Anmerkung: Dies ist einer in einer monatlichen Serie von Posts, in denen ich die Bücher und Zeitschriften bespreche, die ich in diesem Monat gelesen habe. Darüber hinaus höre ich eine Menge Podcasts, die ich hier zentral bespreche, und lese viele Artikel, die ich ausschnittsweise im Vermischten kommentiere. Ich erhebe weder Anspruch auf vollständige Inhaltsangaben noch darauf, vollwertige Rezensionen zu schreiben, sondern lege Schwerpunkte nach eigenem Gutdünken. Wenn bei einem Titel sowohl die englische als auch die deutsche Version angegeben sind, habe ich die jeweils erstgenannte gelesen und beziehe mich darauf. In vielen Fällen wurden die Bücher als Hörbücher konsumiert; dies ist nicht extra vermerkt. Viele Rezensionen sind bereits als Einzel-Artikel erschienen und werden hier zusammengefasst.

Diesen Monat in Büchern: Superhelden, Mittelalter, Christliche Nationalisten, Holocaust

Außerdem diesen Monat in Zeitschriften: Geldpolitik, Kinder und Politik

Bücher

Annika Brockschmidt – Amerikas Gotteskrieger. Wie die Religiöse Rechte die Demokratie gefährdet

Eigentlich hatte ich nicht vorgehabt, dieses Buch zu lesen, weil ich das Gefühl hatte, über die Thematik weitgehend informiert zu sein. Über die völlig überdrehte Debatte zu Brockschmidts Herangehensweise hatte ich ja einen Beitrag geschrieben. Aber ich hatte die Gelegenheit, und die macht bekanntlich Lesende. Also habe ich mir das Werk vorgenommen. Die zentrale These des Buchs findet sich bereits im Titel: Radikale rechte Christen gefährden die amerikanische Demokratie. Dass es in diesen Kreisen demokratieverachtende Extremisten gibt, ist sicherlich unbestritten; fraglich und umstritten ist vielmehr, wie relevant diese Gruppierung ist und wie viel tatsächlichen Einfluss sie ausübt. Je nachdem, wo man sich in dieser Debatte sieht, stellt Brockschmidts Buch einen dringend notwendigen Weckruf oder hysterische Überreaktion dar. Ich will in dieser Rezension versuchen, dieser Frage ein wenig auf den Grund zu gehen und den Versuch einer Einordnung zu unternehmen.

Das Buch ist in zahlreiche Unterkapitel aufgeteilt, die sich jeweils mit einem Aspekt der religiösen Rechten beschäftigen. Brockschmidt schafft dabei jeweils kurz den historischen Kontext für ihre Darstellung und zeigt dann anhand vieler und wohlbelegter Beispiele auf, welche Sichtweisen jeweils in den Kreisen der religiös-Rechten gepflegt werden. Ich will diese Struktur abschließend etwas Näher besprechen; an dieser Stelle erwähne ich sie, weil ich sie für diese Zusammenfassung nicht 1:1 wiedergebe, sondern Themenblöcke zusammenfasse oder überspringe. Die folgende Darstellung hat also keinerlei Anspruch auf Vollständigkeit.

Brockschmidt beginnt mit der Geschichte der christlichen Rechten: von einer fringe-Bewegung entwickelt sie sich ab den 1950er Jahren zu einer Vorform dessen, was später die Evangelikalen (im Sinne der politische Gruppe) werden sollten. Entscheidend für diesen Prozess des Wachstums in Mitgliedern einerseits und politischem Einfluss andererseits sei das Bündnis der Denominationen, das erstmals auch Katholiken offen war. Die christliche Rechte war bis dahin intern zerstritten, quasi ein christliches Gegenstück zu den K-Gruppen. Zahlreiche kleine Gruppen stritten sich mehr miteinander um die richtige Auslegung der heiligen Texte als mit der Außenwelt. Das dürfte Linken ziemlich bekannt vorkommen.

Den Prozess, den Brockschmidt hier beschreibt, könnte man polemisch als „Extremisten aller Welt, vereinigt euch!“ zusammenfassen. Ab den 1960ern Jahren findet die christliche Rechte, die vorher in keiner der beiden Parteien besonders stark vertreten war, auch eine immer größere politische Verankerung in der GOP. Dieser Prozess dauert aber recht lang, wir sprechen hier von Jahrzehnten. Abgeschlossen war er richtig erst mit Reagan; noch Jimmy Carter vereinigte eine Mehrheit der Evangelikalen hinter sich, die noch wesentlich pluralistischer aufgestellt waren.

Als beherrschendes Thema dieses Einigungsprozesses der christlichen Rechten in den 1970er Jahren, die zu der Sammlung hinter Ronald Reagan (der bis dato nicht eben als frommer Mensch aufgefallen war) führte, war die Segregation. Entgegen landäufiger Narrative kam das Thema der Abtreibung erst ab 1978 auf das Tableau. Vorher war es vor allem ein Thema radikaler Katholiken gewesen; die Protestanten hatten weniger Probleme damit. Es war eine bewusste Entscheidung der politischen Strategen innerhalb der christlichen Rechten, die Abtreibung zum zentralen Thema zu machen. Auch das ging übrigens nicht von heute auf morgen; von den Anfängen 1978 dauerte es bis zu Beginn der 1990er Jahre, ehe das Thema für die christliche Rechte das beherrschende Thema wurde. Vorher war es, wie beschrieben, der Kampf gegen die Desegregation.

Brockschmidt beschreibt im Folgenden den Televangelismus. Dieser begann in den 1960er Jahren massiv an Popularität zu gewinnen und war bis zum Siegeszug des Talk Radio DAS Medium der christlichen Rechten. Zu Beginn allerdings war er noch vergleichsweise unpolitisch; erst mit der Aufgabe der Fairness Doctrine unter Reagan (die ja auch maßgeblich für FOX News und das Talk Radio war) begann der scharfe Drall ins rechtsradikale Meinungsspektrum. Von Beginn an allerdings fanden sich in diesem Milieu massive Betrügereien; die Televangelisten lebten von Spenden und plünderten ihre Schäfchen bis aufs letzte Hemd aus. Die Unseriosität dieses Segments ist atemberaubend. Brockschmidt zieht hier auch direkte Parallelen zur Verknüpfung von Neoliberalismus und christlicher Rechten.

In einem weiteren Themenkomplex wendet sich Brockschmidt theokratischen Herrschaftsansprüchen der christlichen Rechten zu, deren Ziel die Errichtung eines christlichen Gottesstaats sei. Gelungen arbeitet sie hierbei auch heraus, welch merkwürdige historische Missverständnisse von den Gründervätern in diesem Milieu blühten und blühen. Diese schlechte Geschichte diene vorrangig der Rechtfertigung der Sklaverei und der Herrschaft der WASPs. Brockschmidt fasst dies alles unter das Phänomen des „Christlichen Nationalismus“.

Ein weiteres großes Thema des Buchs ist das Frauenbild der christlichen Rechten. Brockschmidt beschreibt es als „unterwürfig, aber sexy“. Die Frauen haben sich der Autorität der Männer zu unterwerfen, sind aber keine unattraktiven Wesen, sondern stattdessen Sexbomben. Die Idee dahinter: der Mann brauche ein Ventil, um seinen Geschlechtstrieb ausleben zu können, um so jede Versuchung für Fremdgehen zu vermeiden. Die Frauen müssten aber gleichzeitig „rein“ sein (diese Idee der purity ist prominent und taucht immer wieder auf). Die christliche Rechte propagiere den „Dienst am Mann“, in dem die Frauen den Wünschen ihrer Männer zur Verfügung zu stehen hätten. Dementsprechend sind auch Vergewaltigung in der Ehe und Schmerzen beim Sex kein Problem; sie werden stattdessen als Gottes Wunsch gesehen.

Spiegelbildlich stelle sich das Männerbild der christlichen Rechten dar. Männer sind demzufolge gewalttätig und aggressiv, Charaktereigenschaften, die durch die religiöse Gemeinschaft eingehegt und in die richtigen Bahnen gelenkt werden. Denn anders als die meisten Christen lehnt die christliche Rechte Gewalt nicht ab. Ihr Männerbild ist stattdessen geprägt von „toughness„. „Jesus war ein Navy Seal“, wie es ein einprägsames Zitat fasst. Die christliche Rechte betrachte Jesus als Krieger, der mit Feuer und Schwert gegen Sünder*innen und Andersglaubende vorgehe, und verdammt die Version, die die andere Wange hinhält.

Die christliche Rechte hat auch ihr eigenes literarisches Genre geschaffen. Es  gibt tonnenweise entsprechende Literatur, die diese Geschlechterbilder und ideologischen Vorstellungen propagiert, sowohl in Roman- als auch Ratgeberform. Das meiste beruht auf extrem selektivem Lesen der Bibel, wo einzelne Stellen aus dem Zusammenhang gerissen und als Grundlage für das eigene Weltbild verwendet werden.

Dieses Weltbild befindet sich einem ständigen, immer neu entfachten Kulturkampf. Am bekanntesten und erfolgreichsten ist mittlerweile der Kampf gegen die Abtreibung, der bewusst mit den Methoden der Civil-Rights-Kämpfer der 1960er Jahre gefochten wird. Dabei bedient sich die Rechte massiv der Rhetorik von Martin Luther King und anderen Vorkämpfern der Civil Rights, laut Brockschmidt bewusst, um von der Mehrheitsgesellschaft ernstgenommen zu werden. Weitere beliebte Kulturkampfthemen sind der freie Besitz von Waffen, das beständige owning the libs, der Kampf gegen den Klimawandel und nun ganz neu der Kampf gegen Rechte für Transpersonen.

Eines der strategischen Ziele der christlichen Rechten sei die Heranzüchtung einer neuen Generation von Gotteskriegern (die dahinterstehende Ideologie, möglichst viele Kinder für „die Sache“ zu bekommen, nennt sich übrigens „quiverfull„, also einen „Köcher voller Kinder“). Die Idee ist, sie von der Wiege an im christlich-rechten Milieu hochzuziehen und dann in  Machtpositionen zu bringen. Entsprechend wichtig sei der christlichen Rechten der Kampf für „school choice“ , also die unter Trump von Betsy deVos betriebene Zerstörung des öffentlichen Schulsystems zugunsten christlicher Privatschulen. An diesen wird die bereits erwähnte Purity Culture nicht nur gelehrt, sondern auch gelebt.

Ein weiterer Baustein der christlichen Rechten ist ihr Verschwörungsglaube: Von der John Birch Society zeichnet Brockschmidt das Bild über den Antisemitismus, die Rapture-Erwartungen, die Vorstellung der Civil-Rights-Bewegung als antiamerikanische Verschwörung, die „Satanic Panic“ der 1980er Jahre und viele mehr. Sie vertritt die These, die Rechte sei generell anfälliger für solche Theorien als die Linke, weil die Vereinfachung auf so große Ressonanz stoße. Das sei auch beim Thema Corona festzustellen, das ein eigenes Kapitel bekommt und wo die evangelikalen Rechten den größten Widerstand gegen Masken, Impfungen und Co zeigen.

Die letzten Kapitel befassen sich mit der „Big Lie“ des gestohlenen Wahlsiegs als „neue Dolchstoßlegende“ und dem Sturm auf das Kapitol. Beides stoße in christlich-rechtlichen Kreisen auf besonders viel Ressonanz. Zu Ende findet sich ein Ausblick auf den aktuellen Stand der GOP it ihrer moral panic gegen „Critical Race Theory“ (oder was man dafür hält), den Versuchen, die Demokratie zu zerstören und vielem mehr, was Lesenden dieses Blogs sattsam bekannt ist.

