Anmerkung: Dies ist einer in einer monatlichen Serie von Posts, in denen ich die Bücher und Zeitschriften bespreche, die ich in diesem Monat gelesen habe. Darüber hinaus höre ich eine Menge Podcasts, die ich hier zentral bespreche, und lese viele Artikel, die ich ausschnittsweise im Vermischten kommentiere. Ich erhebe weder Anspruch auf vollständige Inhaltsangaben noch darauf, vollwertige Rezensionen zu schreiben, sondern lege Schwerpunkte nach eigenem Gutdünken. Wenn bei einem Titel sowohl die englische als auch die deutsche Version angegeben sind, habe ich die jeweils erstgenannte gelesen und beziehe mich darauf. In vielen Fällen wurden die Bücher als Hörbücher konsumiert; dies ist nicht extra vermerkt. Viele Rezensionen sind bereits als Einzel-Artikel erschienen und werden hier zusammengefasst.

Diesen Monat in Büchern: Cancel Culture, Klimakrise, Kolonialismus

Außerdem diesen Monat in Zeitschriften: –

Adrian Daub – Cancel Culture Transfer: Wie eine moralische Panik die Welt erfasst

Der Begriff der Cancel Culture ist in aller Munde. Seit 2018 ist diese moralische Panik von den USA her kommend über den Atlantik auch nach Europa geschwappt. Aber was Cancel Culture genau ist, wer sich gecancelt fühlt und warum die Vorgänge an einigen amerikanischen Universitäten eine solche Relevanz erhalten haben, ist nicht so klar, wie man angesichts der Allgegenwart des Diskurses meinen sollte. Es ist daher gut, dass der Literaturwissenschaftler Adrian Daub eine erste wissenschaftlich fundierte Analyse des Cancel-Culture-Diskurses darlegt, die nun auf Deutsch bei edition Suhrkamp erschienen ist. Der Titel „Cancel Culture Transfer“ deutet bereits die Hauptuntersuchungsfrage an: wie kommt ein solcher Diskurs von den USA in den Rest der Welt? Im Untertitel deutet Daub bereits eine Antwort an: es handelt sich um eine moralische Panik. Glücklicherweise belässt er es nicht bei Behauptungen, sondern stürzt sich in eine definitorisch unterfütterte und breit recherchierte Analyse.

Bereits in der Einleitung formuliert Daub mehrere Thesen, die er im Verlauf des Buches zu belegen versucht:

These 1: Der Cancel-Culture-Diskurs sei eine Neuauflage des Diskurses um die „Political Correctness“ (PC) der 1990er Jahre, mit einem eigenem Duktus, der sich durch alle Debattenbeiträge ziehe.

These 2: Der Diskurs habe eine aufmerksamkeitsökonomische Funktion. Er sei ohne die soziale Netzwerke praktisch irrelevant, lebe von ihnen und bausche ständig obskure Einzelfälle auf, die ominös mit der Vergangenheit verknüpft würden und so überhaupt erst ein Sinngeflecht schüfen.  Die Sozialen Medien als Austragungsort seien aber nach 2018 schnell verschwunden und hätten stattdessen einer viel allgemeineren Erzählung einer kulturellen Verschiebung Platz gemacht.

These 3: Ohne das Internet gäbe es keinen Cancel-Culture-Diskurs, und im Internet habe er auch eine gewisse Berechtigung, weil hier tatsächlich Individuen von mobartigen Dynamiken angegriffen werden. Die Kritik unterschätze aber die Impulsgeschwindigkeit sowohl junger Menschen als auch des Internets, was die Analyse erschwere.

These 4: Dem Cancel-Culture-Diskurs fehle bereits in den USA jede Verhältnismäßigkeit, aber in Deutschland sei er gleich dreimal irrelevant, weil er sich auf die spezifischen Umstände an amerikanischen Universitäten beziehe, die auf Deutschland gar nicht übertragbar seien und eben selbst dort Einzelfälle darstellten.

These 5: Im Diskurs schwinge ein Antiamerikanismus mit, wie bereits bei der Political-Correctness-Debatte. Die Idee aber, dass der Campus allen Positionen überhaupt ein Forum bieten müsse, komme von professionellen Lobbyorganisationen. Es handle sich um eine völlige Entgrenzung eines lokalen Diskurses.

These 6: Warner*innen vor der Cancel Culture vollzögen einen intellektuellen Sprung von Einzelereignissen auf (überzogene) Verallgemeinerungen. Die moralische Panik funktioniere ohne diesen Sprung nicht.

These 7: Schuld sei in diesen moralischen Paniken immer eine als feindlich wahrgenommene Elite. Das sei keine grundsätzliche Elitenfeindlichkeit; man möchte nur eine Herrschaft der eigenen Eliten.

These 8: Ohne diese Widersprüchlichkeiten nicht anzuerkennen und zu analyieren ließe sich das Thema nicht sinnvoll greifen.

These 9: Es sei kein Zufall, dass die moralische Panik um die Cancel Culture ausgerechnet nach #MeToo und #BlackLivesMatter aufkomme. Die Herausforderung der Diskursmacht der etablierten Eliten erzwinge geradezu eine Reaktion.

Daub definiert den Begriff der „moralischen Panik“ nach seinem Schöpfer Stanley Cohen (1972). So genannte „moralische Unternehmer*innen“ (moral entrepeneurs) interpretierten Zwischenfälle für ein breites Publikum und schüfen so den Diskurs. Dieser verlaufe nach festen, beinahe schon ritualisierten Abläufen, die eine „kollektive Amnesie“ erforderten, um zu ignorieren, dass man dieselben Voraussagen bereits vor 30 Jahren getroffen hat und dass diese nicht eingetroffen sind. Wichtig ist Daub aber die Abgrenzung vom Begriff der Propaganda. Eine moralische Panik ist nicht zentral gesteuert, sondern hat ihre eigene, dezentrale Dynamik, die durch die unabhängig agierenden moralischen Unternehmer*innen hervorgerufen wird.

In Kapitel 1 stellt Daub Definitionen auf und klärt Begriffe. Es sei letztlich irrelevant, ob Cancel Culture wirklich existiert. Zentral sei das Phänomen der Disproportionalität, das eine moralische Panik hervorrufe. Wie bei der moralischen Panik um „Political Correctness“ der 1990er Jahre macht Daub eine „unkritische Quellenrezeption“ aus. Anekdoten würden verallgemeinert, ohne dass die Datenlage das hergebe. Eine Methode, die er hier anwendet, ist der Vergleich der verschiedenen Portale, die Fälle von Cancel Culture zählen. Dabei stellt er fest, dass diese einerseits nur wenige finden (zwischen 173 und 1566) und dass der Überlapp dieser Fälle mit 387 sehr gering ist. Was also Canceln überhaupt ist, ist höchst umstritten. Auf einer dieser Seiten finden sich Samuel Paty (der von Islamisten ermordete französische Lehrer), Hitoshi Igarashi (ein Rushdie-Übersetzer, ebenfalls ermordet) und Donald Trump einträchtig Seite an Seite.

Daub weist auch darauf hin, dass die Cancel-Culture-Geschichten sich in der übergroßen Mehrzahl der Fälle an US-Unis abspielen – wie zuvor bereits die moralische Panik um Political Correctness -, die kaum repräsentativ für die US-Gesellschaft sind und deren Übertragbarkeit auf Europa noch fragwürdiger ist. Viele der Fälle, so Daub, seien auf verletzte akademische Eitelkeiten zurückzuführen.

Gerade beim typischen Vorwurf der „Selbstzensur“, die Cancel Culture hervorrufe, weist Daub nach, dass zahlreiche Studien ideologisch gefärbt und von rechten Thinktanks produziert sind und nur Munition für die entsprechenden Schlagzeilen produzieren sollen. So werden zwar Selbstzensurbeispiele wie das offene Diskutieren von Homosexualität abgefragt, nicht aber, ob jemand seine eigene sexuelle Orientierung aus Angst verschweigt – was an den evangelikalen und rechten Unis, aus deren Umfeld dieser Kram kommt, nicht eben unwahrscheinlich sein dürfte. Zudem werden viele Umfrageergebnisse nicht richtig ausgewertet, weil die offensichtliche Erkenntnis, dass man nicht in jeder Situation alles sagen kann, bereits als Selbstzensur gewertet wird – während es eigentlich Anstand und common sense ist, nicht überall ungefragt seine eigenen Thesen aufzutischen.

Daub stellt außerdem die These auf, dass die ganze Debatte letztlich nur eine Wiederauflage der moralischen Panik um Political Correctness sei. Das Vokabular und die Argumentationsmuster sind praktisch 1:1 dieselben, ebenso die mangelnde Vergleichbarkeit zwischen USA und Europa, die den Import des Diskurses nicht verhindert hat. Daub führt die angestiegenen Zahlen derjenigen, die sich in Umfragen in ihrer Meinungsfreiheit eingeschränkt fühlen, auch darauf zurück, dass seit 1990 permanent in Schlagzeilen und Bestsellern eine Cancel Culture (oder Political Correctness oder was auch immer) behauptet wird, so dass die Bevölkerung „gelernt“ habe, hier mit Ja zu antworten. Ich halte diese These zwar für plausibel; beweisen kann sie Daub aber natürlich genauso wenig wie die Cancel-Culture-Kulturkrieger*innen ihre eigenen.

Das Wort „Cancel Culture“ selbst ist unzweifelhaft anglophon; Daub erklärt die fehlende Eindeutschung damit, dass der Diskurs auf diese Weise als fremd und aufgezwungen markiert werde. Ebenso spannend ist die Analyse, wer den Diskurs betreibt: es seien mehrheitlich weiße Männer mit hohem Bildungsabschluss. Die Parteizugehörigkeit spiele dabei eine geringe Rolle: über „Trumps Basis“ der unterprivilegierten Schicht werde in dem Diskurs zwar oft gesprochen, sie sei aber selbst nicht daran beteiligt. Aktiviert werde zudem nicht die politische Mitte, sondern die politischen Ränder. Der Diskurs sei zudem stark online-geprägt; FOX News und andere etabliertere Medien spielten eine wesentlich geringere Rolle bei der Reproduktion. Auffällig sei zudem, dass die meisten Menschen, die angeben, von Cancel Culture viel gehört zu haben, diese nicht im Rahmen des Diskurses definieren: sie beschreiben sie als „zur Verantwortung ziehen“ (49% der Befragten!), während Boykott und Jobverlust – die für die mediale Debatte zentralen Kategorien – nur von 6% der Befragten genannt werden.

In Kapitel 2 beschäftigt sich Daub dann mehr mit der Wortgeschichte. Er stellt die These auf, dass der Diskurs im „politische Korrektheit“ in den 1990er Jahren in den USA ähnliche Dynamiken aufweist wie der um Cancel Culture; die explosionsartige Verbreitung des Begriffs in rechten Medien, von wo aus er vom Mainstream aufgegriffen wurde, legt diesen Verdacht jedenfalls nahe. In Deutschland sei die Verbreitung langsamer und inhaltlich diffuser gewesen, habe aber den Boden für Anknüpfungen bereitet, was nun bei Cancel Culture zuschlage.

Die Attraktivität des PC-Diskurses habe darin gelegen, dass die Undeutlichkeit des Begriffes es erlaubte, sowohl rechts wie links (Clintons New Democrats) Anknüpfungspunkte zu finden. Wie bei Cancel Culture ist es eine Zuschreibung von außen: niemand bezeichnet sich selbst als politisch korrekt, genauso wie niemand selbst cancelt. Das sind bzw. machen immer nur andere. An diversen Beispielen zeigt Daub auf, dass die Warnungen vor PC oft praktisch wortgleich zu denen von CC sind – ohne dass jemand auffiele, dass die apokalyptischen Zustände nie eingetreten sind.

Den großen Unterschied zwischen CC und PC sieht Daub darin, dass die Bedeutung von CC im deutschen Diskurs falsch beziehungsweise unvollständig verstanden wurde. Denn anders als PC gab es im linksafroamerikanischen Milieu tatsächlich die Forderung nach „canceln“. Allein, der Begriff weise im Englischen mehrere Bedeutungen auf, und anders als amerikanische Medien, wo „die NYT und FOX etwas anderes unter derselben Bezeichnung Verschiedenes meinen könnten […] schienen sich deutschsprachige Medien immer besonders sicher zu sein, was die Bedeutung von „canceln“ anging“.

Er folgt der Evolution des Begriffs aus der tumblr-Blase junger, linksaffinger und YA-Romane lesender internetaffiner Menschen zu, die über die „call-out culture“ mögliche „problematische“ Seiten populärer Werke sammelten und entsprechend markierte Verhaltensweisen anprangerten. Das konnte innerhalb dieser communities durchaus problematische Züge annehmen, aber Daubs Frage, warum dieses Nischenphänomen den Rest der Gesellschaft in diesem Maße beschäftigen sollte, ist mehr als angebracht. Cancel Culture sei zu Beginn identisch mit Call-Out Culture gewesen. Daub vermutet (allerdings ohne Belege dafür), dass dies daran liege, dass „Canceln“ aggressiver klingt, während „Call-Out“ die eigentlich intendierte Wortbedeutung impliziert.

