever: It may have cost Twitter billions in advertising revenue. Companies including General Mills, Audi, and Pfizer are pulling their marketing from Twitter because they likely don’t want their brands to be associated with anything remotely scandalous. High-level executives—CMO types—are the ones ultimately deciding what these brands spend on Twitter, and “those people are, to a T, conflict-avoidant,” Webb said. (Charlie Warzel, The Atlantic)
Es ist absolut faszinierend, den aktuellen Crash bei Twitter zu beobachten. Vielleicht überrascht uns Musk ja doch noch alle mit einem brillanten Manöver, aber akutell sieht das echt nach einem fiesen dumpster fire aus. Ich hab da natürlich auch eine große Portion Schadenfreude, und bei nichts mehr als bei dem psychopathischen Führungsstil, der zum Verlust von mittlerweile über 75% der Angestellten führte - und einem brain drain, der sich gewaschen hat. Wer sein Personal wie Scheiße behandelt muss sich nicht wundern, wenn es dem Unternehmen den Rücken kehrt.
Resterampe
a) Die USA sind einfach so kaputt.
b) Marcel Schütz' Beobachtungen zu diesen beknackten Klimaprotesten sind glaube ich zutreffend.
c) Elon Musk ist einfach nur ein psychpathisches Arschloch.
d) Diese Legende über das Mehrheitswahlrecht zerbricht immer mehr, and rightly so.
e) Die Reaktion der GOP auf das Pelosi-Attentat ist einfach nur entlarvend.
f) Kevin Drum behauptet, die Fed habe keinen Einfluss auf die sinkenden Inflationsraten gerade, produziere aber eine Rezession im kommenden Jahr. Jörg Wolf hält dagegen. Ich finde, beides klingt überzeugend. Was denkt ihr?
g) Linke sind einfach zu blöd für Macht, Israel-Edition.
h) Ich weiß nicht, wie erfolgreich das als Strategie ist, aber inhaltlich stimme ich zu.
i) Mark Schieritz hat in der ZEIT eine Reportage, wie so ein Auslandsbesuch des Kanzlers in China abläuft. Ganz interessant.
j) Sehr spannender Essay über Thomas Mann und seine Rolle als politischer Intellektueller in der Weimarer Republik.
k) Ein neuer Lucky-Luke ist erschienen. Mich wundert ja wie bei Asterix immer wieder, dass das überhaupt noch läuft. Das ist ja so was von aus der Zeit gefallen.
l) Die 180°-Wende von Liberalen gegenüber den Wirtschaftsweisen zu sehen ist ja schon echt amüsant. Oder auch hier.
m) In Finnland werden die Steuererklärungen von allen Leuten veröffentlicht, die über 100.000€ im Jahr verdienen.
n) Die Überzeugung der Amerikaner*innen, dass die jeweils andere Seite ein Desaster ist, ist erschreckend. Related: der größere Radikalismus und die Menge der Republicans, die das Wahlergebnis von 2020 nicht anerkennen.
o) In Finnland zeigt sich einmal mehr eine erfolgreiche Strategie gegen Obdachlosigkeit, die üblicherweise an der Lust zu strafen scheitert.
p) Zu Bidens Chip-Export-Verbot nach China.
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