Ich möchte zu Beginn meiner Kritik noch einmal auf die Debatte eingehen, die mit dem Erfolg dieses Buches verknüpft war. Zur Erinnerung: Brockschmidt wurde vorgeworfen, zur Recherche für ihr Buch nicht in die USA geflogen zu sein, sondern es aus Archivmaterial geschrieben zu haben. Brockschmidt verteidigte dieses Vorgehen damit, dass sie ein Geschichtsbuch geschrieben habe, wofür vor allem Textquellenrecherche relevant gewesen sei. Nachdem ich das Buch nun gelesen habe, kann ich meinen Beitrag von damals nur unterschreiben: die Idee, dass das Buch besser wäre, wenn sie in den USA gewesen wäre, ist albern, aus all den bereits genannten Gründen.

Aber.

Gerade die riesige Masse an Belegen, die ständigen Zitate, sind eine der zwei großen Schwächen des Bandes, weil sie einer klaren Struktur massiv im Weg stehen. Oftmals lesen sich die Kapitel wie Volltextversionen einer Quellensammlung, die Autorin springt vom einen christlichen Radikalen zum nächsten, über zeitliche und geografische Grenzen hinweg. Für mich war das irgendwann nur noch ermüdend und stand jeglicher Lesefreude entgegen. Auch ein zusätzlicher Erkenntnisgewinn entsprang dieser Detailfülle nicht wirklich, weniger wäre hier manchmal mehr gewesen (so sehr ich auch, gerade angesichts der dämlichen Debatte um das Buch, den Versuch einer Immunisierung gegen Unkenntnis-Vorwürfe verstehen kann).

So aber entsteht der Eindruck einer allumfassenden, monolithischen christlichen Rechten – und man kann denke ich durchaus den Vorwurf erheben, dass das zumindest gerne billigend in Kauf genommen wird. Zwar betont Brockschmidt an verschiedenen Stellen den Facettenreichtum der verschiedenen Denominationen und die verschiedenen Grade von Extremismus, Radikalismus oder einfach nur Frömmigkeit, die sich dort finden lassen. Aber diese Unterschiede werden in der Flut von Beispielen und Zitaten regelmäßig plattgedrückt.

Das geht auf Kosten der analytischen Schärfe. Sicher, die extremistische Rechte hat einen ideologischen Einfluss auf die Republicans. Das beweist das Buch zur Genüge. Nur, die radikale Linke hat auch einen Einfluss auf die Democrats. Die relevanten Fragen sind: wie groß ist dieser Einfluss wirklich? Und gerade die Beantwortung dieser eigentlich entscheidenden Frage kommt merkwürdig zu kurz. Durch die Struktur des Buches wird in jedem Kapitel erneut der große Bogen geschlagen, werden die John-Birch-Leute aus den 1960er Jahren auf derselben Seite präsentiert wie die Anti-Abtreibungskampagne der 2000er Jahre. Alles wird eins.

Klar gibt es christliche Rechte, die die Idee eines Gottesstaats hegen, die ihre Kinder als Waffe sehen und sie ideologisch indoktrinieren. Allein, wie viele innerhalb der großen evangelikalen Bewegung sind das tatsächlich? Welchen realen Einfluss entfalten sie? Dass republikanische Politiker*innen Lippenbekenntnisse zu den talking points der Evangelikalen abgegen ist sicher ein Beweis für ihre Bedeutung, aber die jahrzehntealte Wut darüber, dass jede republikanische Regierung dann doch die Versprechen nicht einzulösen vermag (oder will), ist etwas, das bei Brockschmidt wesentlich zu kurz kommt.

Auch das Zusammenrühren sämtlicher ideologischer Versatzstücke ist ein Problem. Ja, unter Anhänger*innen der „Big Lie“, unter Rassist*innen, unter Rapture-Ideolog*innen, unter Möchtegern-Theokrat*innen und Trump-Fans, unter Gegner*innen von Corona-Maßnahmen und Blue-Lives-Matter-Protestierenden, unter Klimawandelleugner*innen und unter Waffenfans finden sich überdurchschnittlich viele Evangelikale, aber letztlich erweckt das Buch den Eindruck, dass es sich dabei um ein in sich geschlossenes System handelt, in dem alle alles davon mit vergleichbarer Intensität glauben und praktisch deckungsgleich mit den Wählenden der GOP sind. Und dem ist einfach nicht so.

Ich weiß, dass Brockschmidt das so nicht sagt, und dass sie an verschiedenen Stellen im Buch darauf hinweist, dass dem nicht so ist. Aber die strukturellen Schwäche sorgen dafür, dass der Eindruck permanent hervorgerufen wird. Das ist das eine. Und der Mangel an einer klaren analytischen Struktur, der auf irgendeine Gesamtthese hinauslaufen würde – außer „diese Extremisten glauben eine Menge gefährlichen, extremistischen Mist“, was praktisch ein tautologischer Schluss ist – ist augenfällig und sorgt dafür, dass Buch in seiner Gesamtheit wesentlich weniger ist als die Summe seiner Teile. Ich gönne Brockschmidt ihren Erfolg, und das Thema ist grundsätzlich auch wichtig. Aber das Buch bestätigt den Eindruck, den ich auch von ihrem Twitter-Feed habe, dass sie in die Falle tappt, in ihrem Thema einen Hammer zu haben und aus allem, was aus den USA kommt, nur noch Nägel zu machen.

Grant Morrison – Supergods: What Masked Vigilantes, Miraculous Mutants, and a Sun God from Smallville Can Teach Us About Being Human

Superhelden sind spätestens seit Marvels präzendenzlosem Erfolgszug seit 2008 die bestimmenden Gestalten der Popkultur. In der kollektiven Fantasie haben sie mittlerweile die Allgegenwärtigkeit von „Cowboys und Indianern“ erreicht, die für über ein Jahrhundert ubiquitär waren. Superhelden gibt es mindestens seit dem Debüt des Manns aus Stahl 1938, das allgemein als Startpunkt genannt wird, und sie machten in ihrer Geschichte seither mehrere Evolutionen durch. Diese Evolutionen erzählt Grant Morrison, selbst berühmter Comicautor, in seinem vorliegenden Werk nach – ebenso wie er den Versuch unternimmt, ihren Einfluss auf das gesellschaftliche Unterbewusstsein nachzuvollziehen.

Wenig überraschend beginnt er mit Siegel und Schuster, den beiden jüdischen Autoren hinter Superman. Es ist mittlerweile keine sonderlich innovative Erkenntnis, dass einige Merkmale der jüdischen Erfahrung um 1938 herum auf den Superhelden durchgeschlagen haben, und dass Superman zu Anfang nicht einmal fliegen konnte (seine Fähigkeiten würde er erst später entwickeln) ist den einschlägig Gebildeten auch bereits bekannt. Aber der Erfolg der Action Comics sprach für sich, und mitten in der Weltwirtschaftskrise bot der bunte Kämpfer gegen Korruption und Verbrechen (bevor er begann, Außerirdische zu verprügeln, kümmerte sich Superman vor allem um Kleinstadtgangster) genügend Projektionsfläche für schwer nötigen Eskapismus.

Ein Jahr später bekam er von Bob Kane (der seine Mitautoren von Anfang an ausbootete und den Erfolg für sich allein reklamierte) Konkurrenz vom ebenso ikonischen Batman, der zwar weniger gut gezeichnet war, aber in der Idee des düsteren Kreuzritters der Nacht bis heute die Gemüter beschäftigt. Es ist wohl fair anzunehmen, dass er Superman als ikonischsten und bekanntesten Superhelden mittlerweile abgelöst hat. Die letzte ikonische Ergänzung des goldenen Kanons war Wonderwoman, ein Charakter, der als Proto-Feminstin und Bondage-Fan mehr als nur eine hochgezogene Augenbraue hervorrufen sollte (gleich mehr dazu), aber gerade deshalb auch so beliebt war.

Zahlreiche neue Superhelden, viele von ihnen heute nicht mehr bekannt, kamen dazu. Der Zweite Weltkrieg war ihre erste Hochphase. Die Superhelden bekämpften die Nazis und stellten sich in den Dienst patriotischer Landesverteidigung (wozu auch gehörte, dass Siegel und Schuster die Kontrolle über Superman verloren; jüdische Autoren an der Spitze der Verkörperung Amerikas ging den des Antisemitismus nicht fremden amerikanischen Behörden dann doch zu weit). Doch nach dem Krieg begann ein ebenso rascher Abstieg: Noir und Dime Novels liefen den Comics den Rang ab, und eine zunehmende moral panic erfasste die Branche.

Diese moral panic ist die erste von zahllosen konservativen backlashs gegen die Jugendkultur de jour, die von Rock’n’Roll über Filme hin zu Rollenspielen, Punk, Videospielen und Smartphones alle möglichen Entwicklungen erfassen würde. Stilbildend ist sie vor allem durch die Figur Fredric Werthams, eines Kreuzritters gegen eine nicht verstandene Kultur, dafür aber ohne jede Hemmung, Fachkenntnis oder intellektuelle Aufrichtigkeit. Mit seinem Buch „Seduction of the Innocent“ schürte er eine ohnehin überschäumende Panik, die zusammen mit dem zeitgleich laufenden Red Scare McCarthys einen potenten Mix einging. Es war die originale Cancel Culture, wie man heute nicht sagen würde, weil es von Konservativen ausging.

Comics zensierten sich selbst bis zur Selbstaufgabe und wurden geradezu absurd harmlos. Supermans Familie mitsamt Superhund oder Batmans albernste Abenteuer, aus deren Feeling sich später Adam Wests Batman-Serie entwickeln würde, stammten aus dieser Zeit. Das Goldene Zeitalter der Comics war zu Ende, und es gab nichts, das es zu ersetzen schien.

Zu Beginn der 1960er Jahre aber wendete sich das Blatt. Einige junge Talente bei dem Verlag, der später Marvel werden würde (und damals die Grundlagen für die Ausbeutung seiner Autoren und Zeichner (alles Männer) legte), schufen mit den Fantastischen Vier einen neuen Typus Superhelden: eine leicht dysfunktionale Familie. Die F4 revolutionierten das Comicgenre, aber bei weitem nicht so sehr wie der quintessenzielle Held des Silbernen Zeitalters: Spiderman.

Seine Revolution bestand darin, dass er ein jugendlicher Held war, mit all den typischen Problemen von Jugendlichen, der nicht der Sidekick eines Erwachsenen war. Sidekicks waren die geldmachende Erfindung des Goldenen Zeitalters, von Supergirl über Robin the Boywonder zu Bucky. Zum ersten Mal durften sich die jugendlichen Lesenden nun selbst mit dem Helden identifizieren, sich in ihrem Alltag in ihn hineinimaginieren.

Weitere Helden folgten. In den 1970er Jahren wurden die Geschichten esoterischer, trippiger. Der Drogenkonsum der Ära trug sicher das Seinige dazu bei. Antihelden kamen das erste Mal in Mode (vor allem der „Silver Surfer“), aber insgesamt begann das Genre etwas zu stagnieren. In dieser Epoche ändert sich auch der Erzählmodus des Buchs massiv. Der Autor war in dieser Zeit selbst Comic lesender Fan, und er strukturiert das weitere Buch nun autobiografisch.