Die tatsächliche Herkunft dieser Wortbedeutung ist nebulös. Daub spürt ihr bis 2014 nach, aber es ist natürlich unmöglich, eine präzise Genese des Begriffs auszumachen. Er versucht aber, gewisse Dynamiken der Entgrenzung des Begriffs – aus dem kleinen, ursprünglich ironischen Milieu von „Afrotwitter“ – nachzuzeichnen, etwa unterschiedliche gesellschaftliche Spielregeln und Erwartungen an Schwarze und Weiße. Schwarze Interessen, Handlungen und Gruppen stünden unter wesentlich schärferer Beobachtung als weiße. So entstünde oft ein „Kontextkollaps“, indem sehr begrenzte Phänomene verallgemeinert würden.

Diesen Kontextkollaps zeigt er anhand der Karriere des Begriffs der „Cancel Culture“ auf. Seine Genese liegt auf Black Twitter, jener Blase linksaktivistischer Afroamerikaner*innen. Dort ist er gleichbedeutend mit Call-Out-Culture: es geht um das Ablegen von Rechenschaft, eine Verantwortlichkeit. Das Wort geriet dann in einen Popkultur-Kontext; so „cancelte“ etwa Taylor Swift ihre Ex-Freunde. In diesen obskuren Zirkeln blieb es bis 2017, als von Kanye West aufgegriffen wurde. West verwendete es im Kontext seiner Begeisterung für Donald Trump und verkündete, er sei gecancelt worden, weil er Trump nicht cancele. Die Nutzung explodierte 2019, als es plötzlich von den Mainstream-Medien und (vor allem) FOX News aufgegriffen wurde, die es jetzt als Synonym für Political Correctness gebrauchten und damit jeden Kontexts enthoben. Noch absurder ist die Geschichte für Deutschland, wo der Begriff ebenfalls 2019 übernommen wurde – aber fast ausschließlich in Bezug auf die USA, die man als warnendes Beispiel nannte, ohne je den Begriff selbst zu definieren!

Für Daub ist der Cancel-Culture-Diskurs letztlich ein literarisches Genre, ein Framing, das angesichts seiner Profession als Listeratur- und Sprachwissenschaftler naheliegt. Da er sich ständig um amerikanische Universitäten dreht, macht es mehr als Sinn, dass er in Kapitel 3 die Universität als literarischen Topos genauer unter die Lupe nimmt. Immerhin 40% aller Amerikaner*innen (!) haben Zeit auf einem Campus verbracht, wenngleich natürlich für viele die Erfahrung schon länger zurückliegt. Anders als in Deutschland ist der Campus ein weit verbreiteter Handlungsort der Popkultur, von Komödien bis zu Law&Order. In all diesen literarischen Verarbeitungen ist der Campus ein ewig gleicher, unveränderlicher, festen Klischees gehorchender Ort. Diese Unveränder- und Unspezifiziertheit macht den Campus kaum greifbar, dafür aber paradoxerweise umso präsenter und stets verallgemeinerbar.

Es ist auf diesem fruchtbaren Grund, aus dem das Genre der Campuskritik fröhlich spross. Es war der konservative Vordenker William Buckley, Idol aller Konservativen in den USA, der mit „God and Man in Yale“ in den späten 1950ern die Urform rechter Campus-Kritik herausbrachte. Das Problem war nicht etwa Atheismus oder progressive Gedankenhaltung, sondern „christlicher Individualismus“ und andere Denominationen als die klassisch protestantische. Aus heutiger Sicht inhaltlich völlig aus der Zeit gefallen, aber im Schema seither 1:1 reproduziert. Der Campus wurde zu einem fantastischen Ort, an dem alles mögliche passieren konnte. Ein Dauerbrenner ist die angebliche Verbannung der Klassiker; in jedem Jahrzehnt seit 1960 behaupteten Konservative, dass Shakespare und Konsorten nicht mehr, irgendwelche linken Intellektuellen dafür umso mehr gelehrt würden. Die Intellektuellen waren damals schon irrelevant und sind heute völlig unbekannt, während Shakespare weiterhin in den Lehrplänen verankert ist. Das hält aber niemanden davon ab, auch heutzutage anderslautende Behauptungen vorzubringen.

Der nächste große Schritt in diesem Genre war Ronald Reagan, der noch als Privatmann im Stil McCarthys angebliche Geheiminformationen über linke Verschwörungen am Campus publizierte und als Gouverneur von Kalifornien Wahlkämpfe damit gewann, Soldaten auf den Campus von Berkeley zu schicken. Als er Präsident wurde, war unter Republicans das Bashing von Universitäten bereits Routine. Der letzte Baustein dieses Genres besteht für Daub in den Neokonservativen, die unter Reagan und Bush ihre Blüte erlebten. Sie entstammten dem Milieu selbst, waren nie davon losgekommen und verabscheuten es doch aus tiefster Seele. Sie waren ideale Kronzeugen – und die ersten Autoren, die auch in Deutschland reproduziert worden. Doch wo ihre Werke im Original „im sokratischen Ideal“ provozieren sollten (vor allem Adam Blooms), wurden sie von deutschen Medien (vor allem der NZZ) als Fakt rezipiert – ein Muster, das sich im Diskurs bis heute beständig wiederholt und das auch in der Cancel-Culture-Debatte zu sehen ist. Kontextkollaps, indeed.

Diese Literarisierung verfolgt Daub in Kapitel 4 weiter, in dem er es als „Melodrama“ fasst. Exemplarisch erzählt er dazu die Geschichte von Stephan Thernstrom, einem Professor, dessen Geschichte 1991 in den USA ausführlich rezipiert wurde, ganz besonders aber in Deutschland Eindruck fand (so sehr, dass Jan Fleischhauer sie im Spiegel 2002 noch als Beweis für aktuelle (!) Zustände an US-Unis herauskramte, was einmal mehr die Mythologisierung der Thematik aufzeigt). Drei Studierende warfen ihm vor, in einer Vorlesung rassistische Topoi bedient zu haben. Thernstrom was so etwas wie der Patient Zero einer literarischen Figur, die seither ständig Hochkonjunktur hat: der unbescholtene Professor, der „aus heiterem Himmel“ von radikalen Studierenden in seiner Existenz bedroht wird.

Daub arbeitet heraus, welche Elemente dieses Narrativ besitzt. So findet sich die angebliche Konversion durch die Ereignisse (Thernstrom wurde ständig als Linker dargestellt, der von Hexenjäger*innen des eigenen Lagers zu den Konservativen getrieben wurde; dabei war er bereits in den 1980er Jahren eine einflussreiche konservative Stimme); die Behauptung, die Studierenden hätten vorher keinen Kontakt gesucht (glatte Lüge); die Universitäts als rückgratlose Umfaller (tatsächlich vermittelte sie in der Thematik); die Vorstellung, die Studierenden hätten den Angriff angefangen (tatsächlich hatte eine Zeitung recherchiert und die Geschichte dramatisiert); und so weiter. Daub weist auf tatsächlich fiktionale Werke solcherart attackierter Professoren hin, die um 2000 Konjunktur hatten und in denen sich bemerkenswerterweise nie jemand juristisch zur Wehr setzt; stattdessen wird die Kritik immer als existenzielle Krise empfunden.

Ein weiteres Puzzlestück sind die speech codes, die gerne als Beleg für repressive Campus-Kultur herhalten müssen. Das sei ein großes Missverständnis, denn solche Codes gab es an den Universitäten schon immer. Bis weit in die 1960er Jahre hinein etwa verboten die Universitäten den Studierenden von Übernachtungen in Motels über Sex bis zu Blasphemie alles Mögliche und warfen sie für Verstöße hinaus – Meinungsfreiheit suchte man an den Universitäten vergeblich; an den privaten sogar noch viel mehr. Es war die Bürgerrechtsbewegung der 1960er Jahre, die diese Regeln angriff – und die Universitäten reformierten sie. Diese Überarbeitungen wurden kodifiziert, und gerade diese Änderungen erschienen den bisher Privilegierten dann plötzlich als Eingriffe – in Wirklichkeit waren sie gegenüber der bisherigen Praxis krasse Liberalisierungen.

Am Beispiel des fiktiven Coleman Silk zeigt Daub zudem auf, welches Eigenleben diese Narrative oft entwickeln. Eine Geschichte in den 1960er Jahren wurde durch die Jahrzehnte immer wieder als aktuelles (!) Beispiel für Opfer von Political Correctness, Cancel Culture oder wie auch immer der Begriff gerade lautete, hergenommen. Selbst Joachim Gauck bezog sich in einer Rede darauf, entweder absichtlich oder (wahrscheinlicher) unwissentlich der Tatsache, dass es sich um einen sechzig Jahre alten Roman und nicht eine Tatsache handelte.

Solcherlei Anekdoten sind natürlich nicht grundsätzlich verwerflich. Nutzen und Schaden der politischen Anekdote bilden daher das Thema von Kapitel 5. Daub postuliert eingangs, dass Anekdoten sehr selektiv, aber absichtlich verwendet werden, um einen bestimmten Eindruck im Diskurs zu erzeugen. Diese Anekdoten verlieren dabei ihren ursprünglichen Kontext. Die erste richtig große Cancel-Culture-Anekdote sei der Fall Jordan Peterson gewesen, der 2016 mit drastischen Warnungen (faktisch falsch) ein kanadisches Antidiskriminierungsgesetz kritisierte und dafür selbst kritisiert wurde. Er präsentierte sich als Opfer, und binnen kürzester Zeit wurde er zur Vorzeigeanekdote für angebliches „was man nicht sagen darf“. Dass Peterson das ständig sagte und damit reich wurde, spielt dabei wie bei den meisten „Opfern“ dieser Art keine Rolle. Ich erinnere mich noch selbst daran, wie konservative Bekannte plötzlich 2017 anfingen, die Peterson-Geschichte zu erzählen. Der Wahrheitsgehalt von Anekdoten sei nicht so bedeutend wie ihre Plausibilität: sie müssten sich echt anfühlen, wie das angebliche Verbit „flip charts“ zu benutzen, um Philippinos nicht zu beleidigen.

Die Anekdoten funktionieren besonders dann, wenn sie sich aktuell anfühlen. Daub weist anhand einiger Beispiele nach, wie alt sie oftmals sind, besonders was Sprachverbote angeht – die Zigeneuerschnitzeldebatte ist etwa mindestens 20 Jahre alt, die Indianer-Debatte mindestens 30, halten aber beide immer als Beweis für eine angeblich neue Qualität der „Zensur“ heran. Diese Debatten sieht er vielmehr als normalen Teil demokratischen Miteinanders. Die vergangene Aufregung werde aber schnell vergessen und sei deswegen immer wieder „neu“. Oft sie der Ursprung der Anekdoten außerdem satirisch, was aber ebenso schnell vergessen werde. Daub postuliert hier auch, dass man sich fragen sollte, woher die obskuren Anekdoten eigentlich kommen: er zeigt Beispiele rechtskonservativer amerikanischer NGOs auf, die mit großem Aufwand solche Anekdoten verbreiten, aber ihre eigene Herkunft dabei verschleiern. Die Effektivität dieser Taktik ist offenkundig.

Auffällig sei auch die „Fokalisierung“ der Anekdoten: sie berichten stets nur aus einer Perspektive; die andere Seite bleibt meist gesichts- und namenlos (irgendwelche Aktivist*innen oder Studierende, die aber nie identifiziert werden). Auch die Plötzlichkeit des Cancelns („aus heiterem Himmel“) gehöre zum Genre.

In Kapitel 6, „Lokalisierung einer globalen Panik“, befasst sich Daub mit dem literarischen Ort Amerikas in der Debatte. Der Begriff „Cancel Culture“ alleine deute bereits auf etwas Fremdes hin; für Daub ist es bemerkenswert, dass er europäischen Zungen leichter falle als amerikanischen, weil mit „Kultur“ hierzulande völlig unterschiedliche Konnotationen verknüpft seien als jenseits des Großen Teichs. Auch sei auffällig, dass Cancel Culture immer im Hinblick auf andere Länder betrachtet wird: Macron etwa schimpft über den Einfluss aus Amerika, während hierzulande in Frankreich das Ganze schon als verwirklich sieht. Die NZZ arbeitet sich am „woken“ Deutschland ab, während die FAZ britische Verhältnisse besonders hervorhebt.

Interessant ist der Vergleich zu 1968, den Daub zieht. Die Amerikafixierung sei dieselbe, ebenso wie der Habitus: man nimmt an, dass amerikanisch konnotierte Werte wie Meinungsfreiheit von Amerika aus in Gefahr seien und nur durch deutsche Musterschüler*innen zu retten seien. Daub zeigt anhand Bestandteilen des französischen Diskurses auf, wie idiosynkratisch dieser ist: die Rede ist hier vom „Linksislamismus“ (also der angeblichen Zusammenarbeit der Linken mit Islamisten), die sich aus der langen Terrorgeschichte der letzten Zeit erklärt. Solche nationalen Eigenheiten werden dem Cancel-Culture-Diskurs übergestülpt, die Begrifflichkeiten dabei ihrer Bedeutung entkernt.

Am auffälligsten aber sei, so Daub, dass die Cancel-Culture-Kritik sich durch eine „Epidemie des Nichtlesens und Nichtzitierens“ auszeichne. Es bestehe eine geradezu virulente Weigerung, sich überhaupt mit den Konzepten auseinanderzusetzen. Die Kritik richte sich gegen Vogelscheuchen, die verwendeten Begriffe und Autor*innen haben mit den Originalen meist nur wenig zu tun. Dazu passt, dass der „Identitätspolitik“ (das andere große Feindbild) jegliche Satisfaktionsfähigkeit abgesprochen wird. In den „Streit-“ und „Debattenressorts“ der bürgerlichen Presse werde zwar ÜBER die andere Seite der Debatte gesprochen, aber nicht mit ihr; ein Dauermonolog werde als Dialog getarnt.