Für mich begann dadurch der Lesegewinn deutlich zu sinken. Ich bin nicht am Leben Grant Morrisons interessiert, und Titel und Aufmachung des Buchs wiesen auch nicht darauf hin, dass die Hälfte eine Autobiografie werden würde. Seine Bekanntschaft mit den Autoren der folgenden Zeit, etwa Alan Moore oder Frank Miller, und seine persönliche Haltung zu deren Werken färbt auch massiv die weitere Erzählung, die von einer Geschichte der Superhelden zu einer Geschichte Grant Morrissons und seinem Verhältnis zur Superheldenindustrie wird.

Das ist stellenweise durchaus interessant, wo er etwa die wechselnden Arbeitsbedingungen der Industrie aufzeigt, in der man in den 1980er und 1990er Jahren tatsächlich Geld verdienen konnte anstatt wie vorher und seither völlig ausgebeutet zu werden. Aber auch hier bleibt Morrison wesentlich zu autobiografisch und auf seine eigene Erfahrung bezogen.

Gleichzeitig werden die Schilderungen wesentlich ausführlicher und die besprochenen Helden obskurer. Jeder Überblick, wie er für die „klassischen“ Epochen des Goldenen und Silbernen Zeitalters geschaffen worden war, geht verloren. Ich habe deswegen nach rund drei Vierteln die Lektüre abgebrochen.

Thomas Sandkühler – Das Fußvolk der »Endlösung«. Nichtdeutsche Täter und die europäische Dimension des Völkermords. »Aktion Reinhardt«: die Rolle der »Trawniki-Männer« und ukrainischer Hilfspolizisten

Obwohl der Holocaust wohl eines der best-rezipierten Themen der deutschen Geschichte ist, gibt es in der Forschung immer noch zahlreiche Leerstellen und Unklarheiten. Dazu kommt, dass die Interpretation des Holocaust großen Änderungen unterworfen ist, die von der Öffentlichkeit nicht immer nachvollzogen werden – zumindest nicht auch nur annähernd in der Geschwindigkeit, in der die Forschung voranschreitet. Obwohl etwa die Bedeutung des Teils des Holocaust, der sich außerhalb der Vernichtungslager durch Erschießungen und andere direkte Gewalt vollzog – immerhin etwa die Hälfte der Morde – in der Forschung seit den 1990er Jahren stark in den Fokus gerückt ist, bleibt in der öffentlichen Wahrnehmung immer noch die Rampe von Birkenau und mit ihr die Vorstellung eines industriellen, organisierten, effizienten Massenmords vorherrschend. Dazu gehört auch eine kuriose Entfernung von den eigentlichen Taten: die deutsche Rezeption legte in der Forschung und legt noch immer in der Öffentlichkeit großes Gewicht auf die „Schreibtischtäter“ und die Bürokratie des Terrors, die das spezifisch Deutsche des Holocaust gut zu unterstreichen scheinen – einerseits seine Singularität in der Industralität, andererseits die Effizienz, die mit dem deutschen Selbstbild auf geradezu perverse Art zusammenpasst. Tatsächlich legten die Nazis Wert darauf, die Drecksarbeit nach Möglichkeit andere für sich machen zu lassen. Auf dieses „Fußvolk der Endlösung“ legt Thomas Sandkühler im vorliegenden gleichnamigen Band seine Aufmerksamkeit.

Es handelt sich bei dem Buch um eine wissenschaftliche Studie, die nicht unbedingt für die Bestsellerlisten gedacht ist. Die Struktur ist super ordentlich und filigran durchnummeriert, die Sprache wissenschaftlich-trocken, der Fußnotenapparat ausufernd, das Thema stark eingegrenzt. Nichts davon ist eine Aussage zur Qualität, sondern nur zur Zielgruppe. Sandkühler untersucht in seinem Buch zwei Organisationen „fremdvölkischer“ Hilfskräfte (Trawniki-Männer und ukrainische Hilfspolizei) in einem vergleichsweise kleinen Gebiet (Lublin und Lemberg sowie das Vernichtungslager Belzec), wo ungefähr eine halbe Million Menschen ermordet wurden.

Die ukrainische Hilfspolizei wurde von den Deutschen aus dem (deutlich größeren) Pool der faschistischen Milizen rekrutiert, die sich nach Barbarossa bildeten, um für einen (faschistischen) ukrainischen Staat zu kämpfen. Die Deutschen standen diesem Nationalismus sehr feindselig gegenüber und unterdrückten ihn quasi von Anfang an, rekrutierten aber verlässlich scheinende Milizmänner für die (bewusst zu klein angesetzt) ukrainische Hilfspolizei. Vorrangig griff man auf Leute mit Erfahrung als Polizisten aus der Westukraine zurück. Diese sollte den Deutschen bei der Verwaltung des Judenmords in den besetzten Regionen zur Hand gehen. In Polen hatte 1939 eine ähnliche Rekrutierung mit dem so genannten „volksdeutschen Selbstschutz“, einer Miliz der deutschsprachigen Minderheit, stattgefunden. Die regulären deutschen Stellen waren mit dem resultierenden Chaos, der Gewalt und der Korruption auch da schon nicht warm geworden, aber für die SS-Vernichtungsmaschinerie machte sie genau den Charme aus.

Die Trawniki-Männer wurden nach dem Ausbildungslager für Wachsoldaten in Trawniki benannt und rekrutierten sich aus gefangenen Rotarmisten, für die dieser Dienst die einzige Rettung vor dem sicheren Tod in deutscher Kriegsgefangenschaft war (die Nazis ermordeten mehrere Millionen gefangener Rotarmisten, vor allem 1941/42). Rekrutiert wurden bevorzugt Sowjetdeutsche (geläufig „Russlanddeutsche“ genannt), aber auch als geeignet angesehene Soldaten aus Russland, Weißrussland, den baltischen Staaten und vor allem der Ukraine. Gesiebt wurde vor allem nach Ideologie: einerseits keine Mitgliedschaft in der KPdSU (also keine Politoffiziere oder NKWD-Personal) und andererseits möglichst großer Antisemitismus. Beides musste man damals nicht allzulange suchen.

Die Deutschen bezeichneten alle Trawniki-Männer gerne als „Ukrainer“. Genauso wie bei den „Russlanddeutschen“ ist in diesen abwertenden Begriffen und ihrer tiefen Verankerung im deutschen Sprachgebrauch ein Gutteil der Irrtümer über die Geschichte dieser Epoche zu finden, die gerade auch im russischen Angriffskrieg auf die Ukraine fröhliche Urständ feiern, indem einerseits die Sowjetunion mit Russland gleichgesetzt wird (wohl kein Zufall, dass in Deutschland lange „England“ für Großbritannien und „Amerika“ für die USA gängig war).

Die Rekruten – ob für ukrainische Hilfspolizei oder Trawniki – waren grundsätzlich eine Unterschicht in der deutschen Hierarchie. Ihre Ausbildung war extrem hart, und für jedes noch so geringe Disziplinarvergehen gab es drakonische Strafen – meist Prügelstrafen, die von allen deutschen Vorgesetzten praktisch anlasslos vollzogen werden konnten. Der Lohn, der den Männern ausbezahlt wurde, was extrem niedrig (Faktor 10 unter den niedrigsten deutschen Löhnen), weswegen Plünderung und Diebstahl jüdischen Eigentums an der Tagesordnung war. Das wiederum bestätigte die vorher gehegten deutschen Vorurteile „krimineller“ Slawen. Nicht, dass die Deutschen irgendetwas hätten von den Trawniki lernen können; wie wir noch sehen werden, machte der SS bei Korruption niemand etwas vor.

Organisatorisch wurden die „fremdvölkischen“ Hilfstruppen in die deutschen Strukturen eingebunden, mitsamt Uniformordnung, Abzeichen, Dienstverordnungen und Auszeichnungen. Die Trawniki etwa gehörten formal zur Waffen-SS. Sehr gut sichtbar ist ein typisches Merkmal des NS-Staats, die Doppelung von Strukturen. Im Fall der Trawniki ist es sogar eine Verdreifachung: die Befehle kamen über drei verschiedene, voneinander unabhängige, aber überlappende und verwobene Befehlsketten bei den Männern an. Das war „on the ground“ natürlich kaum nachzuvollziehen und förderte weiter das Chaos und die Unklarheit der Strukturen und damit eine Enthemmung der Gewalt.

Der Beginn des Massenmords liegt in der „Aktion T4“, der Ermordung Geisteskranker in Deutschland. Die Aktion rief massive Proteste im Inland hervor, beschäftigte die Polizei und Justiz, musste mehrfach abgebrochen und verlegt werden. Es war auch der einzige Massenmord, der auf einem schriftlichen Führerbefehl basierte. Aus T4 zogen die Nazis verschiedene Schlussfolgerungen: Hitler selbst erteilte nie wieder einen Mordbefehl schriftlich (was Rechtsextreme bis heute als Anlass nutzen zu behaupten, er habe von der „Endlösung“ nicht gewusst, was völlig absurd ist), die Morde mussten außerhalb des deutschen Reichs geschehen, geheim gehalten und die Täter sollten nach Möglichkeit keine Deutschen sein. Gleichzeitig wurde das T4-Personal benutzt, um den folgenden Massenmord an den Juden zu planen.

Man darf sich diese Organisation keinesfalls als in irgendeiner Weise effizientes, durchbürokratisiertes Verfahren vorstellen. Stattdessen herrschte (absichtlich) völliges Chaos, das dem Personal vor Ort gewaltige Handlungsspielräume öffnete. In den Ghettos wurde ein exzessives Ausweiswesen betrieben, das theoretisch für die Wirtschaft relevante Häftlinge von den anderen trennen sollte, in der Praxis aber vor allem genutzt wurde, um Verhaftungsgründe zu schaffen. Die Hilfspolizei hatte hohe Verhaftungsquoten, die sie erfüllen musste – also aus dem Ghetto heraus in die beginnenden Lager -, so dass die Polizisten verhafteten, was sie in die Finger bekommen konnten, auch Facharbeiter. Das führte zu Beschwerden der Wehrmacht, die kein Problem mit dem Judenmord, wohl aber mit Störungen ihrer Lieferketten hatte.

Die Räumung der Ghettos was ebenfalls eine hoch chaotische und gewalttätige Angelegenheit. Mittlerweile war die ukrainische Hilfspolizei mit Waffen und Munition ausgestattet worden. Theoretisch unterlag sie den polizeilichen Regelungen für den Schusswaffeneinsatz, praktisch zeigen die Reporte, dass genau das Gegenteil vonstatten ging. Dieses ständige Operieren in einer Scheinlegalität ist typisch für den ganzen NS-Staat.

Bei der Räumung der Ghettos kam es zu massenhaft Bestechungen und Plünderungen. Die Nazis hatten Regeln dafür erlassen: Bestechungen und Plündergut waren zu melden und abzugeben. Die SS finanzierte aus dieser Beute den Völkermord, der aufkommensneutral zu sein hatte. Quasi die schwarze Null des Holocaust. Obwohl große Beuteteile abgegeben wurden, steckten natürlich sowohl die ukrainischen Hilfspolizisten als auch, vor allem, die SS-Institutionen massenhaft Beute in die eigene Tasche, je weiter oben in der Hierarchie, desto mehr. Globocnik, der regionale Zuständige, ist ein besonders auffälliges Exemplar für Korruption, so sehr, dass sich Hitler gezwungen sah, ihn zu versetzen (was praktisch nie vorkam). Die Deutschen waren daher die Hauptplünderer, obgleich sie das natürlich in rassistischem Dünkel genau den „Ukrainern“ vorwarfen.

Auffällig ist auch die Gewalt, mit der bei der Räumung der Ghettos vorgegangen wurde. Menschen wurden von Dächern gestürzt, auf offener Straße erschossen oder erschlagen. Leichen lagen tagelang auf den Straßen herum. Ein besonders traumatisches Beispiel ist die „Räumung“ eines Kinderheims, bei dem die Kleinkinder aus den Fenstern geworfen und von den Soldaten als Ziele für „Tontaubenschießen“ verwendet wurden. Die Vorstellung eines „industriellen“ Massenmords  verblasst angesichts solcher apokalyptischer Szenen völlig.

Generell liefert Sandkühler eine sehr detaillierte Rekonstruktion, die hier nur schwer zusammenzufassen ist. Die Räumung des Lemberger Ghettos durch die ukrainische Hilfspolizei führ in jedem Fall zu einer großen Schlussfolgerung: Es handelte sich keinesfalls um eine „ganz normale Organisation“, wie in der Forschung bisher immer wieder zu lesen war, sondern eine verbrecherische, in in SS-Strukturen eingebettete und ohne sie nicht denkbare Mordmaschinerie, die nach ähnlichen Prinzipien funktionierte.

Nach der Räumung der Ghettos landeten die Opfer in den Vernichtungslagern. Hier wendet Sandkühler den Blick auf die Trawniki-Männer in Belsec. Er beginnt seine Einordnung mit ausführlichen soziologische Grundlagen, von der Ethnizität der Täter bis hin zu ihren Namen und Einsatzorten, rotierenden Dienstplänen und so weiter. Auch hier ist es schwer, zu einer einfachen Zusammenfassung zu kommen. Auffällig ist, dass die Fluktuation der Trawniki-Männer außerordentlich hoch war.

Auch im Kapitel über Belzec herrscht die Widerlegung des Mythos‘ von der „lautlosen Tötungsmaschinerie“. Stattdessen sehen wir brutale Gewalt. Spätestens im Sommer 1942 wussten die Juden, was sie am Ende ihrer Reise erwartete. Es war auch kaum möglich, darüber nicht Bescheid zu wissen. Sandkühler weist nach, dass Deutsche und Polen in der Region 1942 klare Kenntnisse über den Massenmord durch Gas hatten. Der Gestank des Lagers muss bestialisch gewesen sein und war kilometerweit zu riechen; im etwa zwei Kilometer entfernten Bahnhof etwa konnte man nur durch Taschentücher atmen, weil der Gestank verbrennenden und verwesenden Menschenfleischs so übel war. Wie müssen da die Zustände im Lager gewesen sein?

Die Juden versuchten, sich dem Gang ins Gas zu verweigern. Das Lager war entsprechend angelegt. Gebrechliche, Kranke oder Kleinkinder wurden direkt neben den Bahngleisen erschossen (wo die Leichen auch tagelang herumlagen, die Juden stiegen im Endeffekt aus den Zügen auf Leichen aus), der Rest durch den „Schlauch“ (ein schmaler, durch doppelten Stacheldraht strukturierter Gang) zur Gaskammer getrieben. Dabei wurden sie ausgepeitscht und geprügelt, damit sie sich bewegten. Man pferchte sie in die Kammern, schloss sie und startete den U-Boot-Motor, der die Kammer mit Monoxid füllte – ein qualvoller, rund 30 Minuten dauernder Erstickungstod, während dem die nächste Gruppe neben der Kammer auf ihre eigene Vergasung warten musste. Die Leichen, verzerrt und voller Fäkalien, wurden von Häftlingskommandos herausgezerrt, auf Loren verladen und in riesigen Massengräbern verscharrt.

Diese Massengräber verseuchten innerhalb kürzester Zeit den Boden, so dass ein halbes Jahr später begonnen wurde, sie wieder auszugraben und zu verbrennen. Jüdische Arbeitskommandos mussten das von Hand tun und die verwesenden Leichtenteile zu den Scheiterhaufen tragen, inklusive der mittlerweile verflüssigten Körperteile. Das Grauen lässt sich in Worte kaum fassen. Die Deutschen hatten durch Trial&Error herausgefunden, wie sie die Toten schichten mussten, damit diese brannten. Die Scheiterhaufen erreichten eine Stichflammenhöhe von zehn Metern, machten einen Höllenlärm (im wahrsten Sinne des Wortes) und brannten für mehrere Monate ohne Unterlass, Tag und Nacht, und waren kilometerweit sichtbar, so dass sogar Feuerwehreinsätze der polnischen Feuerwehr ausgelöst wurden.

Das zeigt, wie schizophren der Gedanke war, irgendeine Art von Geheimhaltungspolitik betreiben zu können, und das ist bevor wir dazu betrachten, dass Globocnik es sinnvoll fand, Gerüchte über den Massenmord zu streuen, um die Bevölkerung in Angst zu halten und leichter kontrollieren zu können. Die Vorstellung jedenfalls, man habe nichts vom Judenmord gewusst, kann langsam endgültig ins Reich der Legenden verwiesen werden. Die Beteiligten redeten darüber, die Anwohner*innen redeten darüber, und die Neuigkeiten kamen in alle Winkel Europas. Relevant war nur die Geschwindigkeit: als verlässliche Informationen über den Massenmord im Ausland eintrafen – gegen Ende 1942 – war der Großteil des Holocaust bereits abgeschlossen; das Lager Belzec etwa war Ende 1942 bereits praktisch aufgelöst.

Die Trawniki waren in dieser Angelegenheit sowohl Opfer als auch Täter. Opfer, weil sie mit dem Trauma und der brutalen Disziplin alleingelassen waren, Täter aus offensichtlichen Gründen. Sie waren praktisch dauerhaft betrunken oder zumindest angetrunken. Die massiven Plünderungen in Belzec wurden meist direkt im Ort in Alkohol umgesetzt (was ihnen verboten war und bei Entdeckung zu brutalen Disziplinarstrafen führte). An den Plünderungen nahm auch die Bevölkerung teil. Als die Deutschen Belzec abrissen, pflanzten sie sogar neue Bäume, um die Spuren zu verwischen. Die Anwohner*innen gruben das Gelände aber ständig nach Beute um, so dass die Deutschen Wachen stationieren mussten; nach ihrem Abzug fanden dann sofort wieder „Grabungen“ statt, die dann ihrerseits von den Sowjets unterbunden werden mussten. Viele Trawniki selbst waren am Ende des Krieges effektiv gestrandet: bei Gefangennahme mussten sie Folter und Hinrichtung durch den NKWD fürchten, aber in Deutschland gab es für sie auch keinen Platz.

Das Buch zeigt eindrücklich auf, dass die Quellenlage über den Holocaust insgesamt immer noch nicht vollständig ist. Zahlreiche Lücken machen das Klären von Detailfragen wie etwa die Motive und Herkunft der Trawniki-Männer sehr schwer. Die Holocaustforschung steckt offensichtlich noch voller Möglichkeiten, Leerstellen und offenen Fragen, und es gibt zahlreiche etablierte Narrative, die so nicht mehr haltbar sind. Das vorliegende Buch bietet ein exzellentes Schlaglicht auf einige dieser Aspekte.

Matthew Gabrielle/David M. Perry – The Bright Ages: A New History of Medieval Europe (Hörbuch)

Im Jahr 476 fiel das Römische Reich. Germanische Stämme plünderten die „Ewige Stadt“, der letzte Kaiser wurde abgesetzt und das Reich zerfiel. Mit ihm ging das Licht zivilisatorischen Fortschritts aus der Welt und machte den „Dunklen Zeiten“ Platz, einer Ära der Gewalt und der Unwissenheit, in der religiöser Aberglauben die Philosophie, kleine Feudalherren die römische Bürokratie und das Faustrecht den Pax Romana ersetzten. Aus diesem Morast entwickelten sich harte Krieger, die Ritter, und die Beginne der europäischen Nationen, die sich dann in der Neuzeit formieren würden. Sein Ende fand dieses dunkle Mittelalter mit der Renaissance ab dem 15. Jahrhundert, in dem die antiken Wissensbestände wiederentdeckt und der Buchdruck erfunden wurden und die Wissenschaft den Aberglauben zurückzudrängen begann, während die europäischen Nationalstaaten die Welt unterwarfen und schließlich mit der Industriellen Revolution ins Zeitalter der Moderne eintrafen. So zumindest lautet eine grob zusammengefasste Vulgärversion dessen, was viele über das Mittelalter zu wissen glauben. Das Gerede von den „Dunklen Zeiten“, den „dark ages„, wird von der Wissenschaft seit mittlerweile einem Jahrhundert in Zweifel gestellt, hält sich aber hartnäckig. Matthew Gabrielle und David M. Perry unternehmen in dem vorliegenden Band einen neuen Versuch: sie postulieren, es seien stattdessen „Helle Zeiten“, „bright ages„, gewesen. Ich kann an revisionistischer Geschichtsschreibung nie einfach nur vorbeigehen, und das Klischee des düsteren Mittelalters stört mich schon lange. Also habe ich mir das Buch zu Gemüte geführt.

Dass Rom nicht einfach unterging, und schon gar nicht in einem zu bestimmenden Jahr wie 476, sondern ganz im Gegenteil lange weiter ein Eigenleben führte, ist mittlerweile unter Historiker*innen eigentlich common sense (wen das detailliert interessiert, dem sei dieser Beitrag ans Herz gelegt). 476 wurde Rom nicht zum ersten Mal geplündert, und für die Zeitgenoss*innen hatten die Ereignisse keine hervorgehobene Bedeutung. Diese wurde vom Stammvater des oben erwähnten Narrativs, Edward Gibbons, reichlich unhistorisch erfunden. Stattdessen weisen Gabrielle und Perry auf zwei maßgebliche Faktoren hin.

Das erste sind die erobernden Goten selbst. Anstatt, wie man das erwarten würde, den römischen Staat und die römischen Institutionen zu zerstören und sich zu Königen Italiens (oder wo auch immer sich ihr aktueller Herrschaftsbereich erstreckte) auszurufen, stellten sie sich direkt in die Tradition der Römer, übernahmen teilweise ihre Institutionen und beriefen sich auf deren Legitimation. Das ging soweit, dass sie sich offiziell der Oberherrschaft Konstantinopels (Byzanz) unterstellten.

Überhaupt, Byzanz. Das römische Reich endete wenn überhaupt dann nur im Westen. Die westliche, selbstzentrierte Geschichtsschreibung hat jahrhundertelang den Ostteil des Römischen Reichs ignoriert, der aber ohne jeden Bruch bis 1453 weiter existierte. Tief ins Mittelalter hinein war Konstantinopel „die Römer“, und der lebhafte Austausch mit dem Westen blieb bestehen. Das gilt, wie wir noch sehen werden, selbst für die peripheren Außenposten wie Britannien. Im Verlauf des Buchs betonen die Autoren immer wieder die Bedeutung von Byzanz für die europäisch-arabische Welt.

Die Zeitgenoss*innen sahen sich auch nicht in einem dunklen Zeitalter, im Gegenteil. Die Kirchenbauten der damaligen Zeit – die Autoren kommen immer wieder auf die Galla Placidia in Ravenna zurück – reckten sich in den Himmel und versuchten, das Göttliche hervorzuheben. Künstliche Himmel und Sternenglanz schmückten die Decken. Genauso wie beim (alten) Römischen Reich täuschen auch die schlichten Steinoberflächen vieler Monumente darüber hinweg, dass sie für Zeitgenoss*innen bunt und strahlend waren – dass sich die Bemalung nicht erhalten hat, trübte unsere Wahrnehmung dieser „bright ages“ nachhaltig.