Zu Beginn von Kapitel 7, „Poetik der Cancel-Culture-Texte“, arbeitet Daub die Unterschiede zwischen der Berichterstattung über Cancel Culture zwischen Deutschland und den USA auf. Kurioserweise ist das Phänomen in Deutschland viel mehr rezipiert als in seinem Ursprungsland. Auch das Genre ist ein anderes: in den USA gehören Artikel über Cancel Culture eher als große Essays und Titelthemen in den Politikbereich, während sie in Deutschland praktisch nie im Politikteil stehen und stattdessen ein fester Stilbestandteil des Feuilletons sind. In Deutschland kommt die Thematik auch ständig in Texten vor, die nicht hauptsächlich damit zu tun haben – von Interviews über Rezensionen. Zudem macht Daub erneut eine „Performanz der Unneugier“ aus, die er mit den Sozialen Netzwerken vergleicht. Ohnehin sei auffällig, dass die Online-Redaktionen aller Zeitungen (unabhängig von ihrer politischen Ausrichtung) weniger über das Phänomen berichten als die Printjournale.

Er postuliert das als Frage der Diskurshoheit: das deutsche Feuilleton (eine Rubrik, die in den USA bezeichnenderweise gar nicht existiert) beansprucht diese für sich. Nur Diskussionen im Feuilleton sind satisfaktionsfähig; finden diese in den Sozialen Netzwerken statt (oder auf Campussen oder sonstwo), sind sie mit dem Ruch des Illegitimen behaftet. Da das Feuilleton aber nach wir vor eine stark abgeschottete Welt sei, kämen bestimmte Sichtweisen dort kaum vor. Gleichzeitig verweist Daub auf das Genre des Feuilletons, den Essay (in seiner deutschen Variante; meine Schüler*innen sind permanent davon verwirrt, dass „Essay“ im Deutsch- und Englischunterricht völlig unterschiedliche Dinge beschreibt). Dieser ist durch seine starke Subjektivität, lockeres Verhältis zu Fakten und Neigung zu sprachlicher Überdramatisierung geprägt, die ansonsten eher journalisitische Fremdkörper sind. Deswegen entfaltet der Cancel-Culture-Diskurs in Deutschland auch seine Eigenheiten.

Kapitel 8, „Aufmerksamkeit und Ökonomie“, beginnt mit der von mir auf dieser Seite auch schon oft gebrachten Feststellung (wenngleich von Daub empirisch unterfüttert), dass der Diskurs über das Gendern, Identitätspolitik und Cancel-Culture von rechts betrieben wird, während er in linkeren Kreisen bei weitem keine so große Rolle spielt. Daub spürt dabei Autoren wie Ulf Poschardt und Medien wie der NZZ nach, die diese Topoi besonders bedienen, und spricht in diesem Zusammenhang von einem „Abomodell“ – sowohl, weil die Cancel-Culture-Geschichten nachweislich Abonnentenzahlen treiben als auch, weil sie eine große Gleichförmigkeit aufweisen. Beide Faktoren wies bereits der Political-Correctness-Diskurs auf, auf dem die Cancel-Culture-Debatte basiert.

Abschließend macht Daub anhand des YA-Genres deutlich, wo die Gefahren einer Cancel Culture tatsächlich liegen. Hier werden prekäre Autor*innen ohne jeden Schutz im Sinne der Aufmerksamkeitsökonomie zu pointierten Statements gedrängt, um „Profil“ zu erwerben, und im Falle eines Shitstorms ohne Weiteres fallengelassen. Die Zahl der Professor*innen an US-Unis mit tenure hat sich in den vergangenen zwei Jahrzehnten ebenso halbiert wie die festangestellter Journalist*innen. Aber es sind arrivierte, privilegierte und sichere Leute, die sich über Cancel Culture echauffieren und ihre Befindlichkeiten thematisieren, nicht die eigentlich Bedrohten. Sie spielen im Diskurs auch praktisch keine Rolle.

Daubs Darstellung des Phänomens Cancel Culture ist ebenso erschöpfend wie treffend. Ich will gar nicht viel weitere Worte verlieren und es stattdessen uneingeschränkt empfehlen.

Caroline Elkins – Legacy of Violence: A History of the British Empire (Hörbuch)

Als Niall Ferguson 2018 sein Buch „Empire. How Britain made the modern world“ (Hörbuch) veröffentlichte, bekam er genau den Skandal, den er hatte provozieren wollen. Seine These, wonach das Empire trotz eventueller kleinerere Schwächen ein Plus für die Welt wäre, weil es ohne die britischen Tropenhelmträger weder die indischen Großstädte noch die heutigen Kulturen gäbe, stieß auf harsche Kritik derjenigen, die am receiving end der britischen Imperialpolitik gesessen hatten und noch heute unter deren Folgen zu leiden haben. Fergusons Sicht wurde, um es milde auszudrücken, kein neuer Konsens, sondern blieb als Kuriosum einer Sicht, über die in den 1960er Jahren noch niemand eine Augenbraue hochgezogen hätte übrig, ein Anachronismus der heutigen Debatte. Nirgendwo wurde das so deutlich wie im Statuensturz im Gefolge der #BlackLivesMatter-Proteste, die auch die koloniale Vergangenheit der europäischen Staaten, ob im Vereinigten Königreich, Deutschland oder Belgien, auf die Agenda rückte. Caroline Elkins legt nun eine Art Gegenentwurf zu Ferguson vor, indem sie in „Legacy of Violence“ den Blick auf die Gewaltstrukturen und ihre Herrschaftsformen wirft.

In ihrer Einführung beschreibt sie neben den erwähnten Statuenstürzen und Fergusons Sicht auf die Dinge eine Art mission statement: Gewalt sei aus der kolonialen Praxis nicht wegzudenken, sie gehörte zum Empire strukturell dazu. Im Verlauf der Geschichte des Empires nahm sie dabei in der Herrschaftspraxis immer mehr zu, was sicher auch mit dem steigenden Vermögen des britischen Staats zusammenhing, solche Gewalt überhaupt anzuwenden. Die Unterworfenen wurden, sofern sie sich wehrten, als Terroristen gebrandmarkt, ihre Wünsche nach Unabhängigkeit delegitimiert. Daran änderte der Erste Weltkrieg wenig, denn der Völkerbund legte explizit fest, dass viele Völker europäischer Führung bedürften. Auch die UNO-Charta sah noch einen expliziten Platz für die imperiale Ordnung, wenngleich alle Gewalt der Welt nicht half, das Empire nach 1945 zusammenzuhalten.

Gleichzeitig ist die imperiale Ordnung auch eine rassistische Ordnung, in der klare Abstufungen zwischen Ethnien und Kulturen in ihrer Wertigkeit vorgenommen wurden, eine rassistische Ordnung zudem, die eng mit dem Kapitalismus verknüpft war und eine merkwürdige Symbiose eines „rassistischen Kapitalismus“ einging, der für die Wirtschaft der Kolonialbeziehungen lange Zeit bestimmend gewesen sei. Natürlich war das Empire nicht das einzig gewalttätige Kolonialreich, weswegen Elkins auch aufzeigen will, wie es sich in Relation zu anderen verhält. Aber es war das größte, ist das am meisten in die Identität der Nation eingewebte und deswegen relevanteste.

Der erste Teil des Buchs soll dazu dienen zu zeigen, inwiefern das UK eine „imperial nation“ war.

In Kapitel 1, „Liberal Imperialism“, beginnt mit einem angeblichen Massaker an britischen Soldaten in Kalkutta, das zwar nicht wahr, aber als Kriegsgrund gegen Bengal sehr geeignet war. Dieser lockere Umgang mit der Wahrheit war für die weitere Entwicklung des Empires stilbildend.  Die hier eingeführte Argumentationslinie betonte rassistische Unterschiede zwischen den „wilden“ Eingeborenen und den „zivilisierten“ britischen Soldaten, deren Behandlung in der Heimat zu Aufuhr führte. Für Elkins ist die Episode ein Teil der Genese des „liberalen Imperialismus“, jener Ideologie, mit der Großbritannien sein Weltreich fortan legitimierte: dass das zivilisierte UK, als Spitze freiheitlicher Entwicklung, weniger entwickelte Kulturen an die Hand nehmen und auf den steinigen Weg zu eben dieser Freiheit geleiten müsse. Im Selbstverständnis der Kolonialmacht arbeitete man also hart daran, sich selbst überflüssig zu machen – irgendwann in der Zukunft, an einem Zeitpunkt, der natürlich zeit der Existenz des Empire niemals kam.

Dazu gehörte eine aktivere Rolle des Staates im Empire. Die Rolle der großen privaten Gesellschaften wie der East India Company neigte sich dem Ende zu. Mit gehörigem Zynismus und Heuchelei nutzte der imperiale Staat das impeachment-Verfahren gegen General Hastings in den 1770er und 1780er Jahren durch den Kolonialkritiker Burke, um einerseits seine Ideologie zu präsentieren (indem es im Prozess die entsprechenden Normen postulierte) als auch der Entmachtung der Company, die nach der „Indian Mutiny“ in den 1850er Jahren ihren Abschluss finden würde.

Der Staat sprach zwar eine Sprache der Erziehung und der liberalen Werte, doch der zunehmende Einfluss der britischen Kolonialbürokratie ging mit einer stärkeren Repression einher. Der Kriegszustand (martial law) wurde immer wieder genutzt, um weitreichende Regelungen durchzusetzen und die Bevölkerung unter die Kontrolle einer winzigen weißen Minderheit zu zwingen. Diese Regeln fußten auf zwei Säulen: einerseits nackter Gewalt, die sich aus dem Kriegsrecht ableitete und die beim geringsten Anzeichen von Unruhen drakonisch angewendet wurde, und andererseits einer rassistischen Gliederung: volle Rechte besaßen nur Weiße, während die indigenen Völker als auf niedrigerer Entwicklungsstufe stehend klassifiziert und rechtlich bestenfalls wie Kinder behandelt wurden.

Dieses Kriegsrecht entwickelte sich in eine Art Parallelrecht für Briten, denn die Indian Mutiny zeigte den britischen Eliten, dass die „braunen“ Völker noch bei weitem nicht „bereit“ für die Segnungen der britischen Freiheit waren. Innerhalb des UK setzte sich ohnehin die Überzeugung durch, dass die „braunen“ Völker niemals gleichberechtigte Briten sein könnten. Die Briten zogen sich aus der örtlichen Verwaltung zurück – nachdem sie diese den vorherigen Unternehmen entzogen haben – und überließen es den örtlichen Eliten, die Bevölkerung nach britischen Maßgaben zu unterdrücken.

Über die Schriften John Stuart Mills und die imperiale Propaganda der viktorianischen Ära vervollständigt Elkins die sich herausbildende Ideologie des liberalen Imperialismus: sie wirkte immer mehr als eine verbindende Klammer, die gleichzeitig den britischen Unterschichten eine Identifikationsmöglichkeit gab, die ihnen Status gab, der in der ridigen Klassengesellschaft zuhause verwehrt blieb (ich finde die Parallele zum Rassensystem Dixielands frappant). Je liberaler Großbritannien selbst wurde, desto mehr rechtfertigte es die Unterdrückung in den Kolonien, indem es rassistische Kategorien aufmachte und auf die Verwaltung anwandte (und so etwa das indische Kastenwesen erst aus der Traufe hob). Diese Strukturen mussten dann mit Gewalt durchgesetzt werden.

Das zweite Kapitel, „Wars small and great“, beschäftigt sich mit eben dieser Gewalt. Beginnend mit dem Boer-Krieg, in dem die Briten ihr Kolonialreich gewaltsam nach Südafrika ausdehnten, zeigt sich die Ambivalenz ihres kolonialen Projekts: einerseits wandte man sich gegen den offenen Rassismus der Boer, andererseits zwang man dem Land ein ähnliches, wenngleich nicht gar so krasses System auf – und als der Krieg sich schier endlos zu ziehen schien und in einem Kompromissfrieden endete, ließ man ihnen für fast ein Jahrhundert freie Hand, ihr System innerhalb des Empire anzuwenden. Der Krieg selbst ist notorisch wegen der Verwendung von Konzentrationslagern – doch Elkins betont, dass die Briten solche Lager bereits zuvor verwendeten.

Seit Mitte des 19. Jahrhunderts sperrten die Briten ihre Gegner – und wen sie dafür hielten – in große Lager. Diese wurden schnell zu Todesfallen, und das nicht nur wegen der Zustände selbst. In einer geradezu absurden Vorgehensweise reagierten die Briten auf Pandemien, indem sie die betroffene Bevölkerung in hygienisch unterentwickelte Lager steckten, und zwangen unternernährte und kranke Insassen zu harter körperlicher Arbeit, um sie zu „reformieren“. Die Ergebnisse überraschten niemanden, auch nicht die britischen Kolonialbehörden, die sich in ihren Vorurteilen gegenüber den „faulen Wilden“ bestätigt sahen.

Diese Entwicklung von Lagern und effektivem Massenmord war gegenläufig zur Kodifzierung von Konflikten: die Genfer Konvention und die Haager Landkriegsordnung wurden in dem gleichen Zeitraum in Vertragsform gegossen, in der die Briten in ihren Kolonien massive Gewalt ausübten. Darin wurde kein Widerspruch gesehen: Kriege waren die Angelegenheit von Staaten, und die Kolonien waren keine. Es handelte sich um „innere Angelegenheiten“. Auch die zur Schau gestellte Aversion der Briten gegen Eroberungskriege war problemlos mit ihrem Kolonialreich vereinbar: die Inder etwa hätten ihre Souveränität mit dem Untergang der Moghuln verwirkt, sie hätten sich also „selbst erobert“.

Diese rassistische Gewaltstruktur erstreckte sich auch nicht nur auf „braune“ Untertanen des Empire. In Irland wurde mit derselben Sprache kultureller Unterlegenheit ein Regime aufgebaut, das ab 1871 direkt auf dem Kriegsrecht fußte: die Regierung konnte nun Menschen verhaften und vor Kriegsgerichten aburteilen, und diese Entscheidungen waren explizit von jedem Berufungsverfahren ausgenommen. Die Irish Constablery Force entwickelte sich zu einer Art Terrorpolizei, und die inkompetent harsche Reaktion auf den Osteraufstand 1916 mit über 500 Toten, zahlreichen zerstörten Gebäuden und willkürlichen Justizmorden verschob die Sympathien auf der Insel erstmals ins republikanische Lager.

In Kapitel 3, „Legalized Lawlessness“, geht einmal mehr auf die Ambivalenz des liberalen Imperialismus ein. Einerseits versteht man sich als eine rechtsstaatliche Nation, hält die rule of law als größte britische Errungenschaft und als Endpunkt des imperialen Projekts hoch. Anders als andere Kolonialreiche hat man den Anspruch, die Kolonien zu diesem Zustand der Rechtsstaatlichkeit zu bringen. Andererseits aber befindet sich das Kolonialreich in einem Status der „legalen Rechtslosigkeit“ (Elkins). Dieser zeigt sich vor allem an der Unterdrückung von Protest.

Von Indien über Südafrika bis Irland zieht Elkins eine Kontinuitätslinie, in der die Kolonialbeamten – denen als „man on the spot“ riesiges Vorschussvertrauen und praktisch keine Aufsicht entgegengebracht wird – jeden Protest als offene Rebellion betrachten, die es niederzuschlagen gelte. Das Rebellieren, davon waren die Kolonialbeamten überzeugt, „lag den niederen Rassen im Blut“. Aber das Resultat – blutige Massaker, bei denen britische Truppen wahllos in Zivilisten schossen – vertrug sich nicht dem Image des aufgeklärten Kolonialismus, weswegen es zu Aufschreien im Empire führte.

Dabei kristallierte sich eine Art Muster heraus, das wir bereits aus Kapitel 1 kennen: die Massaker wurden als Einzelfall hingestellt, als bedauerliche Entgleisung einzelner Beamter, die aber grundsätzlich eine harte Pflicht zu tun versuchten. So dienten die Massaker selbst als Reaffirmationen britischer Überlegenheit und Kultur, indem den Tätern rhetorisch auf die Finger geklopft und offiziell festgestellt wurde, dass das restliche britische koloniale Projekt einwandfrei war.

Das vierte Kapitel, „I’m merely pro-British“, beginnt mit einem Blick in den Nahen Osten 1919ff. Dort ergaben sich für das Empire zwei grundsätzliche Neuerungen. Die eine war die Einführung von Flugzeugen. Diese erlaubten dem Empire, Gewalt wesentlich schneller und kostengünstiger als bisher auszuüben. Alleine im Irak warf die RAF bis 1924 über 100.000 Tonnen Bomben ab und führte zig Tieffliegerangriffe durch, denen zahlreiche Zivilisten zum Opfer fielen. Den Wünschen der Offiziere, Senfgas nutzen zu dürfen („noch effektiver als Schrapnellbomben“) wurde aus humanitären Erwägungen dann aber doch nicht entsprochen. Für mich waren die Ähnlichkeiten zur Drohnenkriegführung von heute frappant.

Die andere Entwicklung war die Herausbildung der militärischen Geheimdienste, vor allem MI5 und MI6, die die Kolonien infiltrierten und die Ordnung im britischen Sinne aufrechtzuerhalten versuchten. Ihr damals berühmtestes Mitglied, Lawrence („von Arabien“), war allerdings mehr ein PR-Gag: Elkins verweist darauf, dass das kriegsentscheidende die technologische Überlegenheit der Briten gewesen sei, nicht die Abenteuer Lawrences.

Eine wichtige Rolle spielte auch der Völkerbund: Großbritannien verhinderte Artikel zur Gleichstellung aller Nationalitäten und nutzte das Mandatssystem zur letzten großen Ausweitung des Empire. In der Theorie entstand nun zum ersten Mal eine Verbindlichkeit hinter der Behauptung des liberalen Imperialismus, nur eine Treuhandfunktion für „unterentwickelte“ Rassen zu übernehmen, weil die Mandate mit wesentlich robusterer völkerrechtlicher Sprache ausgestattet waren. In der Praxis machten die Briten aber keinerlei Unterschied zu ihrer bisherigen Herrschaftspraxis und dachten gar nicht daran, Unabhängigkeit zuzulassen. Für Elkins wurde der Völkerbund so Mittäter im kolonialen Gewaltsystem.

Kapitel 5, „Imperial Convergence“, befasst sich mit der anderen Seite der nahöstlichen Medaille: der jüdischen Einwanderung nach Palästina und dem Arabischen Aufstand 1935 (der war übrigens auch Thema dieses lesenswerten Buches). Die Briten hatten keine besondere Zuneigung gegenüber den Juden; harscher Antisemitismus war in der britischen Oberschicht Gang und Gäbe. Im Ersten Weltkrieg hatte man aber aus Opportunismus sowohl Juden als auch Arabern eine nationale Heimstatt versprochen – unvereinbare Versprechen, die Großbritannien nun zu unterdrücken hatte.

In den 1920er Jahren sieht Elkins die britischen Sympathien eher bei den Arabern. Obwohl die Briten etwa im Irak massive Gewalt anwendeten, um die arabische Bevölkerung ruhig zu halten, war das öffentliche Bild immer noch von Lawrence-von-Arabien-Romantik geprägt. Das änderte sich zuerst schleichend mit der Feindstellung des nun nationalsozialistischen, antisemitischen Deutschland, das sich der Sympathien der Araber zu versichern versuchte, und schlagartig mit dem Arabischen Aufstand, der nicht nur eine gewaltige Unruhe in die Region brachte, sondern auch von Paranoia gegenüber deutscher Einflussnahme durchzogen war (nicht zu Unrecht, wenngleich deren Möglichkeiten dramatisch überschätzend).

Die dem Kapitel ihren Namen gebende „imperiale Konvergenz“ zeigte sich in den Parallelen zwischen Irland, Palästina und Bengal. Die Black and Tans, die nach der irischen Unabhängigkeit von der Insel abgezogen wurden, wurden direkt in Palästina und in Bengal eingesetzt und machten sich ihre Anti-Terror-Erfahrungen dort zunutze. Ein Dreivierteljahrhundert vor Abu Ghraib errichteten die Briten eine Gefängnisinsel mitten im Indischen Ozean, ohne Kontrolle, voller monatelanger Isolationshaft, katastrophaler hygienischer Bedingungen und Folter, in die politische Gefangene ohne Prozess und ohne Spur Jahre, teilweise sogar Jahrzehnte inhaftiert wurden. Die im irischen Guerillakrieg geschulten Beamten gingen entschlossen vor, errichteten befestigte Lager (die mich an die fortified places im Vietnamkrieg erinnern) und kämpften von dort gegen die Aufständischen.

Wer genau das war, war nicht immer klar. Besonders in Palästina gab es viele Beamte, die vom Arabienkitsch eines Lawrence von Arabien beeinflusst eher auf Seiten der Araber waren (bis diese sich offen gegen das Empire auflehnten), aber einflussreiche Evangelikale unterstützten, das Alte Testament zitierend und ihre Mordkommandos „Gideons Nachtwache“ nennend, die Juden. An manchen Stellen erinnert die britische Kolonialpolitik an eine Art Stellvertreterkrieg. Kein Wunder, dass die Kolonialtruppen dieses selbst angerichtete Chaos 1948 bereitwillig Hals über Kopf verließen.

Diese Mordkommandos jedenfalls waren klar anti-arabisch eingestellt und rekrutierten in großer Zahl einheimische Juden, die sie in Guerillakampf und Terrortaktiken ausbildeten. Die brutale Gewalt, die die britischen Truppen im Konzert mit diesen Milizen ausübten, brach den arabischen Widerstand bis zum Sommer 1939 weitgehend und hinterließ eine Spur der Verwüstung in Palästina – eine Friedhofsruhe, die den Briten im beginnenden Zweiten Weltkrieg sehr gelegen kam und die sie keinesfalls aufs Spiel setzen wollten.

Der zweite Teil, „Empire at War“, befasst sich dann eben mit dem Zweiten Weltkrieg, allerdings aus imperialer Perspektive. Elkins beginnt ihre Erzählung mit dem Fall Singapurs, das 1942 von japanischen Truppen erobert wurde. Die Einnahme der Stadt war die größte militärische Katastrophe des Empires seit Yorktown, und sie beruhte auf einem arroganten, rassistisch motivierten Überlegenheitsdünkel. Es ist Winston Churchill, der hier wieder einmal nicht besonders vorteilhaft auftaucht: nicht nur ignoriert er mit solch rassistischen Argumenten die dringenden Warnungen Wavells, sondern gerät dann auch noch in Panik und trifft schlechte Entscheidungen. Der Versuch der Briten, nach der Niederlage mit ihren in Irland, Palästina und Bengal (wo sonst) ausgebildeten und erfahrenen Resttruppen einen Guerillakampf zu führen und Singapur wieder zurückzuerobern zeigen für Elkins die Mentalität, das Empire direkt nach dem Krieg unverändert wiederherzustellen.

Kapitel 6, „An Imperial War“, befasst sich dann mit der Natur des Krieges als „importierter“ Krieg. Die Kolonien und Dominions hatten mit dem Konflikt in Europa ja herzlich wenig zu tun (die Charakterisierung ist für die asiatischen Kolonien angesichts der japanischen Pläne etwas dubioser) und wurden durch das Mutterland, dessen einzige Chance die Nutzung der Wirtschaftskraft und menschlichen Ressourcen eben dieser imperialen Gebiete war, in den Konflikt gezogen. Elins zeichnet hier das Bild eines Empires, das keinerlei Zweifel daran hegt, dass der Krieg nichts an seiner Struktur ändern wird.

Das kuriose Fehlen von Kriegszielen – abgesehen von einem nebulösen „den Krieg gewinnen“ – scheint in direktem Kontrast zum Konzept des „liberalen Imperialismus“ zu stehen, denn Churchill und die meisten anderen Briten (mit der Ausnahme von Lord Halifax) lehnten die Verteidigung liberaler Werte als offenes Kriegsziel entschieden ab – in der richtigen Erkenntnis, dass sich daraus in den Kolonien Ansprüche ableiten würden. Es war das amerikanische Engagement, das die Verteidigung liberaler Rechte aufs Tapet brachte, erst durch die Sprache der Lend-Lease-Verträge und dann mit der zunehmenden amerikanischen Intervention in offiziellen Dokumenten, die Großbritannien zwang, ähnliche Erklärungen abzugeben.

Es überrascht wenig, dass die Methoden des Kriegsrechts, mit denen Großbritannien seine Kolonien seit dem 19. Jahrhundert regierte, 1940 ihren Weg zurück ins Mutterland fanden. Inhaftierung ohne Anklage und Prozess, Foltergefängnisse, Aussetzung von Bürgerrechten und Überwachung wurden zum Alltag. Das Framing dieser Maßnahmen als eine Art backlash imperialer Methoden geht mir aber zu weit. Dass im Krieg, noch dazu in einem so umfassenden wie dem Zweiten Weltkrieg und unter der Regierung eines Mannes wie Churchill, Kriegsrecht angewendet wird, ist wenig überraschend. Hier ist die Einbindung in die Kolonialgeschichte dünn, wird die methodische Schwäche von Elkins’s Ansatz besonders sichtbar.

Interessanter ist da die erst spät diskutierte demografische Zusammensetzung der Armee. Dass etwa Montgomerys berühmte 8. Armee in El Alamein zu 75% (!) aus Nicht-Briten bestand, war mir bisher nicht klar und wird in populären Weltkriegsdarstellungen – und in der britischen Erinnerung sowieso – auch nicht deutlich. Damit hält sie sich aber wesentlich weniger auf als mit dem Wirken der in Bengal geschulten Spezialtruppen auch auf anderen Kriegsschauplätzen.

Das siebte Kapitel, „A War of Ideas“, kehrt dann zum Leitthema des „liberalen Imperialismus“ zurück. Offensichtlich hatten die Briten an der Propagandafront genug zu tun, um in einem Kampf für Freiheit und Liberalismus gleichzeitig ihr Empire zu verteidigen. Die Angriffe seitens der Amerikaner, die in Kapitel sechs bereits ein Thema waren, waren zwar gedämpft und mit Rücksicht auf den gemeinsamen Kriegsgegner von Rücksichtnahme geprägt; die amerikanische Ablehnung des Empire aber, die mit den militärischen Niederlagen der Briten gegen die Japaner noch wuchs, war aber offenkundig.