Auch der Aufstieg des Islam und die muslimischen Eroberungen zerstörten die Strukturen des antiken Lebensraums nicht. Zwar hörten die eroberten Bereiche künftig – zumindest für ein knappes Jahrhundert, bevor die muslimische Welt fragmentierte – auf die Befehle Mekkas statt Roms. Aber der Austausch von Waren, Menschen und Ideen ging weiter wie früher auch. Überhaupt heben die beiden Autoren in diesem Abschnitt die Gemeinsamkeiten der arabischen und christlichen Welt hervor, waren sie doch Monotheisten und beteten denselben Gott an. Im 7. und 8. Jahrhundert konvertierten die Muslime die unterworfenen Bevölkerungen auch weitgehend nicht, sondern stratifizierten die Gesellschaften. An der Spitze standen die Muslime, darunter (mit Sondersteuern und weniger Rechten) die anderen Monotheisten, also Christen und Juden, und dann der Rest. Dieses System dürfte jedem Einwohner des vorherigen Römischen Reichs bekannt vorkommen. Erst mit der Zeit konvertierten die Bevölkerungen immer mehr, um die Sondersteuern zu umgehen – und durch Gewöhnung. Als Bedrohung aber empfand „die Christenheit“ den Islam nicht, schon allein, weil „die Christenheit“ nicht exisiterte.

Die Autoren legen viel Gewicht darauf, dass es nicht „das Christentum“ des Mittelalters gab, sondern viele Christentümer (so wie es auch viele Islams gab). So konnte der eine christliche Herrscher problemlos ein Bündnis mit einem islamischen Herrscher haben, wo ein anderer einen heiligen Krieg gegen Ungläubige focht. Die jeweiligen Ungläubigen konnten stets auch andere Christen sein; die Grenzen waren fließend. Koexistenz und Konflikt wechselten ständig ab. Wir werden auf dieses Motiv im Rahmen der Kreuzzüge noch zurückkommen.

Die Autoren nehmen auch die Rolle von Frauen in Politik und Religion in den Blick. Diese, so postulieren sie, war weit stärker ausgeprägt als in den klassischen Narrativen auf das Mittelalter häufig angenommen. Zwar genossen Frauen bei weitem keine Gleichstellung, aber die hatten sie natürlich auch vorher nicht genossen. Tatsächlich waren Frauen im Mittelalter freier, als sie es in Rom gewesen waren und besaßen größere Handungsspielräume (der Komparativ hier ist allerdings sehr wichtig).

Sie konnten hervorgehobene Rollen in der Politik übernehmen, indem sie ihre Heiraten bestimmten und ihre Kinder und Ehegatten berieten; gleichzeitig war solche politische Macht immer bedingt und konnte ihnen jederzeit entzogen werden. In der Religion waren es vor allem die Frauen, die die Christianisierung vorantrieben. Sie überredeten ihre heidnischen Ehegatten zur Konversion, waren Rollenvorbilder für die Gesellschaft und förderten den Kult und die Kirche. Im Rahmen der Literatur des Mittelalters werden wir noch einmal auf Frauen zurückkommen.

Ich möchte aber an dieser Stelle meine erste Kritik an dem Buch loswerden: die Autoren beschränken sich praktisch vollständig auf die Geschichte der politischen und kulturellen Elite. Wenn sie von „Frauen“ sprechen, meinen sie adelige Frauen. Wo Männer vorkommen, sind es Adelige und Kleriker. Die 99% spielen praktisch keine Rolle. Das ist angesichts dessen, dass sie weitgehend eine Kulturgeschichte erzählen, wenig verwunderlich. Aber es ist eine Leerstelle, die arg selbstverständlich als solche belassen wird, so dass die verallgemeinernde Darstellung der „bright ages“ von den Lesenden stets durch die bittere Armut der Subsistenzwirtschaft bäuerlicher Kreise gedanklich ergänzt werden muss.

Die Autoren selbst wenden nun den Blick auf Großbritannien. Sie verwerfen das nationalistische Narrativ einer Insel ohne Kontakte, der rauen Peripherie, aus der sich der spätere englische Nationalstaat herausschälen wird. Dieses besonders unter der britischen Rechten enorm beliebte Narrativ relativieren sie durch das Herausstellen der Kontakte, die die Briten durch die ganzen oh so dunklen Zeiten hatten (ein Beispiel hierfür ist die Übernahme von Heiligen aus Kleinasien, was regelmäßige kulturelle Kontakte voraussetzt). Britische Mönche beziehen sich auf Kleriker aus Ägypten, Handel findet weiterhin statt, und so weiter. Auch die Wikingerinvasionen sind weniger eine Zäsur als eine vorübergehende Gewaltwelle; Britannien bleibt über das gesamte Mittelalter an das restliche Europa angebunden.

Ich erwähnte gerade bereits die Mönche. Keine Darstellung des Mittelalters wäre ohne sie vollständig. Sie fungierten als intellektueller Knotenpunkt, indem sie missionierten (und damit das Christentum in jeden Winkel des früheren Römischen Reichs brachten), normative Alternativen anboten (eine Abkehr von heidnischen Kulten und gänzlich neues Selbstverständnis, gerade mit Hinblick auf das Jenseits) und als Wissensreproduzenten dienten. Mönche kopierten Texte, und zwar nicht nur als zufälliges Beiwerk, wie das abschätzend gerne angenommen wurde, sondern durchaus in wissenschaftlicher Absicht. Umberto Ecco zum Trotz wurde Aristoteles auch im Mittelalter beständig gelesen.

Die Bedeutung der Religion für den Adel wird von den Autoren durchgängig immer wieder betont. Die meisten Menschen waren tief gläubig (es ist generell eine gute Faustregel anzunehmen, dass frühere Gesellschaften ihre Religion ernstnahmen). Sie waren in ständiger Sorge um ihr Seelenheil, gerade weil ihr gewalttätiges Verhalten oft in so krassem Gegensatz zur Lehre des Christentums stand. Über die Jahrzehnte und Jahrhunderte setzte sich so immer mehr die Idee des Gottesfriedens durch; die frühen „Raubritter“ in ihren Motten wurden nach und nach durch „echte“ Ritter ersetzt, die wir aus den Geschichten kennen. Nicht, dass allzuviele Exemplare den hohen Ansprüchen genügt hätten, aber das anarchische Gewaltfest des Frühmittelalters fand gerade auch durch die intellektuelle Arbeit der kulturellen Elite ein Ende und wurde eingehegt.

Nicht nur die Briten hatten wesentlich mehr Kontakte zur restlichen Welt, als das gemeinhin angenommen wird. Die Autoren erzählen eine (belegte) Geschichte über Karl den Großen, der vier Jahre nach seiner Kaiserkrönung ein ungewöhnliches Geschenk aus dem Kongo (!) erhielt: einen Elefanten. Das Tier lebte immerhin bis 818 und war für den Kaiser ein ständiges Exponat seines Herrschaftsanspruchs. Das ist deswegen interessant, weil sich Karl ja nicht nur als Römischer Kaiser inszenierte – und damit in einer ungebrochenen Traditionslinie mit Rom – sondern dass er auch andere Kontinuitäten konstruierte. Der Elefant wurde als Sendbote Persiens (in leichter Verkennung geografischer Gegebenheiten) interpretiert; in dieser Lesart führte Karl die Beziehungen mit diesem großen Rivalen Roms direkt fort.

Ganz und gar nicht in römischer Kontinuität standen dagegen die Kreuzzüge. Die Autoren legen Wert darauf, dass es „heilige“ Kriege schon vor 1098 gegeben hatte, wenngleich in kleinerem Ausmaß (sie warnen auch davor, die allesamt nach der Eroberung Jerusalems geschriebenen Geschichten des Kreuzzugs zu wörtlich zu nehmen). Sie postulieren ein beständiges Abwechseln von Koexistenz und Heiligem Krieg. Zwar war der Mittelmeerraum kein Multikultiparadies, aber vom „Clash of Cultures“ (eine These, die sie mehrfach entschieden verwerfen) war wenig zu spüren. Es ist auffällig, wie unbedeutend die Kreuzzüge für die Muslime sind; in ihrer Geschichtsschreibung spielen sie kaum eine Rolle.

Auch die Schlacht von Tours, die von Rechten gerne als Beginn eines ethnisch reinen Christentums gesehen wird, verwerfen sie als weitgehend irrelevant. Für die Muslime war es nur ein Scharmützel; die Christen rieben letztlich eine Spähabteilung auf. Es waren MODERNE Autoren, die das Ganze mit Bedeutung aufluden, wie so oft für das Mittelalter. Dieses Beseitigen eines Dickichts von Narrativen von der Renaissance bis heute ist die schwierige Aufgabe der Mediävisten, und die Autoren wenden sich mit Gusto dagegen. Viel wichtiger erscheinen ihnen Differenzen innerhalb des Islam; so etwa verbündet sich Toledo im Kampf gegen andere Herrscher von al’Andalus mit christlichen Herrschern und öffnet seine Tore. Ständig wechselnde Allianzen von Christen und Muslimen, von Koexistenz und Hass kennzeichneten diese Epoche. Die Autoren wenden sich an dieser Stelle auch gegen das spiegelbildliche progressive Zerrbild; wo die Rechten gerne einen „clash of cultures“ beschwören, sehen Progressive gerne ein „conviventia„, ein friedliches, multikulturelles Zusammenleben als Vorbild für die heutige Zeit. Die Autoren machen deutlich, dass es so rosig bei weitem nicht war. Misstrauen und Konflikt waren prägend und genauso häufig wie Koexistenz.

Das alles hinderte aber nicht eine gegenseitige intellektuelle Befruchtung, wie sie in typischen Mittelalter-Narrativen praktisch gar nicht vorkommt. Große Denker wie Moses Maimonedis und Ibn Sina wurden im gesamten christlichen Europa viel gelesen und rezipiert, ebenso wie Aristoteles und andere Philosophen. Das christliche Europa brachte seinerseits seine eigenen Intellektuellen hervor, die bis nach Ägypten kamen und dort direkt mit den Ideen in Berührung kommen und diese diskutieren, um sie danach wieder in ihre Heimat zurückzubringen. Zwar mag das politische Gebilde des Römischen Reichs zerfallen sein; die Handelsrouten funktionierten nach wie vor und erlaubten einen regen Austausch von Ideen. Umgekehrt fanden sich auch Araber und Afrikaner an europäischen Höfen (was erneut einige typische rechte Narrative zerstört).

An dieser Stelle sprechen die Autoren über die Literatur des Mittelalters, vor allem die beliebten Artus-Romane. Sie sind aus mehreren Gründen wichtig. Einerseits zeigen sie die (relativ) große Handlungsfreiheit von Frauen, die teilweise auch als Autorinnen tätig waren. Die Artusromane erfüllten nicht nur die Funktion, ideales ritterliches Verhalten darzustellen, sondern dienten auch der Legendenbildung zur Legitimation. Es wurde eine Frühzeit konstruiert, die ein goldenes (ritterliches) Zeitalter darstellte. Der spätere König Henry II. etwa führte seinen Stammbaum dann auch auf arturische Helden zurück.

Hier habe ich einen weiteren großen Kritikpunkt: die Darstellung ist mir hier viel zu rosig. Die Mediävistin Eleanor Janega zeigt auf ihrem großartigen Blog „Going Medieval“ sehr schön auf, wie die Artusromane Frauen objektifizierten und ausschließlich männliche Fantasien bedienten. Die Autoren geben hier dem revisionistischen Überschwang etwas stark nach und lassen es bei der nötigen Trennschärfe der Handlungsfähigkeit von Frauen gegenüber dem, was wir heute darunter verstehen, vermissen.

Heilige Kriege indes, ich erwähnte es bereits, wurden nicht nur gegen Andersgläubige gefochten. Auch innerhalb der Christenheit erfreuten sie sich großer Beliebtheit. So etwa eroberten Kreuzfahrer im vierten Kreuzzug nicht nur entgegen des ausdrücklichen päpstlichen Befehles christliche rumänische Städte, sondern eroberten auch Konstantinopel selbst. Begründet wurde das mit theologischen Differenzen, aber es ging um Plünderung – wie vielen Zeitgenossen durchaus klar war; ein nicht unerheblicher Teil des Kreuzfahrerheeres spaltete sich entrüstet ab und setzte den Kreuzzug (erfolglos) auf eigene Faust nach Ägypten fort. Auch Machtfragen spielten eine direkte Rolle: der Papst in Rom begann immer mehr die Vorrangstellung innerhalb des Christentums zu postulieren, so dass der Patriarch von Konstantinopel ein Konkurrent war. Das Schisma der beiden Religionen war deswegen praktisch unvermeidlich.

Ähnliche Überlegungen bringen die Autoren auch für die Albigenser-Kreuzzüge vor allem in Südfrankreich vor. Die „Ketzer“ wurden von der späteren (revisionistischen) Geschichtsschreibung mit zahlreichen theologischen Verstößen aufgeladen (unter anderem Vegetarismus), aber das sehen die Autoren vor allem als Propaganda. Was die Albigenser (wie viele andere Sekten der damaligen Zeit, etwa die Flagellanten) so gefährlich machte war ihre Ablehnung des Priestertums, das direkt die Macht der Kirche gefährdete. Die Autoren sehen in der offenen Erlaubnis der Kirche jener Zeit zur Gründung von Franziskanern und Dominikanern ein Abwehrmanöver, quasi die Schaffung eigener Orden, die die spirituellen Bedürfnisse unter dem Dach der Kirche erfüllten – sehr erfolgreich, wie man vermerken muss.

Die Franziskaner waren derart erfolgreich, dass sie missionierend bis Karakorum kamen, wo sie bei den Mongolen auf unverständliche Neugier stießen. Die Franziskaner kamen gerade an, als sich die Mongolen anschickten, das größte Reich der Menschheitsgeschichte zu erobern. Sie schufen dabei nicht neue Verbindungen zwischen Ost und West – diese bestanden durch das ganze Mittelalter, wie die Reise der Franziskaner belegt. Aber die Mongolen beschleunigten das Ganze noch einmal. Auch hier sehen wir wieder die Verbindung von Politik und Macht, die im Mittelalter nicht voneinander getrennt werden können. Im Christentum verbreitete sich damals der Mythos vom Priesterkönig Johannes, der angeblich aus einem gewaltigen christlichen Reich im Osten (wahlweise in Indien, Somalia oder der asiatischen Steppe gelegen; die geografischen Details sind nebulös) einen Heiligen Krieg gegen die Muslime führte. In Wahrheit waren es die Mongolen, die dann 1258 Bagdad eroberten und der muslimischen Welt einen Stoß versetzten, von dem sie sich nie erholen sollte.

Wann das Mittelalter genau endet, ist immer eine Definitionsfrage derjenigen, die darüber sprechen. Von Beginn an machten die Autoren die Willkürlichkeit solcher Epocheneinteilungen deutlich, aber irgendwo müssen sie ihre Darstellung auch beenden. Sie tun das mit zwei Faktoren der großen Pest (der „Schwarze Tod“) ab 1346 einerseits und der 1551 erfolgten Debatte zwischen Bartholome de Las Casas und Juan Gines de Sepulveda.

Die Pest war eine direkte Folge der Verbundenheit der Welt und der Urbanisierung. Die Menschen allerdings wussten das nicht; sie suchten – wie immer – eine Erklärung in der Religion. Dazu gehörten sowohl Geißelungen als auch Pogrome, Reue und Exzess. Die Reaktionen waren vielfältig, aber die Pest war ein gewaltiger Einschnitt, der durch die Vielzahl an Toten – rund ein Viertel der Bevölkerung, wenngleich geografisch sehr ungleich verteilt – gesellschaftlich-politische Strukturen wesentlich effizienter störte als es der „Untergang“ Roms je hätte tun können.

Den finalen Schlussstein unter das Mittelalter – in intellektueller Hinsicht jedenfalls – setzen die Autoren mit der Debatte zwischen Las Casas und Sepulveda. In dem Streit ging es um die Frage, wie die spanische Krone mit den Ureinwohner*innen Amerikas umzugehen hatte. Las Casas argumentierte aus mittelalterlicher Logik: die Indios waren Menschen, die Rechte von Gott besaßen und missioniert werden mussten. Die Krone hatte sie zu schützen. Sepulveda argumentierte neuzeitlich: die Krone hatte das Land erobert, die Indios waren keine Spanier, und das Recht des Stärkeren erlaubte ihre Ausbeutung. Sepulveda verlor den politischen Streit, aber er gewann den Diskurs. Die europäischen Herrscher machten sich die Welt untertan und begannen sich in die Nationalstaaten zu entwickeln, die wir heute haben – zum Besseren wie zum Schlechteren.

Insgesamt kann ich die Lektüre des Buchs nur empfehlen. Der allgemeine Kenntnisstand über das Mittelalter ist katastrophal, und die Schulbücher sind ebenfalls immer noch weit hinter dem aktuellen Stand der Forschung zurück, so dass die Narrative auch heute noch beständig reproduziert werden. Leider muss man aber auch sagen, dass die Autoren gelegentlich über das Ziel hinausschießen; eine häufige Gefahr revisionistischer Geschichtsschreibung. Ihr Bild ist oft allzu rosig und malt mit breiten Pinselstrichen über bestehende Ungleichheiten, Unterdrückung und Armut hinweg. Wenn man das aber im Kopf behält, so ist es eine wertvolle Ergänzung.

Zeitschriften

Aus Politik und Zeitgeschichte – Geldpolitik

Geldpolitik läuft für mich unter „das wichtigste Thema, von dem du viel zu wenig verstehst“, weswegen eine Ausgabe der APuZ gerade recht kommt, um einige Lücken aufzufüllen und neue Erkenntnisse zu vermitteln. Mit 64 Seiten anstatt der üblichen 48 ist das Heft reichlich umfangreich geraten, und ich will gar nicht zu viel Zeit verlieren und direkt mit der Besprechung loslegen.

Den Einstieg macht Carolin Müller mit ihrem Aufsatz „Politische Theorie des Geldes“. Gleich zu Beginn wird deutlich, was Geldpolitik so kompliziert macht: es gibt keine allgemein anerkannte Theorie des Geldes. Je nachdem welcher man folgt, was man also glaubt, das Geld eigentlich ist und woher es kommt, wird man zu radikal unterschiedlichen Schlüssen kommen. Müller gibt im Überblick einige der wichtigsten Theorien wieder.

Wenig Zeit verbringt sie mit dem neoklassischen Modell des Gelds als Tauschware, das mittlerweile gründlich widerlegt ist, auch wenn es sich in Wirtschaftslehrbüchern und populären Darstellungen leider immer noch zur Genüge findet. Relevanter ist die Vorstellung von Geld als Kredit: demzufolge ist Geld lediglich ein Schuldschein, der akzeptiert wird und transferierbar ist. Allein, wie entsteht das Geld dann? Müller stellt sowohl private Geldschöpfung – durch die Banken, die es ihrerseits von der Zentralbank aufnehmen – als auch öffentliche Geldschöpfung als mögliche Quellen vor, die sich im Übrigen auch nicht gegenseitig ausschließen müssen.

Der Beitrag wird durch die Folgen dieser Annahmen abgerundet: Wer beispielsweise Geld hauptsächlich als Tauschmittel sieht, wird eher für unabhängige Zentralbanken plädieren als jemand, der Geld eher als Folge von Krediten betrachtet. Müller dekliniert diese Folgen in aller Kürze anhand des Politikwandels der EZB durch, der allerdings wesentlich ausführlicher in den Beiträgen von Ulrike Neyer und Stefan Schäfer behandelt wird.

Eben jene Ulrike Neyer legt den nächsten Beitrag vor, „Die neue geldpolitische Strategie der Europäischen Zentralbank – Grundlagen und Herausforderungen“. Zu Beginn erklärt sie das Mandat der EZB, das einseitig (im Gegensatz etwa zu dem der amerikanischen Fed) auf eine niedrige Inflationsrate festgelegt ist. Bis vor Kurzem bestand dieses Ziel bei einer Inflation von unter, aber knapp bei 2%; in jüngster Zeit hat die EZB einen Strategiewechsel vorgenommen, der aus der langen Niedrigzinsperiode und den geschrumpften Handlungsspielräumen der EZB sowie den makroökonomischen Umständen, die diese Periode erzwungen haben, resultiert. Diesen erläutert Neyer anhand dreier Kernbereiche.

Der erste ist eine neue Zielinflationsrate, das zweite die Festlegung der Instrumente zu ihrer Erreichung und das dritte die Informationen, die hierzu herangezogen werden. Die Zielinflationsrate wurde minimal geändert und beträgt jetzt exakt 2%. Gegen die ordoliberalen Falken war keine größere Erhöhung möglich gewesen. Der größere Umschwung aber besteht in den Instrumenten. Das klassische Instrument des Leitzinses greift nicht mehr, weil dieser einerseits wesentlich weniger wirksam ist als bislang angenommen und zweitens ohnehin praktisch bei null liegt und somit keine Änderungen erlaubt. Stattdessen greift die EZB auf „quantitative Lockerung“ (quantitative easing, QE) zurück, also den Aufkauf von Staatspapieren zur Stabilisierung der Zinsen. Dieses Instrument ist besonders in Deutschland sehr umstritten; diese Diskussion zeichnet Neyer kurz nach.

Bislang beobachtete die EZB die Inflation über zwei Säulen: wirtschaftliche Entwicklung und Stabilität des Bankensektors. Nun wird ein „integrierter Analyserahmen“ benutzt, der den Bankensektor wesentlich stärker in den Blick nimmt. Neyer schließt ihren Beitrag mit einer kurzen Diskussion „grüner“ Geldpolitik, also der Idee, dass die EZB nur nachhaltige Investitionen unternimmt, ab, kommt aber zu dem Schluss, dass dies mit dem EZB-Mandat nicht vereinbar ist.

Zu einer anderen Seite der Funktionsweise des Geldsystems kommt Joscha Wullheber in seinem Beitrag „Zentralbankkapitalismus – Das (Schatten-)Bankensystem in der Krise“. Das Schattenbankensystem lebt vor allem vom sogenannten Repo-Geschäft, also Kaufabsichten zu festgelegten Kursen. Dieses Geschäft ist in den letzten beiden Dekaden explosionsartig gewachsen und hat mittlerweile gigantische Ausmaße angenommen. Da die Repo-Geschäfte stets abgesichert sein müssen, hat ihre gewaltige Zunahme einen ebenso gewaltigen Bedarf an sicheren Anlagen – sprich, Staatsanleihen – geschaffen, der die Vorstellung von weniger Staatsschulden sehr problematisch macht.

Gibt es nämlich nicht genug solcher Anleihen, und werden diese nicht wie von Neyer beschrieben von der EZB mit QE gestützt und unterfüttert, dann ist der Bestand des Schattenbankensystems gefährdet, und mit ihm die Liquidität des gesamten Finanzsenktors. Die Folge ist, dass die Unabhängigkeit der Zentralbanken nicht mehr aufrechtzuerhalten ist, solange dieses System so besteht. Wullheber warnt eindrücklich davor, so zu tun, als ob Politik hier keine Rolle spiele: tatsächlich sind es genuin politische Entscheidungen, die aus diesen Entwicklungen resultieren, und das zu verleugnen ist fahrlässig.