Überhaupt, die Niederlagen. Auch in den Kolonien selbst wuchs der interne Widerstand mit den Niederlagen gegen Japan 1942 und der Drohung eines japanischen Einmarschs in Indien stark an. Zum Glück für die Briten waren sowohl die japanischen als auch die deutschen Pläne und Zukunftsvisionen noch unattraktiver als ihre eigenen, so dass der Großteil der Kolonien treu zur Krone stand – wenngleich mit der klaren Erwartung, dafür in Zukunft mit mehr Souveränität belohnt zu werden. Hier hätte in meinen Augen der Vergleich mit den kolonialen Ambitionen Japans und Deutschlands durchaus fruchtbar sein können – genauso wie eine Untersuchung der grundsätzlichen Attraktivität eines Seitenwechsels in einem Krieg. Die Lage in den Kolonien wäre in einem hypothetischen Krieg gegen die Sowjetunion mit ihrer wesentlich verheißungsvolleren Ideologie mit Sicherheit eine andere gewesen, wie die Nachkriegsgeschichte ja dann auch zeigen würde.

Vorerst aber standen die radikalen Kolonialismusgegner*innen noch alleine, wenngleich ihre Zahl scharf annahm. In Großbritannien selbst kamen sie fast ausnahmslos aus der linksradikalen Ecke und spalteten sich angesichts der staatstragenden Haltung von Labour schnell von der Mutterpartei ab. In den Kolonien überwogen auch linke Ansätze, waren aber bunt mit verschiedenen Nationalismen gemischt. Elkins beschreibt eine Menge dieser Bewegungen, die aber letztlich alle gemein hatten, dass sie ohne einen militärischen Erfolg der Achsenmächte auf verlorenem Posten standen – und im Falle eines solchen wahrscheinlich vom Regen in die Traufe geraten wären, was, einmal mehr, in Elkins Darstellung leider nicht ansatzweise deutlich genug zutagetritt.

Die Briten erhielten indessen eine Fiktion zweier getrennter Welten aufrecht: einmal war da Europa, wo eine Wegnahme von einmal gewährter Souveränität wie etwa im Falle Polens undenkbar und die Wiederherstellung oberstes Kriegsziel war, während im Rest der Welt weiterhin das Diktum galt, dass die „braunen“ Teile des Empire in verschiedenen Unreifestadien und allenfalls des Dominion-Status würdig waren, nicht aber voll gleichberechtigte Mitglieder des Commonwealth werden konnten. Dieses Konstrukt mochte im Krieg zwar noch halten – die massive Repression eines noch verschärften Kriegsrechts, Elkins Lieblingskonstruktion der „legal lawlessness“ zum Dank -, geriet aber immer mehr von allen Seiten unter Beschuss, gleich wie emphatisch es von den Empirebefürworter*innen verteidigt werden mochte.

Das achte Kapitel, „Partnership“, kehrt erneut in den Nahen Osten zurück, wo die Briten mittlerweile voll mit den Zionisten kooperierten und mehrere bewaffnete und trainierte jüdische Verbände aufgestellt hatten, die ihnen gute Dienste leisteten. Doch die Zusammenarbeit war bei weitem nicht so reibungslos, wie es sich Whitehall vermutlich erhofften, denn die Zionisten erwarteten offen eine Revision des „White Paper“ von 1939 und die Transformation der Region in einen jüdischen Staat, der durch massive Einwanderung geschaffen werden sollte. Der Konflikt ging soweit, dass die radikalen Zionisten Großbritannien 1943 offiziell den Krieg erklärten und mitten im laufenden Krieg einen Guerillakrieg gegen die Besatzungsmacht begannen, der nach Kriegsende mit unvermittelter Wucht weitergehen würde.

Ein Terrorattentat auf den britischen Gouverneur, einem persönlichen Freund Churchills, änderten die britische Haltung grundlegend. Zwar verzichtete das Empire darauf, massiv gegen die Zionisten vorzugehen, und vertraute stattdessen darauf, dass deren moderate Mehrheit ihre radikalen Brüder im Zaum halten würde (was auch weitgehend gelang). Dies geschah jedoch weniger aus einer Einsicht in die Fehlbarkeit der bisherigen Unterdrückungspolitik als vielmehr wegen der mangelnden Ressourcen: die Truppen waren während des Krieges schlicht nicht verfügbar.

Eine andere Partnerschaft machte den Briten im Empire ebenfalls Probleme: die mit den USA. Zwar hielt sich Roosevelt zurück, doch die Rhetorik der „Vier Freiheiten“, die er bei jeder Gelegenheit von sich gab und die die Gründungsdokumente der Atlantik-Charta und Vereinte Nationen durchtränkte, war schwer mit Großbritanniens Haltung vereinbar. Am Ende allerdings gewann die Realpolitik: die USA hatten keinerlei Interesse, den Fehler von 1919 zu wiederholen und ihre Prinzipien ernstzunehmen. Die UNO wurde stattdessen auf machtpolitischen Grundlagen gebildet. Was das für Osteuropa bedeutete, kann man gut bei Applebaum nachlesen; für die Kolonien des Empire änderte sich praktisch nichts. Zwar protestierten die Vertrter der Kolonien stark dagegen; gehört allerdings wurden sie nicht.

Das Kriegsende brachte daher, wie Kapitel 9, „An Imperial Resurgence“, deutlich zeigt, keine offensichtliche Änderung für die Kolonien mit sich. Der überragende Wahlsieg Labours 1945, der Churchill und seine Konservativen aus dem Amt drängte und einen tiefgreifenden innenpolitischen Wandel für das Vereinigte Königreich mit sich brachte, änderte so gut wie nichts in den Kolonien. Ob Arbeiterklasse oder Eton-Abgänger; mit Ausnahme einiger progressiver Intellektueller wie George Orwell gehörte die Empirebegeisterung ins Repertoire der Folklore.

Der Krieg und seine enormen Kosten erhöhten den Bedarf nach solcher Folklore noch: beinahe mehr als unter Königin Victoria feierte Großbritannien das Empire. In den Schulen wurde ein „ans Religiöse grenzender“ Empire-Patriotismus gelehrt, der zart wachsende Wohlstand wurde dem Empire zugeschrieben; das Marketing war voll Empire-Kitsch, und trotz fehlender Sachkenntnisse über selbst die rudimentäre Geografie des Reichs in weiten Teilen der britischen Bevölkerung (die wohl durchaus vergleichbar mit der heutigen amerikanischen Ignoranz sein dürfte) waren die 1950er und 1960er Jahre eine Hochzeit der Empire-Begeisterung. Ihren Höhepunkt markierte die Thronbesteigung Elizabeth II., die in einer langen und präzedenzlosen Empire-Rundreise direkt Thron, Empire und britische Bevölkerung miteinander verband. Kein Wunder, dass britische Linke heute so ablehnend gegenüber dieser Monarchie dastehen; die Verstrickung der Windors in die koloniale Gewaltherrschaft wird in Deutschland ja auch gerne zugunsten von Royals-Kitsch ausgeblendet.

Nun war aber die Labour-Regierung am Ruder. Damit änderte sich für das Empire – nichts. Die außenpolitisch versierten Empire-Kritiker Labours, ohnehin eine kleine Minderheit, kamen nicht einmal in die Nähe von Außen- und Kolonialministerium. Stattdessen wurden Leute wie Bevin ohne jede außenpolitische Erfahrung aus parteitaktischen Motiven in die entsprechenden Posten befördert. Besonders Bevin war ein instinktiver Imperialist, der konservativen Hardlinern in nichts nachstand. Die zerrüttete Wirtschaft, die Churchill seiner Nachfolgeregierung hinterlassen hatte, schränkte die Spielräume denn auch harsch ein.

Nicht, dass Labour diese hätte nutzen wollen. Während man in Großbritannien ein engagiertes und bewundernswertes Reformprogramm began, wurde das Empire auf eine Weise ausgebeutet, die selbst konservative Regierungen vor Neid erblassen ließ. Vorrangig geschah dies über Währungsmanipulationen. Da die Währungen der Kolonien zu 100% oder sogar 110% an das Pfund Sterling gekoppelt waren, konnte die Bank of England die Währung zum Vorteil Großbritanniens manipulieren. Das Mutterland verbot den Kolonien den Import amerikanischer Waren, so dass die Kolonien (inzwischen Gläubigerländer Großbritanniens) jedes Jahr hunderte Millionen Dollarüberschüsse anhäuften, mit denen Whitehall seine Lend-Lease-Schulden bedienen konnte.

Gleichzeitig konnte Großbritannien seinen riesigen Arbeitskräftebedarf nicht nur umfangreiche Demobilisierungen decken, weil es sowohl für die Besatzung Deutschlands als auch die unmittelbar fortsetzenden Kolonialkriege (vor allem in Palästina und Bengalen, siehe Teil III) eine Präsenz vor Ort benötigte. Die Aufrechterhaltung des Empire-Status kostete Unsummen, und vom Empire-Status wiederum hing die ohnehin tendenziöse Einordnung als dritte Macht der „Big Three“ ab. Ein letztes Exportgut des Empire waren die Foltergefängnisse, die während des Krieges aus den Kolonien ins Mutterland und nun vom Mutterland nach Deutschland exportiert wurden. Nicht, dass die Briten damit Gestapo oder NKWD etwas vorgemacht hätten, aber ein dunkler Fleck in der Geschichte der immer noch trotzig behaupteten moralischen Überlegenheit des „liberalen Imperialismus“ war es natürlich dennoch – wenn diese Geschichte noch mehr dunkler Flecken bedurft hätte.

Teil drei, „Trysts with Destiny“, beginnt mit der Rede Nerus, aus der das Zitat stammt: Indien habe „eine Affäre mit dem Schicksal“. Selbige „Affäre“ bestand aus der Unabhängigkeit, aber nicht eines Landes, sondern zweien: Indien und Pakistan. Der Mann, den Clement Attlee nach Kalkutta sandte, um das Land zu teilen, war ein arroganter Adeliger voll endlosem Selbstbewusstsein: Count Mountbatten. Er erhielt bis 1948, um die Macht ordnungsgemäß an zwei neue Staaten zu übergeben.

Im zehnten Kapitel, „Glass Houses“, verfolgt Elkins die Geschichte dieser Machtübergabe. Indien war das titelgebende „Glasshaus“, und an Steinewerfern (eine naheliegende Metapher, die Elkins nicht nutzt) mangelte es wahrlich nicht. Radikale Hindus terrorisierten sowohl Muslime als auch moderate Hindus (Ghandi sollte einem der ihren zum Opfer fallen), während sich die radikalen Muslime ihrerseits revanchierten. Die Sikh indessen saßen zwischen allen Stühlen. Auch wenn weiße Narrative diese Art ethnischer Gewalt gerne der Unterentwicklung der entsprechenden Regionen zuschreiben, so postuliert Elkins doch klar, dass die rassistischen Hierarchien der Briten sie über Jahrzehnte maßgeblich vorbereitet hatten.

Der Plan der Briten, für Ordnung zu sorgen und das Land zu teilen, wäre daher schon unter normalen Umständen fast unmöglich. Doch sie waren keine neutralen Vermittler in Blauhelmen. Vielmehr hatten sich bereits im Krieg mit den Aufstandsbewegungen der Nationalisten in der Indischen Nationalarmee (INA) Märtyrer gebildet, die auch vor einem Bündnis mit Faschisten nicht zurückschreckten. Die plumpen Versuche der Briten, solche ehemaligen Kollaborateure im Stil Nürnbergs anzuklagen – völlig unsensibel auch noch an den Orten, die sie vorher für politisch-willkürliche Schauprozesse nutzten – riefen Welle um Welle politischer Gewalt hervor, der die Kolonialtruppen in eingeübter Weise begegneten. Die Region war ein Pulverfass.

Mountbatten entschied daher, dass die Würze in der Kürze liegt, gab unilateral einen Unabhängigkeitstag zehn Monate vor Ende der Deadline bekannt (die er mit dem Burnout der Kolonialbürokratie begründete) und machte sich daran, Grenzen festzulegen. Seine Priorität war das Erhalten des Anscheins, und so kam dem Uniformzeremoniell am Tag der Flaggenhissung mehr Aufmerksamkeit zu als dem Schutz von Millionen, die nun auf der Flucht waren – und von Todesschwadronen niedergemetzelt wurden.

Nirgendwo tauchten die methodischen Schwächen von Elkins‘ Werk so sehr auf wie in diesem Kapitel. Zwar wurden Vorkommnisse wie die von Churchill ausgelöste Hungersnot in Bengal 1943 immer wieder erwähnt und werden die inner-indischen Konflikte, die die Kolonialmacht selbst geschürt hatte, immer wieder gestreift. Aber letztlich bleibt der Blick bei aller vernichtenden Kritik am Empire stets der der Weißen, bleibt die Betrachtungsweise immer fest auf die Briten selbst gerichtet. Dem Verständnis steht das allzuoft im Wege.

Ähnlich sieht die Lage in Palästina, einem anderen Glashaus. Hier beginnt direkt nach dem offiziellen Ende des Weltkriegs der Guerillakrieg der radikalen Zionisten gegen die Mandatsmacht – und die britische Hoffnung, aus der Region billiges Öl zu beziehen und damit den Wiederaufbau zu befeuern. Die Briten führten einen wahren Eiertanz auf, um die moderate Jewish Agency nicht ins Lager der Radikalen zu treiben, was aber darauf hinauslief, den jüdischen Terroristen freie Hand zu lassen. Truman indessen begann, eine schützende amerikanische Hand über diese zu halten, was Elkins mit innenpolitischen Anreizen („wir haben hunderttausende jüdische, aber keine arabischen Wählenden“) und außenpolitischer Unerfahrenheit Trumans und Beeinflussung durch zionistisch gesinnte Berater erklärt, was durchaus stimmen mag, in der Kürze aber in gefährliche Nähe antisemitischer Stereotype gerät.

Ein großer Unterschied des Kampfs in Palästina gegenüber dem in Indien und anderswo im Empire war in jedem Fall die Öffentlichkeitsarbeit: die Zionisten waren sehr gut daran, ihre Botschaften in der liberalen Presse zu lancieren, und zum ersten Mal erlebte Großbritannien den Verlust der Meinungshoheit: ihre Gewalttaten wurden recherchiert, aufgedeckt und angeprangert. Der Widerspruch zwischen den propagierten Werten und den Behauptungen offizieller Stellen gegenüber dem Geschehen vor Ort machte dem Land massive Probleme – eine deutliche Parallele zu Vietnam und Irak später.

In Kapitel 11, „Exit Palestine, Enter Malaya“, endet dann das Drama in Palästina. Die Briten standen mit der Irgun einem Gegner gegenüber, der offen selbst das Macht- und Gewaltmonopol beanspruchte und das dank der Verankerung in der Gesellschaft auch vielerorts durchsetzen konnte. Die britischen Repressalien waren dagegen ungeheuer grob und verschlimmerten die Lage nur weiter, während die Öffentlichkeitsarbeit vor allem in den USA die Stimmung gegen die Mandatsmacht wandte. Die Briten hofften, das Dilemma zu lösen, indem sie die heiße Kartoffel der UNO übergaben. Doch die entschied für einen Teilungsplan – und nicht für die Araber, wie die Briten gehofft hatten.

Vor die Wahl gestellt, entweder mit massivem Einsatz und ebenso massiver Gewalt die Irgun zu unterdrücken oder das Land zu verlassen, entschieden sie sich für Letzteres. 1948 verließen die Briten das Land endgültig, während um sie herum bereits der Unabhängigkeitskrieg tobte – den Israel dank des jahrelangen britischen Trainings und der britischen Ausrüstung gewinnen würde, die ihm einen unermesslichen Startvorteil verschafften. Die bereits in Bengal und Irland geprägten Beamten nahmen ihre neuen Anti-Terrorerfahrungen in neue Schauplätze mit, vor allem an die Goldküste und nach Malaya, die nun die neuen Brennpunkte des imperialen Abwickelns wurden.

An der Goldküste traf die rassistische Grundeinstellung der Briten zum ersten Mal auf die kommunistische Ideologie. Die Beamten stellten zwar fest, dass „die Nigger keine Ahnung vom dialektischen Materialismus haben, sondern nur der Seite beitreten, die ihnen verspricht, dass Nigger sich selbst verwalten dürfen“, fand aber außer den üblichen Terrortaktiken keinen anderen Ansatz gegenüber der Unabhängigkeitsbewegung.

Noch krasser war es in Malaya: nach drei Jahren erbitterter Dschungelkämpfe gegen die Japaner waren die Einheimischen überzeugt, dass die angebliche rassische Überlegenheit der Briten nichts als eine hohle Phrase war. Der Versuch des Empires, sie einfach zu demobilisieren und zum Status Quo zurückzukehren, trieb die ehemaligen Guerillas – ausgerüstet und ausgebildet von den Briten selbst – den Kommunisten in die Arme. Die „Palestinians“ (also die Truppen aus Palästina) begannen auch sofort mit ihrer Ankunft in Malaya, dort dieselben Terrortaktiken wie in Palästina anzuwenden – mit demselben Erfolg. Noch schwerwiegender wirkte sich das Verbot aller Parteien außer der des Sultans aus, der den Briten gegenüber loyal war; zehntausende wurden in den Untergrund getrieben, wo die kommunistische Guerilla sie aufsaugte.

Das zwölfte Kapitel, „Small Places, Close to Home“, beginnt mit der Frage an Eleanor Roosevelt anlässlich der Verabschiedung der UN-Menschenrechtscharta, wo die darin implizierten Veränderungen beginnen sollten. „In small places, close to home„, antwortete Roosevelt. Sie meinte die Familien, in denen etwa Frauen endlich die ihnen nun auch verbrieft zustehenden Rechte einfordern sollten. Auch Großbritannien gehörte zu den Unterzeichnerstaaten der Charta. Doch Ausnahmebestimmungen, die Elkins im Detail erläutert, erlaubten es dem Empire, analog zur damaligen Völkerbundsatzung für sich in Anspruch zu nehmen, dass die Charta nicht in den Kolonien gelte.

Die „small places, close to home“ in diesem Kapitel sind daher auch nicht die Durchsetzungsorte der Menschenrechte, sondern die detention camps, die die Briten überall in Malaya eröffneten (wie sie es zuvor auch schon in anderen Kolonien taten). Da die Briten den propagandistischen Kampf gegen die kommunistische Guerilla verloren – praktisch niemand sprach die Landessprachen, von den regionalen Dialekten ganz zu schweigen, und die Flugblätter, die unterschiedslos in den Dschungel geworfen wurden, enthielten so inspirierende Botschaften wie „cooperate with the police – big reward!„, während die Kommunisten die Sprache der Ansässigen sprachen und, vor allem, präsent waren – verlegten sie sich umso mehr auf Terrortaktike.

Deren Grundlage war einmal mehr eine dumpf-rassistische Kategorisierung. In Malaya lebte eine große chinesischstämmige Minderheit (wenngleich oft seit Generationen), und da die Volksrepublik 1949 als kommunistische Diktatur gegründet worden war, identifizierten die Briten die Chines*innen als „Kommunisten“. Ihre Häuser und Dörfer wurden niedergebrannt (was die Behörden gerne als „freiwilliges Verlassen der Slums“ verbrämten), die Menschen in Lager gesperrt und von dort illegal nach China deportiert (die britische Regierung bestach norwegische Handelskapitäne, die menschliche Fracht nach China zu bringen). Einmal von der Menschlichkeit abgesehen, mittellose Flüchtlinge ohne lokalen Bezug während des „Großen Sprungs nach vorn“ in Maos Diktatur abzuladen, nahm China aber viele der Menschen ohnehin nicht an, weil es sie nicht als Chines*innen akzeptierte – wenig überraschend, bedenkt man wie lange die Menschen schon nicht mehr in China gewesen waren. So entstanden Elendslager voller Menschen in katastrophalen Bedingungen.

Gleichwohl war die Strategie nicht ohne Erfolg. Die Terrorkampagne der Kommunisten mit ihrem Verbrennen von Gummibaumplantagen una Angriffen auf Kollaborateuren sorgte dafür, dass ein Großteil der Bevölkerung sich weniger kommunistischen Zielen hingezogen fühlte als vor allem den Krieg überleben wollte und die Köpfe einzog. Wie jedoch in vergleichbaren Konflikten hatten die Aufständischen den gewaltigen Heimvorteil: sie lebten hier, die Briten waren letztlich nur Gäste. Als die Kommunisten den Hohen Kommissar Henry Gurney 1951 ermodeten, war dies für die meisten Briten ein Wendepunkt: der Dienst in den Kolonien war, in den Worten Elkins‘, nicht mehr der „Boy’s Club“ von früher, sondern ein gefährlicher und aufreibender Dienst am Ende der Welt.

Kapitel 13, Systematized Violence“, beginnt mit den Wahlen 1951. Labours Mehrheit war deutlich geschrumpft, und die Partei trat mit einem Programm von Frieden im Empire an. Die Tories dagegen hämmerten Labour mit Anklagen über „Schwäche“ im Umgang mit den Aufständen, und Churchill verkündete überall, was er alles besser gemacht hätte. Er bekam seine Chance. Unter seiner Regierung erhöhte Großbritannien seinen Militäreinsatz in Malaya massiv. Bei der Unabhängigkeit 1956 waren über eine Million Chines*innen deportiert und die soziale Struktur des Landes durch forcierte Umsiedelungen massiv zerrüttet. Aber aus Londons Sicht durfte der Einsatz als Erfolg gelten: die Kommunisten waren nach Thailand vertrieben worden und spielten nur noch eine marginale Rolle, und die rigorose Betonung von rassischen Grenzen hatte eine tragfähige, auf ethnischem Nationalismus beruhende Regierungspartei entstehen lassen, die im Sinne Großbritanniens zu regieren bereit war. Dies war besonders wichtig, weil Malaya im Sterling-Währungsgebiet zu verbleiben hatte: es verdiente so viele Dollars im Außenhandel wie kein anderer Teil des Empire und war für die britische Zahlungsfähigkeit entscheidend.

Mit der Stabilisierung der Lage in Malaya wandte sich das Empire Kenia zu, wo der Mau-Mau-Aufstand seine Aufmerksamkeit beanspruchte. Dieser war eine direkte Folge der Anwendung der in Palästina und Malaya benutzten Methoden von massenhafter Internierung in katastrophal versorgten Lagern, der Errichtung von Foltergefängnissen und der Umwandlung der Polizei in eine paramilitärische Terrorbehörde. All diese Maßnahmen hatten dazu gedient, einen „racial capitalism“ durchzusetzen, in dem die weiße Agrarieroberschicht die schwarze Konkurrenz durch diskriminierende Gesetzgebung ausschaltete und die Einheimischen gezwungen wurden, ihr Land zu verlassen und zu Hungerlöhnen für die Weißen zu arbeiten. Die Mau-Mau wandten sich mit Gewalt gegen „alle Europäer“, und die Briten reagierten wie in Malaya.

Diese „systematized violence„, wie es britische Kolonialismuskritiker ausdrückten, führte zu einer ganzen Infrastruktur von Folterlagern, in denen Verdächtige (und verdächtigt werden konnte jede*r) brutalst an Körper und Geist zerstört wurden; einer Masseninternierung und Militarisierung. Gleichzeitig aber wurden die Mau-Mau militärisch besiegt. Administrativ und propagandistisch stellten die Camps die Briten aber vor enorme Probleme. Unter den Ausnahmebestimmungen, die mit den Unterzeichnerstaaten der Menschenrechtserklärung und Genfer Konvention (die bezeichnenderweise beide den Soldaten und Offizieren nicht beigebracht wurden) ausgehandelt worden waren, mussten die Briten die Zahl der Insassen ab 1956 um mehrere zehntausend zu reduzieren. Dazu mussten diese aber „gebrochen“ werden, damit sie einen Eid auf die Kolonialmacht leisteten – was mit dem Einsatz von „systematized violence“ erreicht wurde. Die Briten fälschten Statistiken und klassifizierten ihre Methoden um, um formal den Menschenrechtsstandards zu genügen, während in den Lagern neugebildete Folterschwadrone unterwegs waren.

Ein gänzlich anderer Grund für Kolonialkonflikte wied im vierzehnten Kapitel, „Operation Legacy“, aufgezeigt. Die im Zusammenhang mit Malaya angesprochenen Zahlungsbilanzen waren eine Seite der wirtschaftlichen Medaille; die andere waren die Warenströme durch den Suezkanal, der vertraglich 1956 an Ägypten zurückgegeben werden musste, und der Zugang zum Öl. Das Pfund Sterling hing in seiner Bewertung von der imperial preference ab, also der Abschottung des Empire vom Weltmarkt durch bevorzugte Behandlung Großbritanniens, das so seine Kolonien ausbeutete. Die USA drängten stets auf Liberalisierung, waren aber wegen der geopolitischen Rivalität mit der Sowjetunion gezwungen, Großbritannien und das Pfund Sterling zu stützen. Diese fragile Beziehung brach erstmals mit der Suezkrise 1956; das Pfund ging in eine Talfahrt, und die USA erklärten sich nur zu einem Bailout bereit, wenn Großbritannien sich zurückzog. Der Großmachtanspruch des UK war damit effektiv nicht mehr zu halten.

Zur gleichen Zeit fand im UK eine ernsthafte Empiredebatte statt. Kritik an der Konstruktion war immer noch ein Randphänomen (Labour nutzte es nur als oppositionellen Knüppel, ohne ernsthafte Reformen zu fordern), fand aber in der Zivilgesellschaft erstmals großen Widerhall. Besonders bedeutend hierfür war Zypern. Die Insel besaß für die britischen Streitkräfte große strategische Bedeutung, aber die Unabhängigkeitsbewegung dort geriet zum Problem. Die Nachrichtendienste machten ihren Job so schlecht, dass sie Monate brauchten um zu erkennen, dass ihr Hauptgegner kein Kommunist, sondern Rechtsextremist war; von einer Verankerung in der Bevölkerung ganz zu schweigen. Stattdessen griff man auf die Taktiken aus Palästina und Malaya zurück, setzte die Europäische Menschenrechtskonvention für Zypern aus und setzte Folterschwadronen ein. Doch die Zeiten hatten sich geändert: Zahlreiche mittlerweile unabhängige Staaten machten Druck über die UNO, und in Europa nutzte Griechenland die Konventionen, um Großbritannien vor Gericht zu zwingen.