Die große Befürchtung, was aus diesen Entwicklungen resultiert, ist natürlich eine höhere Inflationsrate. Hiermit beschäftigt sich Mechthild Schrooten in ihrem Beitrag „Inflation und Inflationsangst“, in dem zuerst erklärt, was die Inflationsrate eigentlich ist und wie sie gemessen wird (etwa über den durchschnittlichen Warenkorb) und wie sie für bestimmte Bevölkerungsschichten unterschiedlich hoch sein kann. In Deutschland kommt man dabei natürlich auch um eine kurze Betrachtung der Hyperinflation nicht herum, auf die sie aber gnädig wenig Zeit verwendet.

Stattdessen geht es ihr mehr um aktuelle Entwicklungen. Der zeitgenössische Preisschock ist durch externe Faktoren entstanden und durch den wichtigsten überhaupt: Zukunftserwartungen. Wird eine höhere Inflation erwartet, entsteht schnell eine selbsterfüllende Prophezeiung. Die lockere Geldpolitik der letzten zehn, fünfzehn Jahre dagegen ist nicht inflationstreibend (wenigstens bislang). Die heutigen Raten erklärt Schrooten vor allem mit Lieferengpässen und Energiepreisinflation, was soweit ziemlicher Konsens ist. Entschieden streitet sie ab, dass eine „Greenflation“ existiere; ebenfalls irrelevant sind die Löhne, die weit unter der Inflationsrate liegen (so dass wieder einmal die Beschäfigten die Kosten tragen, während die Unternehmen riesige Gewinne einfahren).

Schrooten erläutert in angenehm sachlicher Art, dass Inflation immer Gewinner*innen und Verlier*innen kennt, vor allem Schuldner*innen und Gläubiger*innen. Mich überzeugt dieser Teil nicht vollständig, weil die Annahme, dass ich etwa als Kreditnehmer eines Gebäudekredits von der Inflation profitiere nur dann zutrifft, wenn auch mein Lohn einer Inflation unterliegt (was er aktuell nicht tut), so dass mir dieser Teil etwas halbgar durchdacht erscheint. Völlig bei Schroote bin ich bei der Feststellung, dass es keine einfache Lösung gibt: Leitzinserhöhungen schaffen eine Rezension und treffen vor allem die Ärmsten.

Diese politischen Entscheidungen – und dass sie politisch sind, hat Neyer überzeugend dargelegt – liegen aber gar nicht in der Hand der EU-Mitgliedsstaaten. Diese haben mittlerweile eine eigene Währung, deren Geschichte Stefan Schäfer in „Eine kurze Geschichte der Europäischen Währungsunion“ skizziert. Von der Europäischen Zahlungsunion 1950 bis zum Delors-Report ist seine Abhandlung recht kurz gehalten: die EWG, später EG, schuf lange Zeit nur gemeinsame Zahlungsabwicklungssysteme, dann ab den 1970er Jahren mit dem Ende von Bretton-Woods zunehmend stärker koordinierende Strukturen. Erst mit der deutschen Einheit und Maastricht gewann die Idee einer europäischen Währung mehr Fahrt.

Schäfer unterscheidet zwei zentrale Gruppen: die Monetaristen, vor allem Frankreich und Südeuropa, die das Geld als Grundlage der Union sehen und eher (wir erinnern uns an Müllers Erklärungen zu Beginn) Geldschöpfungstheorien anhängen, und die Ökonomisten, vor allem Deutschland und Nordeuropa, die Geld eher als Tauschware betrachten und eher an den Abschluss der wirtschaftlichen Einigung gesetzt hätten. In der Genese des Euro setzten sich die Monetaristen, in seiner Konstruktion die Ökonomisten durch.

Im Folgenden zeigt Schäfer auf, dass einem „Honeymoon“ bis 2008 die Krise folgte. Er führt das auf Verschiebungen vor allem in den südeuropäischen Ländern zurück, deren private Verschuldung (anders als im Klischee angenommen war die öffentliche mit Ausnahme Griechenlands sehr gering) sehr hoch war und deren Wettbewerbsfähigkeit so in Schieflage geriet. 2008 begann dann die Finanzkrise. Die EZB reagierte darauf nach einer „business as usual“-Phase ab 2012 mit einer expansiven Geldpolitik, die ab 2014 explizit mit dem Verhindern einer Rezession begründet wurde (die ja auch die Zielinflationsrate von 2% weit verfehlen würde, nach unten). Die Versuche 2019/20, diese expansive Geldpolitik wieder einzuhegen, wurden durch die Pandemie zunichtegemacht. Schäfer sieht in diesem Dilemma eine der größten Herausforderungen der Euroländer in Zukunft.

Bereits während der Eurokrise hatte Griechenland sich oft (und nicht zu Unrecht) wegen der Erpressung durch die Euro-Strukturen beklagt. Aaron Sahr zeigt in seinem Essay „Monetäre Kriegsführung“ auf, wie Geld tatsächlich als Waffe verwendet werden kann, vor allem am Beispiel der Sanktionen gegen Russland. Er legt Wert darauf, dass der Westen nicht in der Lage war, Russland tatsächlich aktiv Geld wegzunehmen, sondern schlicht Schuldscheine nicht mehr anerkannte (da sind wir mal wieder bei der Theorie des Geldes). Dies betrifft etwa die Hälfte der ausländischen Devisenreserven Russlands. Gleichzeitig zeigt er, wie bewusst Kanäle für die Bezahlung fossiler Energieträger offenblieben. Insgesamt kommt er in seinem Beitrag zu dem Schluss, dass die Möglichkeiten monetärer Kriegsführung beträchtlich sind, aber natürlich immer auch Rückkopllungseffekte auf die durchführende Seite haben, weswegen das volle mögliche Arsenal auch noch bei weitem nicht ausgeschöpft wurde.

Eine solche Nicht-Ausschöpfung von Spielräumen liegt in der Wirtschaftspolitik generell vor, wenn man den Vertreter*innen der MMT Glauben schenken möchte. Michael Paetz stellt in „Modern Monetary Theory – Rückkehr eines gesamtwirtschaftlichen Denkens“ das Konzept für Neulinge kurz vor. Demnach wird Geld grundsätzlich dadurch in Umlauf gebracht, dass der Staat es ausgibt, und akzeptiert, weil es das anerkannte Zahlungsmittel für Steuern ist (letzterer Gedanke ist ziemlich Mainstream in der Ökonomie). Die MMT postuliert nun, dass ein monetär souveräner Staat – also  einer, der seine eigene Währung ausgibt, die nicht an ein einen festen Wechselkurs gebunden ist und der sich nicht in Fremdwährung verschuldet – grundsätzlich alle seine Ausgaben finanzieren kann; die Frage ist, ob die realwirtschaftlichen Möglichkeiten dafür bestehen. Tun sie das nicht, so erzeugen Staatsausgaben (meist unerwünschten) inflationären Druck. Die Rolle der Steuern sieht MMT nicht in der Staatsfinanzierung, sondern in der Steuerung sowohl der Inflation (durch Senkung wirtschaftlicher Tätigkeit in Hochsteuerbereichen) als auch der wirtschaftlichen Tätigkeit insgesamt, etwa in der Verlagerung von CO2-intensiven Bereichen zu klimaneutralen. Wer sich mehr für MMT interessiert, dem seien meine Rezension von Dirk Ehnts Buch und mein Podcast mit ihm ans Herz gelegt.

Mit einer gänzlich anderen, gerade trendenden Geldgeschichte befasst sich Moritz Hütten in „Kryptowährungen und ihre Bedeutung im Finanzsystem“. Bitcoin und andere Kryptowährungen sind gerade in aller Munde. Sie sollen dem Anspruch nach von Zentralbanken und Finanzinstitutionen unabhängig sein und folgen den Prinzipien des Metallismus – also einer künstlichen Knappheit, in dem Fall durch Blockchain-Nachweise – und dem Hash, also dem Nachweis von Transaktionsketten. Dadurch sind die Währungen sehr sicher (so sehr, dass Diebstahl praktisch nicht geahndet werden kann, was ein ganz eigenes Problem darstellt, das Hütten gar nicht thematisiert), aber ihre Kurse schwanken erheblich.

Zudem sind die Währungen extrem stromintensiv in der Herstellung. Aktuell braucht die Herstellung der Kryptowährungen rund 0,55% des weltweiten Stromverbrauchs, so viel wie Schweden. Bedenkt man, wie nutzlos die Währung für 99,5% der Bevölkerung ist und dass ihr Nutzen sich hauptsächlich auf kriminelle Geschäfte beschränkt (worauf Hütten ebenfalls kaum eingeht) fällt mein Urteil zu Kryptowährungen sogar noch viel negativer aus als das Hüttens, der sie ebenfalls für einen fatalen Irrweg hält. In meinen Augen sollten die Staaten dem ganzen Unwesen ein Ende machen.

Ebenfalls ein Unwesen, dem diverse in diesem Fall afrikanische Staaten ein Ende zu machen versuchen, sprechen Fanny Pigeaud und Ndongo Samba Sylla in „Der CFA-Franc – Afrikas letzte Kolonialwährung“ an. Mir war bisher nicht bekannt, dass praktisch alle früheren französischen Kolonien in Afrika immer noch eine französische Währung nutzen, den CFA-Franc. Dieser war früher an den Franc, heute an den Euro, gekoppelt und wurde den Staaten von Frankreich bei ihrer Unabhängigkeit aufgezwungen. Frankreich nutzt seither seine Macht darüber, um die Währung systematisch zu seinem eigenen Vorteil zu manipulieren. Nicht umsonst, so Pigeauds und Syllas These, sind die Länder des CFA-Franc die ärmsten und diktatorisch regiertesten Afrikas. Der CFA-Franc sollte deswegen abgeschafft werden. Dieser Abschaffung im Weg steht allerdings, dass die Länder sich zwar in ihrer Unzufriedenheit einig sind, nicht aber in dem, was folgen soll. Das ist ein durchaus bekanntes politisches Problem, gerade hier in Europa.

Aus Politik und Zeitgeschichte – Kinder und Politik

Kinder stellen in der Politik üblicherweise eine Leerstelle oder ein Objekt dar. Es wird zwar vielleicht über sie gesprochen oder „für“ sie Politik gemacht, aber sie sind kein handelndes Subjekt im politischen Geschehen. Das setzt voraus, dass Kinder in der Politik überhaupt gedacht werden; nicht zuletzt in der Pandemie war allzu offenkundig, dass sie praktisch gar keine Rolle spielen und hauptsächlich als Störfaktoren gesehen werden, so man an sie dachte. Diese Besonderheit erkennt man bereits im antiquierten Bild eines Ministeriums für „Familie, Frauen, Senioren und Jugend“, das diese Gruppen als spezifische Klientel denkt, die mit dem Rest nichts zu tun hat. Im vorliegenden Band ist das anders; hier wird explizit das Kind in den Mittelpunkt politischen Handelns und Denkens gestellt.