Die Kolonialmacht reagierte auch darauf wie gewohnt: man berief sich auf die eigene moralische Überlegenheit, die liberalen Werte und sprach von Reformen. Doch der verrechtlichte Prozess, der anders als bisher für das UK mehr als nur Lippenbekenntnisse zur rule of law bedeutete, weil nun Klägerstaaten deren Einhaltung erzwangen, änderte grundlegend etwas. Die britische Regierung wählte den einzig verbliebenen Ausweg und übergab den Konflikt der Arbitration der Griechen und Türken. Zypern wurde unabhängig. Als zu Beginn der 1960er dann die Mau-Mau-Grausamkeiten an die Öffentlichkeit kamen, befand sich die Kolonialbehörde endgültig in der Defensive. Trotz des Posierens der Regierung vom „ewigen“ Bestand des Empire begann ein rapider Auflösungsprozess mit Unabhängigkeiten in den 1960er Jahren.

Diese Unabhängigkeiten wurden von „Operation Legacy“ begleitet, einem großangelegten Programm zur Vernichtung von inkriminierenden Unterlagen. Tonnenweise verbrannten die Kolonialbehörden die Beweise ihrer Gewaltherrschaft und übergaben nur harm- und nutzlose Aktenbestände an die neuen Machthaber. Alles andere wurde vernichtet oder nach London geschafft, wo es unter Geheimhaltungsregeln in den Archiven verschwand – und in vielen Fällen dort heute noch liegt.

Der Epilog zeigt jedoch, wie diese Unabhängigkeiten die britische Gewaltherrschaft ansatzlos fortführten. Jahrzehnte der Institutionalisierung ließen den neuen Regierenden keine anderen Strukturen als die von den Briten geschaffenen, die auf rassistischen Einteilungen und Gewalt beruhten. Auch wenn Elkins das nicht weiter thematisiert darf man den neuen Machthabern allerdings gerne unterstellen, dass sie sich nicht unbedingt angestrengt haben, etwas daran zu ändern. Die Debatte, inwiefern die Ex-Kolonialmächte für die den Unabhängigkeiten folgende Gewalt verantwortlich zu machen sind, spielt bei Elkins kurioserweise trotz des Buchtitels praktisch keine Rolle.

Sie geht stattdessen im Eilverfahren durch die innenpolitischen Debatten (die Tories und Labour stritten vorrangig um die Frage, wer eigentlich das Empire „verloren“ hatte, und zeigten wenig Interesse daran, die Vergangenheit aufzuarbeiten). Änderungen des Staatsbürgerschaftsrechts wurden vor dem Hintergrund einer Furcht vor Einwanderung nicht-weißer Commonwealth-Bewohner diskutiert, die rassistische Gewalt in Großbritannien auslöste. „If you want a nigger for a neighbour, vote Labour“ war ein Wahlslogan, mit dem 1959 ein Torie in den Wahlkampf zog (erfolgreich, natürlich). 1971 wurde das Einwanderungsrecht offiziell so geändert, dass nur noch Weiße aus dem Commonwealth einwandern konnten. Elkins sieht in diesem Rassismus eine Art Heimkehr des Gewaltregimes des Empires, was mit angesichts der Universalität des Phänomens eine ziemlich fragwürdige Behauptung scheint.

Die größte Aufmerksamkeit aber wendet sie der Aufarbeitung des kolonialen Gewaltregimes ab 2009 zu. Ein Teil davon ist sicher autobiografisch. Elkins‘ „Imperial Reckoning“ von 2005 arbeitete als erstes historisches Werk das Gewaltregime der britischen Kolonialbehörden auf (es befasste sich ausschließlich mit den Internierungslagern in Kenia), und sie diente als Expertin im 2009 beginnenden Prozess der Opfer der Gewaltherrschaft gegen den britischen Staat. Dieser etablierte zum einen die Existenz eines Gewaltregimes und verwarf die von der britischen Regierung beinahe schon routinemäßig vorgebrachte Behauptung von „souverän handelnden Einzeltätern“, sondern sprach den Opfern auch finanzielle Entschädigung zu. Damit war, ähnlich dem deutschen Prozess der Vergangenheitsbewältigung, die Kolonialvergangenheit auch höchstrichterlich festgestellt.

Anders als in der späteren Bundesrepublik aber führte das von konservativer Seite zu einem harten Kulturkampf. Michael Gove, damals Kultusminister und später in die Brexit- und Boris-Johnson-Debakel involviert, forderte eine Erziehung der britischen Jugend zum Stolz auf das Empire und forderte in einer den amerikanischen Rechtsradikalen ähnelnden Sprache, dass man keine „colonial guilt“ lehren sollte. Auch ansonsten strotzten die konservativen Behauptungen wie in all diesen Kulturkämpfen von einfach widerlegbaren Lügen, was den medialen Zirkus natürlich nicht verhinderte.

Zum Abschluss schlägt Elkins den Bogen zu den aktuellen Bürgerrechtsprotesten gegen rassistische Diskriminierung in Großbritannien, die dortigen Statuenstürze und den Kampf gegen Polizeigewalt. All das mag oder mag nicht mit der Empire-Vergangenheit zusammenhängen. Die Debatte um Harry und Meghan kommt ebenso zu Wort wie die Verschärfung des Immigrationsrechts (sprich: rassistische Diskriminierung) durch die May-Regierung. Letztlich bleibt dieser Teil ein etwas diffuser Koda zu dem Buch, weil die analytische Klammer nur angedeutet wird. Man kann sich des Eindrucks nicht erwehren, dass das Absicht ist, bleibt der kausale Zusammenhang zu der Niederschlagung der Mau-Mau doch eher mau (Verzeihung, konnte ich mir nicht verkneifen).

Und das ist auch das Problem des gesamten Buchs. Letztlich bleibt trotz des eingängigen Titels – „Legacy of Violence“ – eine grundsätzliche Hypothese merkwürdig nebulös. Das britische Empire beruhte auf einer Herrschaft von Terror und Unterdrückung.Aber what else is new? Wäre das das Thema, so wäre der Verdienst des Buches gegebenenfalls, die Herrschaftsweisen des Empire aufzuzeigen. Allein, dazu fehlt es an Systematik. Mir ist nie klar, warum wir uns mit dem jeweiligen Thema beschäftigen. Malaya, Palästina, Irland und Kenia sind sicherlich die größten Schauplätze kolonialer Gewalt, aber Elkins deutet gelegentlich an, dass es (wenig überraschend) in Jamaika nicht anders aussah. Und wie sieht es in den anderen Territorien? Elkins bleibt stets merkwürdig unspezifiziert darin, warum sie welches Thema in welchem Kapitel bespricht; die Festlegungen wirken manchmal wie von der verfügbaren Quellenlage diktiert.

Im Verlauf der Lektüre wurde mir klar, dass sie eine spezifische Empire-Konstruktion verwendet. Sie sieht das Empire erst ab der direkten Übernahme großflächiger Territorialherrschaft ab Mitte des 19. Jahrhunderts, während die Konstruktion vorher der „light footprint“ indirekter Herrschaft gewesen sei. Das macht als analytische Kategorie eine Menge Sinn, wird aber nie festgezurrt. Stattdessen darf ich mir die Schlussfolgerungen aus verstreuten Seitenbemerkungen und den zahllosen Narrativen und Quellenerzählungen quasi selbst herauslesen. An der Stelle macht die Autorin in meinen Augen einfach den Kernjob der Geschichtswissenschaftlerin nicht.

Dasselbe gilt für die mangelnden Vergleiche. Elkins erwähnt, dass in den Aufarbeitungsdebatten Großbritanniens (die, das sei noch einmal betont, völlig unzureichend sind) die Ausrede benutzt wird, dass der Kongo wesentlich schlimmer gewesen sei. Und das ist sehr realistisch. Die größte Schwäche des Buches, neben dem fehlenden Fokus und analytischen Kern, der dies hätte ausgleichen können, ist das völlige Ignorieren der anderen Kolonialreiche. Waren die Briten nun, wie sie es behaupteten, besser als andere? War die britische Unterdrückung Kenias weniger schlimm als die französische Algeriens? Elkins erzählt mir zwar, dass die britische Regierung und ihre Sympathisant*innen das behaupten, tut aber nichts, um es einzuorden. Stattdessen bleibt die Implikation, der Ruch, dass dem nicht so sei. Dieses Insinuieren aber ist kein sauberes historisches Handwerk, sondern politisches. Das hat auch seinen Platz, aber eben nicht in der Wissenschaft.

Das ist umso bedauerlicher, weil der Revisionismus, den Elkins hier betreibt, mehr als notwendig ist. Die Konservativen leugnen große Teile der Gewalt immer noch, und die Glorifizierung des Empire in diesen Kreisen ist angesichts der realen Geschichte einfach nur ekelhaft. Wie irgendjemand einen Apologeten wie Niall Ferguson ernstnehmen kann, ist mir unbegreiflich. Obwohl – da die Alternative aktuell (zumindest laut Elkins) nur in solchen Werken besteht, erklärt sich das auch wieder ein wenig. Das Sujet ist ein ungemein wichtiges, und die Aufarbeitung des Kolonialismus mehr als überfällig – ob in Großbritannien, Frankreich, Belgien, Italien oder Deutschland. Aber das hier ist leider nur ein Babystep auf dem Weg dorthin.

Jonas Schaible – Demokratie im Feuer: Warum wir die Freiheit nur bewahren, wenn wir das Klima retten – und umgekehrt (Hörbuch)

Disclaimer: Ich bin mit dem Autor persönlich bekannt.

Im Deutschland des Jahres 2050 sind Strom und Wasser immer wieder rationiert. Die Belastung durch Steuern ist hoch, während Leistungen des Staates immer weiter gekürzt werden. Ständig ist das Land von Dürren geplagt; Überschwemmungen und andere Katastrophen sind regelmäßig. Die Temperaturen sind unangenehm hoch; jedes Jahr sterben Tausende an hitzebedingten Ursachen. Die politischen Parteien sind letztlich nicht voneinander zu unterscheiden: die Klimakrise hat jeglichen Handlungsspielraum zerstört, so dass das Land im Endeffekt nur noch im Krisenbewältigungsmodus verwaltet wird. Es ist dieses nicht unrealistische Schreckensszenario, mit dem Jonas Schaible sein Buch beginnt, um aufzuzeigen, welche Befürchtung er für die Zukunft hat: nicht so sehr die totale Apokalypse als den Verlust der Freiheit, wie wir sie heute kennen. Ein übergriffiger Staat im permanenten Notfallmodus, das Beste aus einer schlechten Situation machen, nostalgisch an die gute alte Zeit zurückdenken. Dieses Szenario, das ist Schaibles zentrale These, lässt sich nur demokratisch verhindern – und die Demokratie nur retten, wenn es verhindert wird.

Doch bevor dieser explizit politische Teil beginnt, erklärt Schaible in aller gebotenen Kürze, was das Problem eigentlich ist. Nicht den Treibhauseffekt oder die schädliche Wirkung von CO2; das sollte mittlerweile wahrlich vorausgesetzt werden können. Er springt direkt zu der immer noch kaum verstandenen Problematik exponentiellen Wachstums, der Kipppunkte, der kleinen Zahlen und der Zeit.

Das exponentielle Wachstum betrifft die Aufwärmung des Planeten. Diese verläuft nicht linear, sondern exponentiell, da das Abschmelzen des Eises, die Flächenversieglung, das Tauen der Permafrostböden und andere Faktoren sich gegenseitig verstärken. Das fehlende Eis etwa, das 90% des Sonnenlichts reflektierte, macht Platz für Wasser, das nur 5% des Sonnenlichts reflektiert – ein entscheidender Unterschied. Je mehr Eis schmilzt, desto wärmer wird es darunter – 0,6 Grad für je 100m Dicke. Und so weiter.

Die Kipppunkte sind ein weiterer Ausfluss dieser Nicht-Linearität: sind die Permafrostböden erst einmal aufgetaut, rettet sie nichts mehr. Sind die Polkappen verschwunden, kriegen wir sie nicht wieder gefroren. Und so weiter. Diese Kipppunkte sind eben so real wie unwirklich: niemand kann mit Bestimmtheit sagen, wann sie kommen – nur, dass.

Und dann die Zahlen. 0,26 Grad Erwärmung – die Folge eines vollständigen Tauens des Permafrosts – klingt nicht nach viel, genauso wie 1,5 Grad Erwärmung bis 2100. Doch Schaible zeigt mit erbarmungsloser Schärfe auf, welche Folgen das für den Alltag hat – und das in den gemäßigten Breiten, die wir hier genießen.

Zuletzt spielt der Zeithorizont eine wichtige Rolle. Jeder Tag, der ungenutzt verstreicht, macht die Aufgabe schwieriger und teurer. Anders als die meisten anderen politischen Maßnahmen, bei denen Verzögerungen irrelevant sind oder „nur“ Geld kosten, sind Verzögerungen bei der Lösung der Klimakrise katastrophal, weil sich unsere Handlungsspielräume immer weiter einschränken. Die vorhergehenden Punkte haben gezeigt, wie die Mechanismen ablaufen und dass der Prozess sich selbst beschleunigend und nicht umkehrbar, sondern allenfalls bremsbar ist: wir werden nicht zu einem kühleren Zustand zurückkehren, sondern bestenfalls den aktuellen stabilisieren können. Jeder Tag, an dem weiter CO2 emittiert wird, macht die Lage schlimmer.