Den Eingang macht ein Zusammenschnitt aus Interviews mit Kindern zwischen 10 und 12 Jahren, die zu ihren Haltungen zur Demokratie, Mitbestimmung und Partizipation befragt wurden. Man darf vermutlich eine gewisse Vorselektion einschlägig interessierter Kinder unterstellen, aber die Stimmen der Befragten sind durchaus abwägend und tiefgründig genug, um den Beweis anzutreten, dass Kinder und ihre Meinungen ernstgenommen werden müssen. Aus den Äußerungen spricht natürlich – wenn etwa die Konsensfindung im Mittelpunkt steht – eine gewisse Naivität, ebenso in der mangelnden Sachkenntnis zu Sachfragen, aber die teilen die Kinder mit 90% der Erwachsenen, weswegen das kaum ein Hinderungsgrund sein kann. Die Kinder jedenfalls formulieren klar einen Anspruch auf Teilhabe, auf ein gefragt Werden und gehört Werden, das man ihnen durchaus zusprechen kann und sollte – als absolutes Minimum.

Eine theoretische Unterfütterung des Themas unternimmt Samia Kassid in ihrem Beitrag „Globale Kinderpolitik“. Eingangs klärt sie, dass „Kinderpolitik“ üblicherweise von Erwachsenen für Kinder unternommen wird, allerdings üblicherweise ohne Mitsprache der Kinder und generell immer ohne ihre Mitwirkung, worin sie zurecht ein schwerwiegendes Manko erkennt. Danach zeichnet sie den Weg der Kinderrechte von Rousseau über die US-Verfassung bis hin zur Menschenrechtsklärung und schließlich der UN-Kinderrechtserklärung von 1989 nach, um dann zu dem betrüblichen Fazit zu kommen, dass Kinderrechte auf dem Papier gut verankert sind, in der Realität aber meist sehr defizitär daherkommen. Kinder sind überdurchschnittlich Opfer von Krieg, Vertreibung, Flucht, Armut und Hunger und an ihrem Schicksal immer unschuldig. Zwar macht sie einige hoffnungsvolle erste Schritte etwa beim Sansibarischen Kindergesetz von 2011 aus, aber insgesamt bleibt das Bild hier betrüblich.

Auch in Deutschland sind die Kinderrechte immer noch defizitär; im Grundgesetz finden sie keinen spezifischen Niederschlag, obgleich bereits seit langer Zeit eine Debatte darum tobt. Claudia Kittel und Sophie Funke zeichen diese in „Angemessen oder vorrangig? – Zur Diskussion um „Kinderrechte ins Grundgesetz“ aus kinderrechtlicher Perspektive“ nach. Grundlage für die mittlerweile allgemein anerkannte Forderung sind die UN-Kinderrechtserklärungen und die Erkenntnis, dass „mitgemeint“ zu sein den Kindern bei den bisherigen Grundrechten nicht ausreicht; ihre Interessen werden immer wieder verletzt.

Zwar hatten CDU und SPD 2018 vereinbart, eine entsprechende GG-Änderung auf den Weg zu bringen, diese scheiterte aber 2020. Grüne, FDP und LINKE brachten ebenso Vorschläge zu einer entsprechenden Änderung ein wie die Koalition; diese unterschieden sich nur in Details, die aber bei solchen Debatten natürlich immer bedeutungsgeladen sind. Der Regierungsentwurf war so schlecht – die Autor*innen sprechen von „eklatanten Leerstellen“ – dass er eine Schlechterstellung von Kindern bedeutet hätte. Kinder erhielten immer noch wesentlich zu wenig Gehör. Die Autor*innen fordern für einen neuen Anlauf eine stärkere Orientierung an den UN-Richtlinien.

Auf den ersten Blick ungewöhnlich scheint Leonhard Birnbachers und Judith Durands Thema „Demokratie mit Kindern in der Kita“ zu sein. Bereits eingangs fußen die Autor*innen das Ganze auf entsprechenden juristischen Regelungen sowohl im GG als auch, wir erkennen ein Muster, den entsprechenden und von Deutschland ja ratifizierten UN-Richtlinien. In der Kita soll es vor allem darum gehen, Demokratie als Lebensform einzuüben und von Anfang an mit ihr aufzuwachsen. Angesichts des beklagenswerten Zustands, in dem Mitbestimmung bei Kindern generell ist – die SMV an der Schule sei hier nur als Stichwort genannt – eine sicherlich zu begrüßende Initiative.

Die Einübung soll dabei über Beschwerdeverfahren, Kita-Verfassungen und einen Kinderrat erfolgen, nur um einige Beispiele zu nennen. Sie kann etwa bei der gemeinsamen Gestaltung und Einhaltung von Essensregeln erfolgen, bei den Regeln für die Ruhephasen oder für bestimmte Spielbereiche. Auch sollen die Kinder eine Normenerziehung erhalten, sprich gemeinsam aushandeln, welche Werte sie eigentlich als gewünscht betrachten (etwa Fairness) und bei ihrer Durchsetzung beteiligt sein.

Deutlich theoretischer wird demgegenüber wieder Michael Klundt, der sich an „Kinderpolitik(-wissenschaft): eine Einführung“ versucht. Er unterschiedet zentral zwei Dimensionen von Kinderpolitik: Politik, die dem Schutz von Kindern dient (Kinderschutzpolitik) und Politik, die der Befreiung von Kindern dient (Kinderbefreiungspolitik). Die Interessen der Kinder seien schwer zu definieren und befänden sich in einem ständigen Spannungsfeld von Paternalismus und Partizipation. Diese Unterscheidung wird dann mit der Definition des Bundesjugendkuratoriums (BJK) in vier Bereiche aufdifferenziert: Jugendschutzpolitik, Jugendbefähigungspolitik (etwa Bildung), Jugendpolitik als Teilhabepolitik (aktive Gestaltung der eigenen Lebensrealität), Jugendpolitik als Generationenpolitik (faire Lastenverteilung).

Klundt rügt im Folgenden die Tendenz der deutschen Politik, Kinderrechte stets als nachrangig zu betrachten und die Interessen von Kindern und Jugendlichen zu opfern, was besonders in der Corona-Pandemie sichtbar geworden sei. Auch die UN rügte Deutschland für seinen schlechten Umgang mit Kinderrechten. Kindersozialpolitik macht Klundt als weiteres Defizit aus; ein wesentlich zu geringer Anteil der Sozialausgaben richte sich an Kinder und ihre Bedürfnisse. Er fordert daher eine stärkere Bekämpfung von Kinderarmut und eine größere Teilhabepolitik für Kinder.

Etwas empirisches Material gibt Lars Alberth zu der Frage: „Wie geht es den Kindern in Zeiten von Corona?“. Die Antwort ist, wenig überraschend, „nicht besonders gut“. Er vergleicht auf drei „Achsen“: Leben vor der Pandemie, also etwa Lernverluste durch Homseschooling; Leben während der Pandemie, also etwa die stärkere Betroffenheit von Kindern aus ärmeren Schichten gegenüber reicheren; und Unterschiede zwischen Kindern und Erwachsenen, da etwa letztere von der Schließung von Spielplätzen eher weniger betroffen waren.

Alberth stellt fest, dass es außer „warnenden Worten der Sozialverbände“ keine empirischen Befunde für eine Zunahme an Kinderarmut während der Pandemie gäbe. Deutlich angestiegen sind dagegen die Fälle von Gewalt gegen Kinder, und zwar umso mehr, je beenggter die Verhältnisse zuhause sind und je länger die Erwachsenen mit den Kindern zusammen waren. Das ist zwar deprimierend, aber wenig überraschend. Auch die psychischen Auswirkungen der Lockdown-Politik auf die Kinder sind deutlich zu spüren. Alberth schließt mit dem Befund, dass auch der Druck auf die Eltern immens ist, weil das erfolgreiche Bestehen des Lockdowns direkt als „gute Elternschaft“ betrachtet wird und ein „Versagen“ der Kinder, etwa durch sich verschlechternde Schulleistungen, direkt auf die Eltern durchschlage. Das kann ich aus eigener Erfahrung nur bestätigen.

Mit einem verwandten Thema beschäftigt sich Tanja Betz, die über „Leitbilder „Gute Kindheit“: Die Utopie der Changengleichheit“ schreibt. Spannenderweise sieht sie einen Paradigmenwechsel in der Wohlfahrtspolitik, die sich einer Kindeszentrierung verschreibt und entsprechend in Kinder investiert. Die Kinder werden dabei vorrangig als zu entwickelndes Humankapital betrachtet: eine gute Kindheit ist demzufolge eine, die die größten (wirtschaftlichen) Chancen im Erwachsenenleben ermöglicht. Solche Vorstellungen bezeichnet Betz als „Leitbilder“, also gesellschaftliche Vorstellungen.

Sie identiziert als aktuelle Leitbilder guter Kindheit neben der Schaffung von Chancen für das spätere Arbeitsleben eine kindgerechte Kindheit (zu der auch der Jugendschutz gehört) auch den Schutz vor physischen und psychischen Verletzungen sowie die Förderung zum Erwachsenendasein, also Erziehung. Auch die Befreiung aus „riskanten Familienverhältnissen“ ist ein Leitbild guter Kindheit, sowie der Vollzug der Kindheit in geregelten und institutionalisierten Bahnen (wie Kita und Schule). Generell gehe es um die bestmögliche Förderung der Kinder. Spiegebildlich identifiziert Betz Leitbilder „guter Elternschaft“. Ganz oben steht dabei die gute Bildung der Eltern und ihre Weitergabe an die Kinder sowie eine auf Bildung und Wissenschaft basierende Erziehung. Im Zentrum stehe generell die „Kompetenz“ der Eltern, nach der diese bewertet würden – und damit auch ein hoher sozialer Druck.

Betz weist darauf hin, dass diese Anforderungen in ihrer Gesamtheit praktisch unmöglich zu realisieren sind und dass die gesellschaftlichen und staatlichen Strukturen eine entscheidende Rolle spielen, in der Gesellschaft aber geleugnet werden. Stattdessen würden Erfolg und Misserfolg beim Erreichen der Leitbilder individualisiert und faulen Kindern oder schlechten Eltern zugeschrieben. Auch das Betrachten der Kinder als „Partner auf Augenhöhe“ bleibe meist unrealisiert, wie auch generell unbeachtet bleibe, das sozioökonomisch niedrigstehende Eltern wesentlich größere Hürden zu überwinden haben als wohlhabendere.

Ein letztes, wenngeich sehr unangenehmes Thema schneidet Sabine Andresen in „“Ein bisschen Licht in diese Dunkelheit“: Gesellschaftliche Aufarbeitung sexueller Gewalt gegen Kinder in Erziehungsverhältnissen“ an. Zu Beginn steht eine Begriffsklärung: Aufarbeitung ist eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe verdrängter oder ignorierter Tatbestände. Die vorherrschenden Erziehungsvorstellungen, die eben nicht von „Partnern auf Augenhöhe“, sondern von asymmetrischen Machtverhältnissen ausgehen, konfrontieren die Kinder mit einer Ohnmacht und Unmöglichkeit, aus ihrem Opferstatus auszubrechen.

Die Aufarbeitung leidet grundsätzlich darunter, dass die Dunkelziffer der sexuellen Gewalt sehr hoch und die Aufarbeitung generell mangelhaft ist. Andresen fordert eine „kindesbezogene Justiz“, die Bedürfnisse und Situation von Kindern wesentlich mehr berücksichtigt. Sie postuliert eine Tabuisierung der sexuellen Gewalt wegen des Leitbilds der „Privatheit der bürgerlichen Familie“, die es sehr schwer mache, Fälle von Missbrauch zu identifizieren und tätig zu werden. Gleiches gilt für Institutionen wie Schulen oder Heime. Die Sprachlosigkeit bei dem Thema zu durchbrechen ist Andresens wichtigstes Anliegen; sie sieht es als unentbehrlich an, darüber zu sprechen und eine entsprechende Sprache zu etablieren, das Tabu zu brechen und so den Täter*innen zu verunmöglichen, sich zu verstecken.

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