Nach diesem kurzen physikalischen Crashkurs schwenkt Schaible dann in das eigentliche Thema seines Buches: die politische Bekämpfung der Klimakrise. Denn seine zentrale These ist ja, dass es hier um Freiheit geht. Die Aufmerksamkeit eines staatlichen Systems aber wird genauso wie die anderer Teile der Gesellschaft von akuten Ereignissen in Anspruch genommen. Ein Staat, der ständig Katastrophenschäden beseitigen muss, ist ineffektiv darin, sich zu reformieren oder die Ursache anzugehen. Provokant fragt Schaible, wie viel Freiheit im politischen Handeln einem Bürgermeister im Ahrtal 2021 noch bleibt. Dieses Problem sieht er global: die Bekämpfung der Klimakrise betrifft nie nur einen Nationalstaat, und spätestens wenn die unabschätzbaren Geoengineering-Maßnahmen angewandt werden, sind alle betroffen – auch, wenn sie nie demokratisch darüber abgestimmt haben.

Gleichzeitig sind Demokratien sensible Systeme, stets prekär und bedroht. Von den Republicans in den USA über Orban in Ungarn zu Putin in Russland ziehen sich die Beispiele von Demokratien oder doch wenigstens demokratischen Prozessen, die dem autoritären backlash zum Opfer gefallen sind. Nichts macht Rechtsradikale so attraktiv wie plötzliche Veränderung, weswegen die Rechtsradikalen ja auch antimodernistisch auftreten. Aber was, fragt Schaible, ist die Klimakrise, wenn nicht eine immer schnellere Abfolge immer radikalerer Veränderungen? Die Wahrscheinlichkeit, dass mit ihr ein autoritärer backlash einhergeht, ist jedenfalls hoch.

Die zentrale These Schaibles, dass Klimaschutz nur mit Freiheit einhergeht (und genau diese sichern soll), wird von verschiedenen Seiten auf die Probe gestellt. Er nennt es den „Sirenengesang der Autokraten“: die Idee, einer irgendwie gearteten Autorität die Macht zu übertragen, damit diese sich über den Hickhack und die Blockaden stelle, ist links wie rechts immer wieder gegeben. Ihr erteilt er eine klare Absage: Diktaturen sind immer auch Kleptokratien. Macht, einmal übertragen, ist nicht mehr zu kontrollieren, und führt zur Bereicherung der Herrschaftsclique. Weltweit gibt es kein Beispiel für eine Diktatur, die besseren Umweltschutz als die Demokratien betreibt. Eher ist das Gegenteil der Fall. Auch ist kein Zufall, dass Umweltaktivist*in zu sein noch gefährlicher ist als Journalist*in; rund sieben mal so viele Umweltschützer*innen werden jedes Jahr ermordet wie Journalist*innen. Kein Wunder, denn sie gefährden etablierte Interessen. Genau diese Gefährdung etablierter Interessen ist aber das Leitmotiv allen Klimaschutzes. Denn theoretisch sind immer alle dafür; nur wenn es konkret an die eigenen Besitzstände geht, gibt es immer Gründe, warum gerade diese Maßnahme nicht sein darf.

Natürlich geht der Autor auch auf den Sonderfall China ein: für eine eingeschränkte Periode spricht er dem chinesischen System einen „kalten Hyperrationalismus“ zu, der die selbstgesteckten Ziele von Wirtschaftswachstum und Machtzuwachs tatsächlich mit langfristig zielgerichteten Plänen zu verfolgen wusste. Doch der Machtgewinn Xi Jinpings ist für Schaible der Schwanengesang dieser Epoche: er wäre der erste Diktator, der sich der Falle entziehen kann, nur noch von Jasagern umgeben zu sein und erratische Entscheidungen zu treffen. Es gibt eine Menge autoritärer Kipppunkte, und China bewegt sich rasend auf sie zu. In dieser Analyse stimme ich ihm gerne zu.

Doch auch in Demokratien ist nicht alles eitel Sonnenschein. So schlecht Autokratien auch in der Bekämpfung der Klimakrise abschneiden; Demokratien sind nur marginal besser. Schaible stellt ihnen ein vernichtendes Zeugnis aus: angesichts der vielenen Ebenen und Unsicherheiten sind die ergriffenen Maßnahmen auch in den Demokratien völlig unzureichend. Das liege daran, dass unsere Entscheidungsprozesse schlicht nicht für das Ausmaß der Krise geschaffen sind; wir hätten sie letztlich für eine stabile Periode (als die sich die so tumutlhaft wahrgenommenen 2010er Jahre letztlich herausgestellt haben) entworfen. Die Demokratie müsse sich neu erfinden.

Die gute Nachricht ist aus Schaibles Sicht, dass die Demokratie sich schon oft neu erfunden hat. Gerade das ist ihr großer Vorteil, besonders gegenüber Autokratien. Sie waren auch stets im Wandel, von Athen bis heute. Er entwickelt den Gedanken, dass Beschränkungen innerhalb der Demokratie nichts Neues sind. Einerseits haben wir aus Weimar die Lehre gezogen, dass sich die Demokratie gegen ihre Feinde verteidigen muss – keine Toleranz den Intoleranten, um es mit Popper zu sagen. Da die Demokratie durch die Klimakrise inhärent bedroht ist, muss sie sich gegen diese verteidigen. Schaible spricht in dem Zusammenhang von „wehrhafter Klimademokratie“.

An dieser Stelle zeigt er auf, welche Beschränkungen wir bereits heute hinnehmen: die Schuldenbremse hat es Regierungen praktisch unmöglich gemacht, signifikante Schuldenmengen aufzunehmen, und dadurch rechtlich bindende Handlungskraft erzwungen. Die Währungspolitik ist der demokratischen Politik durch die unabhängigen Notenbanken ebenfalls vollständig entzogen. Beides ist aus demokratischer Sicht legitim, weil grundsätzlich durch Gesetze reversibel, verrechtlicht aber Bereiche. Für Schaible ist das BVerfG-Urteil von 2021 zum Klimaschutz die Grundlage für analoge Maßnahmen im Klimaschutzbereich. Er sieht die Judikative der Legislative und Exekutive immer stärkere Fesseln anlegend, um Klimaschutz rechtlich zu erzwingen – und so letztlich die Selbstblockade des demokratischen Prozesses zu lösen, wie das in den Finanzfragen auch gemacht wurde.

Ich muss zugeben, dass dieser Gedanke Schaibles mir riesige Bauchschmerzen bereitet. Ich habe hier im Blog schon oft darüber geschrieben, für wie problematisch ich die Selbstentmachung der Politik halte, das Verändern der Verfassung, das Abgeben von Entscheidungskompetenz an ungewählte Institutionen und das Entscheidungen Übertragen ans BVerfG. Aber die Logik, die er vorbringt, ist unbestechlich, und das Argument, dass gerade die Loslösung einer Frage aus dem permanenten Meinungsstreit hilfreich sein könnte, ist nicht von der Hand  zu weisen. Denn wir werden nicht auf einen Konsens kommen, welche Methode die beste ist und was wir nun tun müssen, weder national noch international. Die identitätspolische Irrlichterei, die wir aktuell um Themen von Atomkraft über Fleischkonsum zu Fahrrädern und Solaranlagen sehen können, ist Beleg genug dafür.

Schaible erklärt hierzu, dass die Zeit, einen spezifisch grünen, sozialdemokratischen, liberalen oder konservativen Weg zur Lösung der Klimakrise zu finden vorbei sei. Diese Zeit hatten wir vor 30 Jahren; jetzt gibt es nur noch einen Weg. Idealerweise ist der grün umwälzend, sozialdemokratisch gerecht, marktwirtschaftlich effektiv und konservativ undisruptiv zugleich. Diese eierlegende Wollmilchsau wird es natürlich nicht geben, aber sie präsentiert ein nützliches Bild zur Orientierung.

Im letzten Teil seines Buches skizziert er dann „Labore der wehrhaften Klimademokratie“. Der Autor erklärte im Gespräch mit mir, er empfinde es als „anmaßend“, konkrete Aktionspläne entwerfen zu wollen. Deswegen stellt er eher Ideen auf, „Labore“, in denen zukünftige Lösungsideen getestet werden können. Er erklärt, einen „reformistischen“ Ansatz zu verfolgen. Radikale Lösungen hält er nicht für realistisch, egal, wie charmant sie auf dem Papier aussehen mögen. Seine „wehrhafte Klimademokratie“ orientiert sich an einem dualen Ansatz: einerseits durch Initiativen und Druck „von unten“, möglichst dezentral und bürger*innennah. Auf der anderen Seite muss es aber auch steuernde Instanzen geben. Also keine Planwirtschaft – das verbietet sich quasi von selbst -, aber auch kein Nachtwächterstaat. In dem Zusammenhang erteilt er auch der Idee der marktwirtschaftlichen Effizienz eine Absage: für Effizienz fehle uns mittlerweile die Zeit; alles, was zähle, sei Effektivität.

Und das führt zu gewaltigen Problemen, die er kurz am Beispiel Mobilität durchdekliniert: wenn wir bis 2045 klimaneutral sein wollen, müssen wir angesichts der Plan- und Bauzeiten heute damit anfangen, massiv (und letztlich „ineffizienz“) den öffentlichen Nahverkehr auszubauen. Das aber mindert die Qualität des aktuellen Nahverkehrs (noch weiter), wegen der Umbaumaßnahmen, und muss im Hinblick auf Resilienz des Systems gegen Extremwetter erfolgen (was aktuell nicht gegeben ist). Gleichzeitig ist der ÖPVN strukturell zentralisiert, wo wir aber eigentlich dezentrale Systeme haben wollen, weil die resilienter sind. Das alles unter einen Hut zu bringen ist eine Mammutaufgabe.

Schaible ist skeptisch, ob „mehr“ Demokratie die Lösung sein kann. Für ihn scheitert es nicht an der Demokratie per se, und er warnt auch vor Moralisieren gegenüber etwa der Lobbyarbeit der deutschen Autobauer. Diese ist zwar schädlich für alle, aber ein Fakt, den man mit noch so viel Ärger nicht wegbekommen wird. Stattdessen plädiert er, mit den Gegebenheiten zu arbeiten, die wir haben, und stattdessen zu reformieren, wo es möglich ist. Bürger*innenräte findet er als Ergänzung ganz nett, aber eine Garantie für mehr Klimaschutz sind sie nicht; Wahlrechtsreformen änderten ebenfalls recht wenig, und die Strukturen des Bundestags böten auch wenig Raum für überzeugende Reformen.

Wesentlich größere Chancen sieht er in der Judikative. Unter dem Schlagwort der „Grünen Null“ macht er große Potenziale für eine Festschreibung des Klimaschutzes ins Grundgesetz aus, weil dies die bisher unsystematische Rechtsprechung, bei der Richter*innen „zwischen den Zeilen“ Spielräume erkennen, systematisieren und konkrete Ansprüch ermöglichen würde. Auf anderen Gebieten sie das ja auch der Fall. Auch die in manchen Entwicklungsländern bereits eingeführte Praxis, die Natur selbst zu einem Rechtssubjekt zu machen, diskutiert er; sie sei zwar ein „scharfes, aber zweischneidiges Schwert“, da das Willkürpotenzial recht hoch sei.

Gutes Potenzial räumt er einem Klima-Vetorecht ein, wie es etwa die Grünen im Wahlkampf 2021 gefordert hätten. De facto existiert ein solches Vetorecht ja in anderen Ministerien auch (Christian Lindner setzt seines ja sehr gerne und wirksam ein). Schaible räumt ein, dass natürliche die präzise Umsetzung und die Verhinderung einer reinen Blockadefunktion ungelöste Probleme seien. Erfolgversprechend ist auch der Ansatz, die Behörden effektiver zu machen. Schaible kontrastiert hier die amerikanische EPA (vor Trumps Sabotagefeldzug) positiv mit dem Umweltbundesamt, sowohl was Ausstattung als auch Kompetenzen angeht, und spricht sich für die Schaffung einer „Klimabürokratie“ aus. Neben der Vetomacht könnte eine solche auch Bedarfe erkennen und entsprechende Förderungen anstoßen – etwa in der Produktion von Solarpanelen.

Zuletzt bietet Schaible mit verbilligten Krediten für klimaförderliche Programme und einem verpflichtenden „Klimadienst“ als Analog zum Wehrdienst noch zwei weitere Ideen an. Wie bei allem erkennt er an, dass diese sicherlich nicht ohne Reibungsverluste umzusetzen noch ein Panacea darstellen können. Generell ist er offen gegenüber all den Schwächen, Unausgegorenheiten und Widersprüchlichkeiten, die jedem Klimaschutzprogramm inhärent sind. Allein, es ist schlicht nötig zu handeln. Die Zeit geht uns aus, und die Freiheit steht auf dem Spiel.

Anmerkung: Ich habe mit Jonas Schaible auch in einer Podcast-Folge der Bohrleute zu dem Buch gesprochen; die Konversation sei allen ergänzend zu der Rezension und der eigenen Lektüre wärmstens ans Herz gelegt.

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